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Arbeitsmarktpolitik als liberale und bürokratische Reformpolitik im Schnellgang

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

7.7 Arbeitsmarktpolitik als liberale und bürokratische Reformpolitik im Schnellgang

Die Institutionalisierung der englischen Arbeitsverwaltung läßt sich als „liberale und bürokratische Reformpolitik im Schnellgang“ beschreiben. Die Initiative Beveridges hatte eine sehr geringe interessenpolitische Zersplitterung in der Arbeitsvermittlungs-frage zur Voraussetzung. In England gab es nur eine sehr marginale Tradition ver-bandseigener oder kommunaler Arbeitsvermittlung. Die Organisierung des Arbeits-marktes begann daher in England durch den Zentralstaat. Die Zwischenstufe ver-bandspolitischer und kommunaler arbeitsmarktpolitischer Regulierung war wenig ausgeprägt. Entgegen der geringen interessenpolitischen Funktionalisierung der Ar-beitsvermittlungsfrage war die Tradition gewerkschaftlicher Unterstützungskassen stark entwickelt.

Die Gewerkschaftskassen sind Ausdruck des Strebens der ‚trade unions’, sich gegen-über den ‚unskilled workers‘ abzugrenzen. Die Interessenvertretung der englischen Gewerkschaften bestand darin, durch eine effiziente Monopolisierung der spezifisch qualifizierten Arbeitskräfte für die eigene Organisation zu werben. Es galt, dieses Monopol gegenüber den ‚unskilled workers‘ zu verteidigen.

Aufgrund der geringeren Bedeutung subnationaler Formen der Arbeitsvermittlung betraten die Liberalen mit ihrer Reformpolitik ein freies Gebiet. Nicht Gewerkschaf-ten und Arbeitgeber, sondern der Staat engagierte sich als erster in der Regulierung des Arbeitsmarktes.

Arbeitslosigkeit wurde dadurch weit weniger eine Sache der „Gemeinschaft“ als in Deutschland. Während man mit der Institutionalisierung der öffentlichen Arbeits-verwaltung in Deutschland die starke interessenpolitische Funktionalisierung der Ar-beitsmarktpolitik in eine gemeinsame Angelegenheit aller Sozialpartner zu überfüh-ren versuchte, wurde in England die Spaltung der Gewerkschaften nach ‚crafts‘ auch in der öffentlichen Arbeitsmarktpolitik fortgesetzt. Der Staat war Initiator der Institu-tionalisierung. Artikuliert wurde das staatliche Interesse an einer nationalen Arbeits-marktpolitik durch eine „Schule“ junger Reformer im BoT, denen durch Churchill und durch die Liberale Partei relativ freie Hand gelassen wurde. Da die Gewerk-schaften und Arbeitgeber keine nationale Politik formulierten und sich auf das Eigen-interesse ihrer jeweiligen Mitglieder konzentrierten, hatten diese Reformer auch eine

weitgehende Freiheit, ihr aus liberalen Überlegungen hergeleitetes Konzept praktisch umzusetzen.

Zwar opponierten in England Gewerkschaften und Arbeitgeber gegen das liberale Reformprojekt der Einführung einer öffentlichen Arbeitsvermittlung und einer Ar-beitslosenversicherung; Churchill konnte diesen Widerstand aber umgehen.

Die Einrichtung der öffentlichen Arbeitsverwaltung verlief daher in England kurz und schmerzlos. Ihre Institutionalisierung war vorrangig eine bürokratische Frage.

Die Organisierung der öffentlichen Arbeitsvermittlung war damit weit weniger poli-tisch aufgeladen als in Deutschland. Während der Arbeitsnachweis in Deutschland in der formativen Phase ein Kampfobjekt war und diese interessenpolitische Funktiona-lisierung das Entwicklungstempo und die Organisationsform der öffentlichen Ar-beitsverwaltung wesentlich mitbestimmte, waren in England Verwaltungsbeamte und liberale Politiker die wesentlichen sozialen Kräfte, die die Institutionalisierung einer Arbeitslosenpolitik vorantrieben.

Wie in Deutschland stand hinter dieser Institutionalisierung ein einflußreiches Mi-nisterium, das ‚Board of Trade‘. Im Gegensatz zu Deutschland waren die Gesetze von 1909 und 1911 aber das Ergebnis eines bürokratischen Alleingangs und das Re-sultat der Überwindung des ‚Poor Law‘. Die diskriminierenden Bestimmungen und das Wertesystem des ‚Poor Law’ betrachtete man für eine nationale Ökonomie als unangemessen, weil ineffizient. Als wesentliche Determinante der arbeitsmarktpoliti-schen Initiativen zwiarbeitsmarktpoliti-schen 1908 und 1911 gelten die Beamten der Abteilung für Ar-beitsfragen des BoT, Smith und Beveridge, die entgegen den anderen Bereichen der Sozialverwaltung ihre Politik innovationsfreudiger und einflußreicher gegenüber der

‚Treasury‘ durchsetzen konnten. Auf die organisierten Interessen mußte in England auch deswegen weitaus weniger Rücksicht genommen werden als in Deutschland, weil diese sich in einer Art und Weise ausrichteten, die den liberalen Reformern eine relativ große Gestaltungsfreiheit gab.

Es ist vermutlich gerade diese geringe interessenpolitische Penetration, die dazu führte, daß man in England mit einer weitaus geringeren Legitimität der Arbeitsver-waltung als in Deutschland in die Reorganisationsphasen seit den 1960er Jahren trat.

Die erste Phase der neuen Arbeitsämter resümierend kommt Harris (1972: 353-354) zu dem Schluß, daß die „größte Unzulänglichkeit der Arbeitsverwaltung ... ihr be-grenzter Erfolg [war], Vertrauen bei den Gewerkschaftsmitgliedern und den Arbeit-gebern zu gewinnen“.

Ka K ap pi it te el l 8 8 N Ni ie ed de er r la l an nd de e ( (1 19 91 13 3- -1 19 94 49 9) )

8.1 Einleitung

Obwohl die Akteure in der kritischen Phase der Initiatilisierung der öffentlichen Ar-beitsverwaltung die angrenzenden Länder intensiv beobachteten, folgten die Nieder-lande weder dem britischen noch dem deutschen Weg. Das Ende der formativen Pha-se ist durch Zweigliedrigkeit gekennzeichnet: Während die Arbeitsvermittlung als staatliche Aufgabe institutionalisiert wurde, wurde die Arbeitslosenversicherung durch das Arbeitslosigkeitsgesetz (‚werkloosheidswet‘, WW) im Jahre 1952 den auf Branchenebene organisierten, von Gewerkschaften und Arbeitgebern verwalteten Branchenvereinigungen anvertraut. Es kam also im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien zu einer institutionellen Trennung von Arbeitsvermittlung und Ar-beitslosenversicherung, und damit auch zu gegensätzlichen Organisationsformen die-ser beiden Aufgaben. Am Ende der formativen Phase stand die Arbeitsmarktpolitik zwischen Staat und paritätischer Selbstverwaltung. Weil der öffentlichen Arbeits-verwaltung allein die Aufgabe der Arbeitsvermittlung übertragen wurde, besaß sie keine organisatorische Verbindung zu den Gewerkschaften und Arbeitgebern.

Dieser Verlauf der formativen Phase ist die Konsequenz jener speziell niederländi-schen Faktoren, die die Akteure beim Aufbau der öffentlichen Arbeitsverwaltung be-einflußten. Dazu gehörten: erstens der Industrialisierungsrückstand der Niederlande, zweitens die Segregation eines großen Teils der Bevölkerung und der gesellschaftli-chen und politisgesellschaftli-chen Gruppen nach protestantisgesellschaftli-chen, katholisgesellschaftli-chen, sozialistisgesellschaftli-chen und liberalen Weltanschauungen und Überzeugungen („Versäulung“) und drittens die Dominanz der protestantischen und katholischen „Säulen“ gegenüber den soziali-stischen und liberalen in der kritischen Phase der Institutionalisierung der öffentli-chen Arbeitsverwaltung (1918-1939). Die Segmentierung der gesellschaftliöffentli-chen Gruppen nach protestantischen, katholischen, sozialistischen und liberalen Blöcken durchzog bis in die 1960er Jahre ganz allgemein die Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Sie spitzte sich in der Frage der gesellschaftlichen und staatlichen Rol-lenverteilung bei sozialpolitischen Aufgaben darauf zu, daß die Konfessionellen

„Souveränität im eigenen Kreis“ und „Subsidiarität“, und damit einen „privaten“

Korporatismus, forderten, während die Sozialisten einen „staatlichen“ Korporatismus durchzusetzen versuchten.

Zum Zeitpunkt der Initialisierung der öffentlichen Arbeitsverwaltung befand sich der Aufbau der niederländischen Industrie noch in einem sehr sporadischen, in einem in regionaler wie branchenstruktureller Hinsicht ungleichmäßigen Zustand. Die verspä-tete Industrialisierung hatte die Konsequenz, daß die Akteure nicht im selben Aus-maß wie in Großbritannien oder Deutschland der Notwendigkeit gegenüberstanden,

auf dem Arbeitsmarkt regulierend einzugreifen. Der römisch-katholische und der protestantische Konfessionalismus förderten zudem sowohl bei den Gewerkschaften als auch bei den Arbeitgebern eine Distanz zur Vorstellung, die Arbeitsvermittlung mit dem Staat gemeinsam zu regulieren. Da die konfessionellen Kräfte nun aber in der Arbeitsvermittlung ihre Forderung nach einer paritätischen Selbstverwaltung durch die Branche nicht durchsetzten, wurde die öffentliche Arbeitsverwaltung am Ende als staatliche Aufgabe ohne Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber institutionalisiert.

Anders war es in der Frage der Arbeitslosenversicherung. Die niederländischen Ge-werkschaften pflegten hier eine ökonomische Interessenvertretung ihrer Mitglieder.

Die Institutionalisierung der staatlichen und verpflichtenden Arbeitslosenversiche-rung nach dem Zweiten Weltkrieg baute auf dieser Tradition der freiwilligen - und seit dem Ersten Weltkrieg vom Staat finanzierten - Versicherung durch die Gewerk-schaftskassen auf. Als Organisationsform wählte man hier am Ende - aufgrund der konfessionellen Ablehnung gegenüber einer staatlichen Regulierung - die paritäti-sche Selbstverwaltung durch die Gewerkschaften und Arbeitgeber im Rahmen der Branchenvereinigungen.

Die Niederlande sind somit ein „schwieriger“ Fall. Die Arbeitsverwaltung (Arbeits-vermittlung) geriet am Ende auch deswegen in die Klammer der Obrigkeit (‚over-heid‘)158, weil man die Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenversicherung, und nur an der zweiten Aufgabe entwickelten die Gewerkschaften ein ausgesprochenes Inter-esse, in getrennten Zirkeln diskutierte. Im Gegensatz zu Deutschland und England zergliederten die Niederlande die Arbeitsmarktpolitik in ihre zwei Grundbestandteile (Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) und gossen beide Aufgaben in unterschiedliche Strukturen.

In den Ausführungen über die Institutionalisierung der öffentlichen Arbeitsverwal-tung in den Niederlanden werden folgende Akzente gesetzt: Im ersten Abschnitt soll gezeigt werden, wie die Diskussion um die Arbeitsvermittlung aufgrund der verspä-teten Industrialisierung und der „Versäulung“ der niederländischen Gesellschaft eine besondere Qualität erhielt und die Vermittlungsorganisationen der Kommunen do-minierten. Im zweiten Abschnitt werden der erste kritische Moment in der niederlän-dischen Arbeitsmarktpolitik, die Einrichtung einer Staatskommission über die

158 Der Begriff der Obrigkeit (‚overheid‘) bezeichnet den staatlichen Akteur in den Niederlanden.

‚Overheid‘ bezieht sich dabei sowohl auf den Zentralstaat (Reich, ‚rijk‘) als auch auf die Kom-munen (‚gemeenten‘) und Provinzen, die unteren Obrigkeiten (‚lagere overheiden‘, vgl. Lijphart 1990: 130-140). Wird im folgenden von ‚overheid‘ oder Obrigkeit gesprochen, so bezeichnet dies immer sowohl den Zentralstaat als auch die unteren Gebietskörperschaften. Es ist zu beto-nen, daß die Kommunen im niederländischen Einheitsstaat im Vergleich zu anderen Einheitsstaa-ten einen Sonderstatus einnehmen. Ihren Status bezeichnet man als Mitregierung (‚medebe-wind‘).

beitslosigkeit (‚Staatscommissie over de Werkloosheid‘, ScoW) und deren Empfeh-lungen für eine nationale und korporatistische Arbeitsmarktpolitik erläutert. Gerade der Bericht der ScoW (1913) verdeutlicht, wie die Akteure die Entwicklungen in Großbritannien und Deutschland wahrnahmen, wie zugleich aufgrund der eigenen Gegebenheiten jedoch nur sehr selektiv „gelernt“ wurde. Die Mitglieder der Kom-mission tendierten mehr zum deutschen als zum englischen Weg. Der Bericht der Kommission erlangt in unserem Zusammenhang vor allem deswegen an Bedeutung, weil sich der an Deutschland angelehnte Plan, paritätisch verwaltete öffentliche Ar-beitsämter zu errichten, später de facto nicht durchsetzte. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wird darauf eingegangen, wie mit dem Ersten Weltkrieg das Reich die Tra-dition der Gewerkschaftskassen durch ihre Subventionierung verfestigte. Der vierte, fünfte und sechste Abschnitt legen schließlich dar, wie die „Versäulung“ und die Dominanz der konfessionellen Gruppen in der Zwischenkriegszeit dazu beitrugen, daß die Arbeitsvermittlung als „staatliche“ und die Arbeitslosenversicherung als „ge-sellschaftliche“ Aufgabe institutionalisiert wurden.

Die folgenden Ausführungen sollen explizieren, warum in den Niederlanden in der formativen Phase Arbeitsmarktpolitik zwischen Staat und paritätischer Selbstverwal-tung aufgeteilt wurde: Die Gewerkschaften und Arbeitgeber wurden nur an der Ar-beitslosenversicherung beteiligt, während die Arbeitsvermittlung (Arbeitsverwal-tung) dem Staat zur Regulierung übertragen wurde.

8.2 Arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der verspäteten