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Die Kommunen als Träger der Arbeitsnachweise

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

6.3 Die Kommunen als Träger der Arbeitsnachweise

Der Erste Weltkrieg markiert in Deutschland den Beginn erster arbeitsmarktpoliti-scher Bemühungen auf Reichsebene. Der Krieg führte zu einer Beruhigung der poli-tischen Auseinandersetzungen um den Arbeitsnachweis. Unter Mitverwaltung der Gewerkschaften und Arbeitgeber institutionalisierte das Reich mit dem ANG von 1922 die Arbeitsvermittlung und mit der Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge von 1918 ein Fürsorgesystem für Arbeitslose als kommunale Pflichtaufgabe.

63 Zur zögerlichen Arbeitsmarktpolitik der Regierung zur Kaiserzeit, ja ihrer ablehnenden Haltung, vgl. Faust 1986; Führer 1990: 37-118.

64 In Anlehnung an Ludwig Preller: „So erwies sich im Sinne der Sozialreform der Vorkriegszeit der erste [sic!] Weltkrieg als der große Schrittmacher der Sozialpolitik“ (Preller 1949: 85). Ähn-lich Peter Lewek (1992: 9): „Der Erste Weltkrieg schuf die Voraussetzungen für den Aufbau des Systems der sozialen Sicherung gegen die Arbeitslosigkeit.“

Da diese erste Institutionalisierung der Arbeitsmarktpolitik in die Domäne der Kommunen den späteren Gang der politischen Auseinandersetzungen um die Einfüh-rung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und ArbeitslosenversicheEinfüh-rung wesent-lich mitbestimmte, soll im folgenden die Institutionalisierung der Kommunen als Träger der Arbeitsnachweise und der Erwerbslosenfürsorge kurz skizziert werden.

Bernhard Weller (1969) betont, daß der Erste Weltkrieg dem deutschen Reich deut-lich machte, daß das bestehende Arbeitsnachweiswesens den Anforderungen einer Kriegswirtschaft nicht Genüge leisten würde:

Nun rächte es sich, daß die Forderungen nach einem staatlichen Arbeitsnachweis immer zu-rückgewiesen wurden. Das Chaos der verschiedenen, zum Teil einander bekämpfenden Nach-weise stand dem Ausgleich des Arbeitsmarktes im Wege (Weller 1969: 33).

Bereits 1914 wurde nun beim Reichsamt des Inneren die Reichszentrale Arbeits-nachweise gegründet. Diese Verordnung versuchte, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Nachweisarten zu schaffen, konnte aber im Hinblick auf die Verein-heitlichung nur eine „bescheidene Wirksamkeit entfalten“ (Lins 1923: 832).

Mit dem Hilfsdienstgesetz von 191665 sollte schließlich eine Ordnung des Arbeits-marktes unter militärischen Gesichtspunkten herbeigeführt werden.

Da unter den politischen und sozialen Bedingungen, welche die Kriegswirtschaft mit sich brachte, die klassenpolitische Bedeutung der eigenen Nachweise der Gewerk-schaften und Arbeitgeber abnahm, verminderte sich deren Interesse am weiteren Ausbau der eigenen Nachweise. Die Freien, Christlichen, Hirsch-Dunkerschen und polnischen Gewerkschaften kritisierten sogar gemeinsam die ihrer Ansicht nach nur unzureichenden Regelungen der Verordnung von 1914. In einer Eingabe an den Bundesrat und Reichstag forderten sie eine straffere und systematischere Organisie-rung der Arbeitsnachweise. Die „Reichsleitung“ lehnte die FordeOrganisie-rungen jedoch ab,

vornehmlich wohl deshalb, weil sie in der mit einer gesetzlichen Regelung der Arbeitsnach-weismaterie notwendig verbundenen Erörterung von Streitfragen zwischen den Arbeitsver-tragsparteien eine Störung des Burgfriedens befürchtete (Lins 1923: 832).

Mit Kriegsende ging die Leitung des Arbeitsnachweiswesens an die Demobilma-chungsbehörden über. Die Notwendigkeit, innerhalb von wenigen Wochen sechs Millionen zum Teil erheblich kriegsgeschädigte Menschen zu demobilisieren und wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, das Überangebot an Arbeitskräften auf-grund des Zustroms von Flüchtlingen aus abgetretenen Gebieten, die Verkleinerung

65 Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 erlaubte die Zwangsre-krutierung von Arbeitnehmern in kriegswichtige Betriebe und ordnete die Arbeitsvermittlung den Militärbehörden zu (vgl. Weller 1969: 33-34). Preller (1949: 75-77) sieht das Hilfsdienstgesetz als Kumulationspunkt der durch den Ersten Weltkrieg vorangetriebenen Kollektivierung der Ar-beitsbeziehungen. Die Hilfsdienstpflicht stand nämlich unter der Kontrolle von Ausschüssen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber bildeten.

von Heer und Marine, der Zusammenbruch der Industrie aufgrund der unzureichen-den Kohleversorgung, der Unterbindung des Verkehrs in unzureichen-den linksrheinischen Gebie-ten und der Blockade der Ostsee erforderGebie-ten eine Ordnung des Arbeitsmarktes und eine soziale Kompensation der Folgen der Arbeitslosigkeit (vgl. Wermel/Urban 1949b: 28). In der Folge erließen die Demobilmachungsbehörden eine Reihe von Zwangsvorschriften über die Entlassung und Wiedereinstellung von Arbeitern.66 Der zögerlichen Politik des Reiches, die Arbeitsvermittlung gesetzlich zu regeln, stand mit der Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft durch das Stinnes-Legien-Abkommen im Jahr 1918 eine „stille Revolution der Verbände gegen den Staat“

(Bähr 1989: 16) gegenüber. Hatte der Krieg Gewerkschaften, Industrie und Regie-rung zu einer engen Zusammenarbeit gezwungen und den organisierten Interessen das Tor zur Beeinflussung der Regierungspolitik aufgestoßen - nach Preller (1949:

80) schuf der Erste Weltkrieg die „Grundlage für das kollektive Arbeitsrecht der Nachkriegszeit“67 - so kämpften nach dem Krieg Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam gegen die staatliche Kontrolle der Wirtschaft beim Übergang in die Frie-denswirtschaft (vgl. Feldmann 1974: 160). Im Stinnes-Legien-Abkommen vom 15.

November 1918 erhoben Unternehmer und Gewerkschaften erstmals gemeinsam die Forderung nach Entscheidungsfunktionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (vgl.

Bähr 1989: 13-14). Die Unternehmer erkannten die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft an. Beide Gruppen unterzeichneten ein Bekenntnis zur Einführung der unbeschränkten Koalitionsfreiheit und zur Unabdingbarkeit von Tarifverträgen. Wei-terhin wurde die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben und von pari-tätisch besetzten Arbeitsgemeinschaften zur Vorbereitung von Entscheidungsfunk-tionen in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik vereinbart. Schließlich schlug das Abkommen paritätische Arbeitsnachweise vor. Damit griff man der Reichspolitik nicht nur vor, sondern schuf nach Faust (1991) auch eine wichtige Voraussetzung für die weiteren Entwicklungen:

Ohne diese Organisierung und Konsolidierung der Beziehungen der Arbeitsmarktparteien, durch die die Arbeitsmarktpolitik politisch entlastet wurde, wäre das Gesetz über die Arbeits-vermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 wohl kaum möglich gewesen (Faust 1991:

135).

Die Initiativen des Reiches erhielten auch durch die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, die in Artikel 163 ein „Recht auf Arbeit“ anerkannte, und durch die Gründung des Reichsarbeitsministeriums (RAM) im März 1919 wesentliche

66 Die Problematik bestand darin, daß die Kriegsteilnehmer nicht einfach zu ihren „alten“ Arbeits-plätzen zurückkehren konnten, weil vor allem aufgrund der Vorschriften des Hilfsdienstgesetzes andere Arbeitnehmer, zumeist Frauen, ihre Arbeitsplätze eingenommen hatten. Oftmals wollten die Unternehmer diese behalten, weil die Arbeitskraft der Männer durch Kriegsverletzungen stark eingeschränkt war (vgl. Weller 1969: 39-40). Zu den Vorschriften der Demobilmachungs-behörden vgl. RAM 1929: 117-127.

67 Zum Arbeits- und Koalitionsrecht während des Ersten Weltkrieges vgl. Preller 1949: 71-80.

ße. Alle sozialpolitischen Aufgaben, die in der Kaiserzeit noch zum Aufgabenbereich des Staatssekretärs des Inneren und des Wirtschaftsministeriums gehört hatten, wur-den nun in einem Ministerium zusammengefaßt: das Arbeitsrecht und der Arbeits-schutz, die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, die Sozialversicherung, die soziale Fürsorge, das Wohnungs- und Siedlungswesen sowie das Pensions- und Versorgungswesen für Kriegsbeschädigte, Kriegshinterbliebene und verwandte Per-sonenkreise.68 Der Kompetenzbereich des RAM, dessen erster Minister (1919 bis 1920) der Sozialdemokrat Alexander Schlicke wurde, umfaßte damit wie kein ande-res Arbeitsministerium zu dieser Zeit alle sozialpolitischen Aufgaben. Seine Befu-gnisse reichten auch weit in die Regulierung der Wirtschaft hinein. Nach 1923 wird dies im Hinblick auf das staatliche Schlichtungswesen von herausragender Bedeu-tung. Heinrich Brauns, der von 1920 bis 1928 Reichsarbeitsminister war und auf des-sen politische und ideologische Positionierung später noch zurückzukommen sein wird, umschrieb die Befugnisse seines Ministeriums in der kritischen Phase der Insti-tutionalisierung der Arbeitsmarktpolitik selbst folgendermaßen:

Sein Aufgabenkreis [gemeint sind die Aufgaben des RAM] umfaßt neben der Sozialpolitik im engeren Sinne auch Gebiete, die stark in das Wirtschaftliche hineinreichen ... Schon dadurch erhielt die deutsche Sozialpolitik nach dem Kriege einen stärkeren Antrieb und eine größere Stoßkraft, als sie vor dem Kriege bei uns besaß und auch heute noch in anderen Ländern besitzt (Brauns 1929: 1).

Sofort nach seiner Gründung rückten die Arbeitsbeziehungen, das Arbeitsrecht und der Aufbau einer staatlichen Arbeitsmarktpolitik in den Mittelpunkt der Tätigkeit des RAM. Denn das „sozialpolitische Schlüsselwort der Weimarer Republik hieß ‚Ar-beitsbeziehungen‘, nicht mehr ‚Sozialversicherung‘“ (Hentschel 1983: 55).69 Das RAM bemühte sich sogleich um die Regulierung der Arbeitsvermittlung. Im Jahr 1920 schuf man als Abteilung des RAM schließlich das Reichsamt für Arbeitsver-mittlung. Das Reichsamt für Arbeitsvermittlung hatte für den überregionalen Ar-beitsmarktausgleich aber nur eine geringe Bedeutung (vgl. Führer 1990: 233).

Zeitgleich bemühte sich das RAM um eine reichsgesetzliche Regelung des Arbeits-nachweiswesens. Im Auftrag des Ministeriums arbeitete der Arbeitsrechtler Professor Kastel einen Entwurf aus. Dieser bildete die Grundlage für anschließende Verhand-lungen über ein Gesetz mit den Gewerkschaften, Arbeitgebern, Ländern und Ge-meinden. Bereits diese Diskussionen, die am Ende in die Verabschiedung des Ar-beitsnachweisgesetzes vom 22. Juni 1922 (RGBl I, S. 657) mündeten, zeigten, daß

68 Zur Gründung und zu den Aufgaben des RAM vgl. RAM 1929: 12-40.

69 Preller (1949: 498) spricht von einer „Teildemokratisierung der Gesellschaftswirtschaft“ in der Weimarer Republik; „Teildemokratisierung“ deshalb, weil die sozialen Bedingungen, nicht aber die Wirtschaftsordnung demokratisiert wurden, und weil mit der „Überantwortung des Arbeits-marktes an die Selbstverwaltung der Koalitionen“ durch das AVAVG 1927 zwar ein Schritt zur Wirtschaftsdemokratie gemacht wurde, aber der „letzte entscheidende Schritt zur Wirtschaftsde-mokratie, die Selbstverwaltung der Wirtschaftsführung durch Unternehmer- und Arbeitnehmer-schaft“ ausblieb.

die Gewerkschaften und Arbeitgeber auf eine Selbstverwaltung drängten. Sie wehr-ten sich gemeinsam gegen die beabsichtigte Anbindung der Nachweise an die Kom-munen, und damit gegen eine Einflußnahme der kommunalen Verwaltung auf die Arbeitsmarktpolitik (vgl. Preller 1949: 277-278).

Durch die Interventionen der Gewerkschaften und Arbeitgeber im Reichsrat und Reichstag bei der Diskussion des Gesetzes wurde die Selbstverwaltungskomponente zunächst gestärkt. Das ANG von 1922 institutionalisierte die Arbeitsvermittlung nun aber als kommunale Pflichtaufgabe. Das Gesetz legte einen dreistufigen Aufbau der öffentlichen Arbeitsnachweise fest. Die unterste Stufe wurde von den Gemeinden ge-tragen, die mittlere von den Ländern, die oberste vom Reichsamt für Arbeitsvermitt-lung, und damit einer Abteilung des RAM. Alle drei Behörden bestanden aus einem Vorsitzenden und einem Verwaltungsorgan, das sich paritätisch aus Vertretern der Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammensetzte. Das Gesetz sah also eine Mitver-waltung durch die Gewerkschaften und Arbeitgeber auf allen drei Stufen vor: auf der Ebene der Gemeinden und Länder in den sogenannten Verwaltungsausschüssen, auf der Ebene des Reiches im Verwaltungsrat beim Reichsamt für Arbeitsvermittlung.

Auf den drei Stufen wurden die verschiedenen Behörden jedoch von unterschiedli-chen Rechtsträgern getragen, denn sowohl das Reich als auch die Länder und die Gemeinden besaßen eine Dienstaufsicht. Die Arbeitsnachweise auf der Ebene der Gemeinden und der Länder waren somit Dienststellen der Gemeinden bzw. der Län-der.

Die Regelungen des ANG von 1922 gelten damit als „komplizierte Kombination von öffentlicher und Selbstverwaltung“ (Faust 1987: 275). Es trug einen ausgesproche-nen Kompromißcharakter und entstand erst nach langen parlamentarischen Ausein-andersetzungen. Da dieses Gesetz auch vor dem Hintergrund des Streits über die in der Revolutionszeit erlassenen Zwangsmaßnahmen zur Benützung öffentlicher Ver-mittlungsorganisationen entstand70, sind die Auseinandersetzungen um das Gesetz auch nur allzu verständlich. Obwohl im ANG noch mehr die Interessen der Kommu-nen eingingen und die oben genannten Organe der Selbstverwaltung de facto „kaum eine Rolle“ (Führer 1990: 248) spielten, zeigten bereits die Auseinandersetzungen um das ANG, daß das Reich in seiner Arbeitslosenpolitik nur schwerlich an den In-teressen der Unternehmer und Gewerkschaften vorbeigehen konnte. Es nahm die be-reits zur Kaiserzeit auf kommunaler Ebene entstandene paritätische Mitverwaltung

70 Nachdem sich die klassenpolitische Situation beruhigt hatte, forderten die Arbeitgeberverbände die Rücknahme der während der Demobilmachung erlassenen Benutzungszwänge, während die Freien Gewerkschaften diese begrüßten und um ein Monopol öffentlicher Arbeitsvermittlungen erweitert sehen wollten. Arbeitgeber, Christliche Gewerkschaften und die bürgerlichen Parteien trafen sich jedoch in ihrer gemeinsamen Opposition gegen ein öffentliches Monopol (vgl. Führer 1990: 242-252).

durch die Gewerkschaften und Arbeitgeber in das erste Reichsgesetz, das in Deutsch-land die Arbeitsvermittlung regelte, auf.

Insgesamt wird jedoch auch immer wieder hervorgehoben, daß das ANG eine un-glückliche Konstellation schuf.71 Obwohl die Fachaufsicht bei den jeweils überge-ordneten Selbstverwaltungsorganen lag, hatten diese nur wenige Kompetenzen. Denn da die Kommunen und Länder als Träger der Nachweise die Dienstaufsicht besaßen, lag der Instanzenzug in den Händen der Kommunen bzw. der Länder. Da auch die Erwerbslosenfürsorge nach §2 des ANG an die kommunalen Nachweise, und damit an die Kommunalverwaltung, angebunden wurde, entwickelte sich alsbald eine neue Auseinandersetzung um die Arbeitsmarktpolitik. Dabei rückten die Gewerkschaften und Arbeitgeber „zusammen“. Gemeinsam entwickelten sie eine Opposition gegen die Kommunen als Träger der Arbeitsmarktpolitik. Diese Auseinandersetzung prägte nach dem ANG die weiteren Entwicklungen in der Institutionalisierung der Arbeits-marktpolitik.