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Die Überwindung des ‚Poor Law‘

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

7.2 Die Überwindung des ‚Poor Law‘

Der Entstehungsgeschichte des ‚Labour Exchange Act‘ und des ‚National Insurance Act‘ liegt eine besondere Deutung von Armut und Arbeitslosigkeit zugrunde, die in einem engen Zusammenhang mit der Härte des englischen ‚Poor Law‘ steht. Ar-beitsmarktpolitik entsteht in England vor dem Hintergrund der Überwindung der ideologischen Grundlagen und der strukturellen Konsequenzen des Armenrechts. Die nationale Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik wurde angetrieben von dem Gedan-ken, daß soziale Maßnahmen vor allem einer „funktionierenden Sozialverwaltung“

(Metz 1988: 395) bedürfen und Arbeitslosigkeit wie Armut keine individuellen, son-dern strukturelle Probleme darstellen.

Arbeitslosigkeit und Armut wurden im Armenrechtsgesetz von 1601 (‚Poor Relief Act‘) bzw. 1834 (‚New Poor Law‘) als moralische Verfehlung angesehen. Die Wen-depunkte der diskriminierenden Bestimmungen des englischen Armenrechts waren dabei (vgl. Bremme 1961: 5-11): die ‚Acts of Settlement‘ von 1662, durch die sich viele Gemeinden, die die Kosten der Armenfürsorge zu tragen hatten, durch Nieder-lassungsverbote vor der Zuwanderung von Armen schützten, die ‚Speenhamland Acts‘ (1795)117, die Strafanstalten ähnelnden Arbeitshäuser (‚workhouses‘) und die bedeutende Armenrechtsreform von 1834. Dabei leitete die Reform von 1834 eine neue, noch härtere, Epoche des englischen Armenrechts ein (vgl. Jones 1998; Fraser

117 Die ‚Speenhamland Acts‘ legten fest, daß zusätzlich zu den Löhnen ein nach dem Brotpreis ge-staffelter Zuschuß zu zahlen sei, um so den Armen unabhängig von ihren Einkommen einen Mi-nimumlohn zu sichern (vgl. Polanyi 1997: 114). Diese Regelung hatte zur Folge, daß selbst in ei-nem Beschäftigungsverhältnis stehende Landarbeiter von den Zuschüssen abhängig waren. Viele Großbauern sahen sich nämlich durch diese Regelung nicht verpflichtet, angemessene Löhne zu zahlen (vgl. Bremme 1961: 6).

1984), indem sie das Prinzip der ‚less egibility‘118 und den Arbeitshaus-Test einführ-te. Durch den Arbeitshaus-Test wurde arbeitsfähigen Armen außerhalb des Arbeits-hauses keine Hilfe mehr gewährt.

Wegen des ‚Poor Law‘ retardierte England in der Vermarktung des Faktors Arbeits-kraft, was bereits Adam Smith 1776 in seinem „Wohlstand der Nationen“119 kritisiert hatte (vgl. Checkland/Checkland 1974: 15). Die Gesetze und Institutionen des Ar-menrechts behinderten durch ihre disziplinierende Ausrichtung in dem Land, das als erstes den industriellen „take off“ (1780) hinter sich gebracht hatte, die freie Beweg-lichkeit auf dem Arbeitsmarkt. „Der Arbeitsmarkt“, so Polanyi (1997: 113) in seiner kritischen und aufschlußreichen Beschreibung des englischen Speenhamlandgesetzes von 1795, „war praktisch der letzte der Märkte, die im Rahmen des neuen Industrie-systems organisiert wurden“. Der Vorreiter der Industrialisierung hatte die Organisa-tion des Arbeitsmarktes also vernachlässigt, und es waren die durch den überragen-den Wahlsieg der Liberalen Partei im Jahre 1906 erstarkten liberalen Reformer, die nicht nur versuchten, diesem Mißstand entgegenzuwirken, sondern ihre Kritik auch in neue Institutionen umsetzten.

So faßt Metz (1988) den Grundtenor der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert for-mierenden liberalen Gegnerschaft des ‚Poor Law‘ folgendermaßen zusammen:

Für seine liberalen Gegner verkörperte das Armengesetz die institutionelle Verewigung einer Ordnung der unfreien Arbeit und der Vormundschaft, sei es durch die Einschränkung der Be-wegungsfreiheit (Law of Settlement), sei es durch die Zahlung von Zuschüssen an Arbeiter (‚allowances‘) (Metz 1988: 69).

Das System des ‚Poor Law‘ wurde politisch, sozial wie auch ökonomisch als unzu-länglich erkannt. So hebt Gilbert (1966a) hervor, daß das Armenrecht auch aus öko-nomischen Gründen als nicht mehr tragfähig betrachtet wurde:

This system [gemeint ist das ‚Poor Law‘] could not be retained. It punished those who needed help. It helped those who deserved punishment. And it grew ever more expensive (Gilbert 1966a: 237).

Checkland/Checkland (1974: 19) geben an, daß die Ausgaben für die Armen von 5,7 Mio. Pfund in den Jahren 1815/1816 auf 7 Mio. Pfund in den Jahren 1820/1821 ge-stiegen waren.

Auch wenn neuere historische Beiträge bezweifeln, ob die zeitgenössiche Kritik am Armenrecht objektiv gerechtfertigt war, d.h. in Frage stellen, ob die Vermarktung wirklich so stark behindert wurde und ob die Kosten wirklich nicht mehr getragen werden konnten, und zur Diskussion stellen, daß „die kritisierten Übel weitgehend

118 Das Prinzip der ‚less egibility‘ besagte, daß der Lebensstandard von Fürsorgeempfängern nach dem Armengesetz wesentlich unter dem von Lohnarbeitern liegen sollte.

119 Vgl. Adam Smith (1776): The Wealth of Nations, edited by Andrew Skinner, London: Pelican Classic, 1970, 238-245.

andere Ursachen hatten“ (Ritter 1989: 51)120, ist für die Fragestellung dieser Arbeit wichtig festzuhalten, daß die Kritik am ‚Poor Law‘ einen nicht unwesentlichen Be-zugspunkt der Entstehung der Arbeitsverwaltung konstituierte.

Die eben erwähnte Reform von 1834 brachte dabei einen, für unsere Zusammenhän-ge wichtiZusammenhän-gen, neuen Aspekt mit sich. Sie gilt als Versuch, das Armenrecht stärker unter die Kontrolle des Zentralstaates zu stellen. Die Reform zielte somit nicht nur darauf, die Armen von der Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen weiter abzu-schrecken, um so die Kosten zu senken, sondern sie beabsichtigte auch eine Diszipli-nierung der lokalen Behörden im Umgang mit den Gesetzen. Edwin Chadwick und Nassau Senior, die den ‚Poor Law‘-Bericht von 1834121, auf dem die Reform aufbau-te, angefertigt hatten, sahen ein zentrales Problem des Armenrechts in der lokalen Verwurzelung seiner Durchführung, die den lokalen Behörden zu viel Freiräume überließ (vgl. Fraser 1984: 48). Die Reform von 1834 wollte dieser lokalen Autono-mie durch die Schaffung einer zentralen Verwaltung mit Sitz in London entgegentre-ten; sie sollte das System vereinheitlichen und zentralisieren. Sie steht daher auch für eine Zunahme der Tätigkeit des Zentralstaates auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege, für eine Bürokratisierung des Umgangs mit der sozialen Frage (vgl. Fraser 1982: 27-32). Die Bürokratisierung durch die ‚Poor Law‘-Reform von 1834 beabsichtigte eine Optimierung des Armenrechts, nicht jedoch dessen grundsätzliche Überwindung.

Wie Chadwick und Senior verband auch William Beveridge, der „Vater“ und erste Direktor der englischen Arbeitsverwaltung, der durch seine wissenschaftliche und beratende Tätigkeit für das BoT die Politik stark beeinflußte, die Lösung der sozialen Frage mit bürokratischen Interventionsformen (vgl. Fraser 1982: 28). Im Unterschied zu Chadwick und Senior stimmte er jedoch einen Kanon der prinzipiellen Gegner-schaft zum ‚Poor Law‘ an. Beveridge verwarf die disziplinierende Ausrichtung des

‚Poor Law‘.

Für die „Neuen Liberalen“ Winston Churchill, Llewellyn Smith und William Beve-ridge hatte die Arbeitslosigkeit ihren Ursprung darin, daß der Markt in seiner Entfal-tung behindert wurde. Die Bewegungsfreiheit auf den Märkten wurde als Grundvor-aussetzung für eine funktionierende nationale Ökonomie erkannt. Die Aufhebung der

„Gefangenschaft“ der Armen in den Arbeitshäusern und die Abkehr von den Rege-lungen des ‚Poor Law’ wurden dabei zum zentralen Bestandteil der Problemlösung.

Armut und Arbeitslosigkeit konnten nur überwunden werden, wenn der Staat die in-dividuelle Bewegungsfreiheit nicht behinderte. Arbeitslosigkeit wurde nicht mehr als individuelle Verfehlung betrachtet.

120 In diesem Zusammenhang hebt Ritter die Studie des Ökonoms Mark Blaug hervor, vgl. Blaug (1963); zusammenfassend hierzu vgl. auch Checkland/Checkland 1974.

121 Vgl. The Poor Law Report of 1834, edited by S.G.&E.O.A. Checkland, 1974, London: Penguin.

Beveridge definierte Arbeitslosigkeit als „Strukturproblem“, dem man durch eine

„Verflüssigung des Arbeitsmarktes“ (Metz 1988: 396) begegnen kann. Nicht den Willen des einzelnen und auch nicht die Höhe des Angebots und der Nachfrage er-kannte Beveridge als Problem, sondern die perfekte Anpassung von Angebot und Nachfrage. Arbeitslosigkeit war seiner Ansicht nach ein Problem der Industrie:

Unemployment is a question not of the scale of industry but of its organisation, not of the vol-ume of the demand for labour but of its changes and fluctuations (Beveridge 1912: 193).

Den „ersten Schritt im Angriff“ auf die „Ursachen der Arbeitslosigkeit“ erkannte Beveridge in der „Organisation des Arbeitsmarktes“ (Beveridge 1912: 197). Organi-sation des Arbeitsmarktes bedeutete für ihn die Errichtung von Arbeitsämtern im ganzen Land und in jedem Gewerbe. Arbeitgeber sollten diesen Ämtern freie Stellen melden, Arbeiter, die nach einer Beschäftigung suchen, sollten diese Ämter aufsu-chen:

The organisation of the labour market means simply that there shall be known centres or of-fices or Exchanges, to which employers shall send or go when they want workpeople, to which workpeople shall go when they want employment ... When all over the United Kingdom and for every trade in it there is a connected system of Labour Exchanges so that no man thinks of applying anywhere else either for workpeople or employment and would not get either if he did, then the labour market for the United Kingdom may be said to be completely organised (Beveridge 1912: 198; meine Herv., CT).122

Beveridge kannte die deutschen Arbeitsnachweise. Er besuchte im Jahre 1907 öffent-liche und private Arbeitsnachweise in Berlin, Nürnberg, Köln, München und Frank-furt am Main. Seine Eindrücke über die deutschen Einrichtungen schilderte er um-fassend in einem Aufsatz. In diesem äußerte er sich jedoch, wie er selbst hervorhob, nicht qualitativ über die deutschen Arbeitsnachweise („marshal the arguments in their favour“), sondern er hatte vielmehr im Auge, diese „zu beschreiben“ (Beveridge 1908: 17). Es ist bemerkenswert, daß Beveridge dabei erkannte, daß die kommunalen Arbeitsnachweise weit davon entfernt waren, einen Status der „Dominanz auf dem Arbeitsmarkt“ (Beveridge 1908: 18) einzunehmen. Die paritätische Verwaltung der kommunalen Arbeitsnachweise in Deutschland erwähnte Beveridge, er äußerte sich jedoch nicht darüber, ob man diese in England übernehmen könnte (vgl. Beveridge 1908: 4).

122 Das Zitat geht folgendermaßen weiter, was Beveridge allerdings selbst als „Utopian dreams“

(Beveridge 1912: 198) bezeichnete: „Then, or indeed with some advantage some time before then, attention can be turned to organising the labour market for the British Empire or the world“

(Beveridge 1912: 198).

Der Einfluß der Deutschlandreisen auf die Entstehung der britischen Arbeitsverwal-tung ist daher wohl eher als marginal einzuschätzen.123 Generell ist in diesem Zu-sammenhang auch anzumerken, daß die Lerneffekte für die englischen Reformer a priori nur sehr gering sein konnten. Um die Zeit, als man Deutschland in dieser Frage konsultierte, tobte dort, wie bereits beschrieben, der „Kampf“ um den Arbeitsnach-weis. Die Arbeitsnachweisfrage war in Deutschland ein interessenpolitisches Pulver-faß, also das blanke Gegenteil von dem, was man in England erlebte und sich auch wünschte herbeizuführen. Das Ende, welches die Reform in England nahm, zeigt auch deutlich auf, daß man einen eigenen Weg ging. Beabsichtigt war ja eine Zentra-lisierung des Systems, die Behandlung der Frage der ‚labour exchanges‘ als eine Frage intelligenten Verwaltens. Der Kontext der Reform, die Überwindung des trotz der Reform von 1834 immer noch dezentral bestimmten ‚Poor Law‘ (vgl. Fraser 1984: 51-54), zwang zu einer Zentralisierung, zu einer Verlagerung der Kompeten-zen von den Gemeindeverwaltungen zu den Kompeten-zentralen Behörden. Die Akteure kann-ten sich also, aber ihre Ideen konnkann-ten aufgrund spezifischer Ausgangssituationen nicht einfach übertragen werden.

Im Vordergrund der Tätigkeit Beveridges stand auch weniger das Studium der Insti-tutionen und Problemlösungen anderer Länder als die Analyse der Problematik der Arbeitslosigkeit in seinem eigenen Land. Beveridge ging es weniger um die Linde-rung der Not der Armen und Arbeitslosen als darum, diejenigen, die arbeitsfähig und -willig waren, aus dem Teufelskreis des ‚Poor Law‘ zu befreien. Arbeitslose sollten in die Lage versetzt werden, der Nachfrage nach Arbeitskräften folgen zu können.

Die Politik, die er entwarf, war auf das Arbeitsangebot gerichtet:

123 Nicht nur Beveridge, sondern auch der Schatzkanzler und „Designer“ der Krankenversicherung Lloyd George sowie Gewerkschaftsmitglieder und Unternehmer reisten nach Deutschland, um dort die Bismarckschen Sozialversicherungsinstitutionen zu studieren (vgl. Bremme 1961; Hay 1982; Hennock 1987). Bremme (1961: 23) und auch Hennock (1987: 166) vermuten, daß diese Informationsreisen möglicherweise den Anstoß dazu gaben, die Einführung des Versicherungs-prinzips auch in England zu erwägen, und die Abkehr vom ‚Poor Law‘ dadurch indirekt be-schleunigt wurde (vgl. auch Jones 1951: 36-37; Gilbert 1966a: 266-267; Harris 1972: 276). Ein-deutig konstatiert Bremme (1961: 23) jedoch auch, daß „die Engländer ... andere Wege ... als die Deutschen“ beschreiten mußten. Ein enger Mitarbeiter Lloyd Georges bemerkte zudem: „The Germans, it is true, introduced compulsion and made insurance national. We followed them in that, but we cannot be said to have copied their legislation ...“ (zit. nach Bremme 1961: 23; mei-ne Herv., CT). Die Forschung ist sich umei-neins, welche Wirkung die deutschen Institutiomei-nen de fac-to auf die Reformer hatten (vgl. Ritter 1989: 98). Es wird aber auch die Ansicht vertreten, daß sich England gerade in der Arbeitslosenversicherung gegenüber „kontinentalen Einfüßen“ als

„immun“ (Heclo 1974: 78) erwiesen hätte. Leider äußert sich die Forschung wenig darüber, wie groß die Lerneffekte der Engländer hinsichtlich der Arbeitsvermittlung waren; auch bei Harris (1977: 134-136) wird diese Frage nur am Rande gestreift.

The demand for labour cannot be stereotyped save in a stagnant industry. The supply of labour may be made immeasurably more capable of following and waiting for the demand. This on its two sides - of following the demand and waiting for the demand - is the policy outlined in the last two chapters124 (Beveridge 1912: 236; meine Herv., CT).

Beveridge gehörte damit bereits der zweiten Generation von Kritikern des ‚Poor Law‘ an. Arbeitslosigkeit war für ihn nicht durch Geld oder die Vergabe von öffent-lichen Arbeiten zu beheben, wie dies die Philantrophen, die erste Generation, vor-schlugen, sondern nur durch eine umfassende Planung und Organisation des Marktes (vgl. Metz 1988: 391).

Beveridges grundlegende Schrift, in der er Arbeitslosigkeit unter diesem Blickwinkel umfassend analysierte, die Hindernisse der Vergangenheit benannte und die Prinzipi-en der zukünftigPrinzipi-en Arbeitsmarktpolitik („Principles of Future Policy“ 125) entwarf, er-schien gerade zu dem Zeitpunkt, als die sogenannte ‚Poor Law Commission‘ ihren Bericht herausgab: im Februar 1909. Der Bericht der ‚Poor Law Commission‘126, der als „Hauptangriff“ (Bremme 1961: 16) auf das alte Armenrecht gilt, ist das Ergebnis der Arbeit einer noch von der ‚Labour Party‘ im Jahr 1905 eingerichteten Kommissi-on. Die Kommission setzte sich aus Vertretern der Armenrechtsverwaltung, der ‚Fa-bian Society‘ und der ‚Labour Party‘ zusammen. William Beveridge war der Sekre-tär dieser Kommission. Die ‚Poor Law Commission‘ schloß an die bekannten wis-senschaftlichen Studien von Charles Booth (1889-1903) über die Londoner Arbeiter-schaft und S. Rowntree (1903) über die Stadt York an (vgl. Bremme 1961: 15-16).

Die Bedeutung dieser Kommission liegt darin, daß sie zwei Fraktionen an einen ge-meinsamen Tisch brachte, die beide Arbeitslosigkeit aus dem Stigma des individuel-len Verschuldens befreien wollten, die sich über den Weg dahin aber nicht einig wa-ren: auf der einen Seite die sozialreformerische Fraktion, die Philantrophen und die Vertreter von karitativen Vereinigungen, die seit 1895 damit begann, durch eine Mo-dernisierung des Armenrechts die sozialen und individuellen Folgen der „Pauper-Arbeitslosigkeit“ zu bekämpfen; auf der anderen Seite die liberale Fraktion, die Webbs, die ‚Fabian Society‘ sowie Booth, Smith, Beveridge und Churchill, für die die Abschaffung des Armenrechts eine zentrale Voraussetzung für die Bewältigung der Arbeitslosigkeit war (vgl. hierzu Harris 1972: 7-50).

124 Beveridge bezieht sich bei „the last two chapters“ auf die Kapitel neun und zehn seiner Schrift

‚Unemployment. A Problem of Industry‘.

125 Vgl. Beveridge, William (1909): Unemployment. A Problem of Industry, London (in dieser Ar-beit wird die 3. Auflage aus dem Jahr 1912 zitiert). Die „Principles of Future Policy“ werden im neunten und zehnten Kapitel seiner Schrift vorgestellt.

126 Es gab einen Mehrheits- und einen Minderheitsbericht dieser ‚Poor Law Commission‘, vgl. Re-port of the Royal Commission on the Poor Laws and Relief of Distress, Parliamentary Papers, London, 1909, 1. Majority Report, 2. Minority Report.

Der Unterschied in den Strategien deutet an, daß hinter diesen beiden Gruppen eine dualisierte Betrachtungsweise des Problems der Arbeitslosigkeit stand: Arbeitslosig-keit als „social distress of the unemployed“ und ArbeitslosigArbeitslosig-keit als „the incidence of industrial unemployment“ (Harris 1972: 8). Auf der einen Seite stand das Elend der Pauper, der gering oder gar nicht qualifizierten Arbeiter, welches die Philantrophen thematisierten. Auf der anderen Seite stand die „industrielle Arbeitslosigkeit“, die strukturelle Unter- und Überbeschäftigung, die Gelegenheitsarbeit (‚casual employ-ment‘).

Es war die Betrachtung der Arbeitslosigkeit als „industrielle Arbeitslosigkeit“, die den „Geist“ der Arbeitsverwaltung am Ende prägte. Dabei wurde diese Sichtweise der Arbeitslosigkeit als industrielles Problem jedoch (und deshalb soll noch kurz die Politik der Philantrophen skizziert werden) in aktiver Auseinandersetzung mit der er-sten Generation der Kritiker entwickelt. Smith und Beveridge, die die Arbeitslosen-politik der Liberalen gedanklich entwickelten, waren „radikale Empiristen“ (Harris 1977: 194).

Die Problemperzeption der Philantrophen (Arbeitslosigkeit als „social distress“) schlug in deren Forderung um, daß der Staat die Aufgabe habe, den Paupern Arbeit bereitzustellen (vgl. Gilbert 1970: 51; Harris 1972: 51). Auf die Initiative der Philan-trophen wurden mehrere öffentliche und private Agenturen eingerichtet, um Arbeits-lose mit Arbeit zu versorgen. Die Experimente kumulierten im ‚Unemployed Work-men Act‘ (1905). Dieses Gesetz richtete ein Netz von ‚Distress Committees‘ ein, um die Bereitstellung von öffentlichen Arbeiten zu zentralisieren und zu überwachen (vgl. Gilbert 1970: 51).

Durch dieses Gesetz begann der britische Staat, eine öffentliche Verantwortung für die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Problem zu übernehmen (vgl. Gilbert 1966a: 238). Die ersten Bemühungen einer nationalen Arbeitslosenpolitik durch die Vergabe von Unterstützungsgeldern in Verbindung mit Arbeitsleistungen (‚relief works‘) standen jedoch unter einem eindeutig sozialpolitischen Impetus. Es ging um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter (vgl. Gilbert 1966a: 57). Der Versuch über öffentliche Arbeiten, die Arbeitslosigkeit und den Pauperismus in den Griff zu bekommen, schlug am Ende fehl (vgl. Gilbert 1966a: 241-242).

Zu einem der schärfsten Kritiker des ‚Unemployed Workmen Act‘ wurde nun Willi-am Beveridge. Er suchte nach den Gründen dafür, warum die ‚relief works‘ versagt hatten. Nach Beveridges Ansicht erwies sich der ‚Unemployed Workmen Act‘ als unzulänglich, weil er die wichtigste Voraussetzung zur Bekämpfung der Arbeitslo-sigkeit, die Organisierung des Arbeitsmarktes, unberücksichtigt ließ (vgl. Beveridge 1912: 191). Den ‚Unemployed Workmen Act‘ und damit die Strategie, dem Problem

der Arbeitslosigkeit durch öffentliche Arbeiten zu entgegnen, lehnte Beveridge kate-gorisch ab:

The Unemployed Workmen Act has now been on trial for two winters. The attitude of nearly all those engaged in its administration may fairly be described as one of growing hopelessness.

Those who see anything of what they are doing at all see that they are applying trumpery pal-liatives to a chronic disease (Beveridge 1907: 80).

Beveridge warf den ‚relief works‘ vor, daß sie Dinge vermischen, die strikt getrennt werden müßten:

[T]he phrase ‚relief work‘ ... blurs the line which above all things should be kept distinct - the line between industry and relief, between the man who by his labour is adding to the wealth of the community and the man who is being supported in whole or in part by the citizens (Beve-ridge 1912: 232).

Gilbert (1966a: 60) verknüpft diesen Wandel in der Perzeption der Arbeitslosigkeit von den Philantrophen zu den Neuen Liberalen mit dem militärischen Desaster der Engländer im Burenkrieg 1899. Diese Niederlage führte zur Problematisierung der

‚national efficiency‘. Der Sozialreform wurde dadurch ein Status zuteil, der neu war:

Sozialreform wurde zu einer politischen Frage, die im nationalen Kontext zu beant-worten ist (vgl. Gilbert 1966a: 60).127 Die Institutionalisierung der Arbeitsverwaltung entstand so auch vor dem Hintergrund einer nationalen Krise. Denn die Ursachen der Niederlage gegen die Buren wurden im eigenen Land gesucht:

The greatest weakness revealed by the Boer War was the widespread physical disability among working class men offered themselves for services in the army (Gilbert 1966a: 83).

Nicht nur der verlorene Krieg prägte jedoch den Zeitgeist. Das Bemühen der libera-len Reformer koinzidierte auch mit einer ökonomischen Krise, mit der Rezession der Jahre 1907/08 (vgl. Heclo 1974: 78), die man als die härteste seit der ‚Great Depres-sion‘ des Jahres 1879 erfuhr (vgl. Harris 1972: 273). Im Jahre 1908 erreichte die Ar-beitslosenquote nach der gewerkschaftlichen Zählung mit 7,8 Prozent den höchsten Wert seit 1886 (vgl. Gilbert 1966a: 248).

Mit dem Wahlsieg der Liberalen Partei über die ‚Labour Party‘ im Jahre 1906 fand die Sichtweise der „industrial unemployment“ in dasjenige Ministerium Eingang, das zur politischen Triebkraft der Entstehung der Arbeitsverwaltung wurde, in das BoT:

Churchill wurde zum Minister, Llewellyn Smith zum Staatssekretär ernannt und Wil-liam Beveridge wurde in den Beamtenstab aufgenommen.

Wie perzipierten die liberalen Reformer das Problem der Arbeitslosigkeit? Welches Konzept leiteten sie aus ihrer Problemanalyse ab? Und warum und wie fanden diese Diagnosen Eingang in die Gesetze von 1909 und 1911? Auf diese Fragen soll im

Wie perzipierten die liberalen Reformer das Problem der Arbeitslosigkeit? Welches Konzept leiteten sie aus ihrer Problemanalyse ab? Und warum und wie fanden diese Diagnosen Eingang in die Gesetze von 1909 und 1911? Auf diese Fragen soll im