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Die Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung als staatliche Aufgabe

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

8.6 Die Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung als staatliche Aufgabe

Bis 1939 institutionalisierte sich die Arbeitsvermittlung zunehmend auf kommunaler Ebene. Einem systematischen Eintreten für eine Korporatisierung der öffentlichen (!) Arbeitsvermittlung stand bei den Konfessionellen ein ideologisches Hindernis entge-gen. Denn sie definierten die Arbeitsvermittlung nicht als eine öffentliche Aufgabe, sondern als eine gesellschaftliche, als Funktion der Branchenvereinigungen. Ende der 1930er Jahre und mit der deutschen Besatzung wurde die Arbeitsvermittlung dann zentralisiert. Die Kommunen wurden entmachtet und die Arbeitsvermittlung als Aufgabe des Zentralstaates eingerichtet.

Die katholischen Gewerkschaften und Arbeitgeber forderten in den 1920er Jahren eine Arbeitsvermittlung, die auf Branchenebene von den Gewerkschaften und Ar-beitgebern verwaltet werden sollte (vgl. Bekkum 1996b: 300-302). Auch der rö-misch-katholische Sozialminister Aalberse trat für eine Organisierung der

Arbeits-vermittlung durch die konfessionellen Gewerkschaften und Arbeitgeber ein. Im Jahr 1922 wurde ein Gesetz erlassen, das sektorale Vermittlungsorganisationen den kommunalen öffentlichen Arbeitsvermittlungen gleichstellte (vgl. Sol 2000: 62).

Wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur deutschen Entwicklung war jedoch, daß die-se Forderungen aus dem katholischen Lager auf eine private Organisation und nicht auf eine öffentliche Körperschaft mit Selbstverwaltung zielten. Die Katholiken streb-ten eine eigene - von katholischen Arbeitgebern und Gewerkschafstreb-ten verwaltete - Arbeitsvermittlung an. Der Vorsitzende der römisch-katholischen Gewerkschaftsbe-wegung, C.J. Kuiper, sprach die Ablehnung gegenüber staatlicher Intervention im Mai 1927 offen aus:

Das R.K.-Gewerkschaftsbüro hat nie geschwärmt von Staatsbemühungen in der Arbeitsver-mittlung, weil die Arbeitsvermittlung dem Wesen nach die Vorbereitung für den Arbeitsvertrag ist, nicht selten auch in wichtigen Punkten, wie Lohn und die Arbeitsdauer, den Inhalt davon bestimmt, und deshalb zum Arbeitsvertrag gehört oder zumindest eng mit dem Arbeitsvertrag selbst verbunden ist, so daß sie ohne Zweifel als ein wesentlicher Teil der Gewerkschaft be-trachtet werden kann (zit. nach Kort 1940: 353; meine Übersetzung, CT).

Die katholischen Gewerkschaften und Arbeitgeber definierten die Arbeitsvermittlung als Angelegenheit der Branche, als sogenannte ‚bedrijfszorg‘. Der Einrichtung der Arbeitsvermittlung in einer staatlichen Organisationsform standen sie abweisend ge-genüber (vgl. Kort 1940: 295-296, 353; Bekkum 1996b: 301; Sol 2000: 72). Die sektoralen Arbeitsvermittlungsorganisationen kamen in den Niederlanden jedoch nicht zustande.197

Diesem Primat der paritätischen Selbstverwaltung auf Seiten der konfessionellen Gewerkschaften stand auf Seiten der sozialistischen Gewerkschaften und des NVV das Primat der Politik gegenüber. Der NVV erkannte die Arbeitsvermittlung als „öf-fentliche Aufgabe“, als Aufgabe, die der Staat zu regulieren habe (vgl. Kort 1940:

351-353).

(Vermutlich) auch aufgrund dieses Standpunkts der konfessionellen Kräfte, die Ar-beitsvermittlung als staatliche Aufgabe zu betrachten, erfolgte eine erste reichssetzliche Regulierung der Arbeitsvermittlung erst mit dem im Jahre 1930 in Kraft ge-tretenen Arbeitsvermittlungsgesetz (‚arbeidsbemiddelingswet‘).198 Mit diesem Gesetz

197 Die Gründe dafür, daß sich die konfessionellen Vermittlungsorganisationen nicht durchsetzten, wurden in der Forschung bisher nicht systematisch untersucht. Während Sol (2000: 64) davon ausgeht, daß „die genauen Ursachen dafür unbekannt sind“, nennt Bekkum (1996b: 305) als we-sentlichen Grund, daß auch auf Betriebsebene die Einrichtung von Mitbestimmungsorganen scheiterte; Kort (1940) spricht mögliche Gründe für das Scheitern gar nicht an.

198 Die ersten Vorbereitungen zu diesem Gesetz wurden bereits 1917 getroffen, bevor 1921 ein er-ster Entwurf diskutiert wurde. Warum sich die Verabschiedung bis ins Jahr 1930 verzögerte, wird von Bekkum (1996b), wie auch von Sol (2000), nicht weiter angesprochen. Bekkum (1996b: 356) hebt jedoch hervor, daß große Kontroversen um das Gesetz die Verzögerung nicht erklären könnten, weil es diese nicht gegeben hätte. Die Forschung äußert sich insgesamt aller-dings recht wenig zur Entstehungsgeschichte des Arbeitsvermittlungsgesetzes von 1930; zum Gesetz vgl. Bekkum 1996b: 356-362; Sol 2000: 71-75.

wurden Kommunen mit über 15.000 Einwohnern verpflichtet, eine kommunale Ar-beitsvermittlungsstelle einzurichten. Damit wurde die Arbeitsvermittlung nicht ver-ändert, sondern nur dasjenige rechtlich verfestigt, was sich bereits in den Jahren zu-vor abgezeichnet hatte: die Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung auf der kommunalen Ebene ohne systematische Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeit-geber. Das Arbeitsvermittlungsgesetz wurde daher auch eher als „Konsolidierungs-gesetz“ (Kort 1940: 302; Bekkum 1996b: 357) aufgefaßt. Entgegen den in der Kom-mission vorgetragenen Wünschen nach einer paritätischen Verwaltung sah das Ar-beitsvermittlungsgesetz vor, die Gewerkschaften und Arbeitgeber an der kommuna-len Arbeitsvermittlung nur beratend zu beteiligen. Es wurde eine mit Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzte Aufsichtskommission (‚Commissie van Toezicht‘) ge-gründet. Diese hatte aber nur wenig Einfluß, denn die wesentlichen Ausführungs-kompetenzen wurden in die Hände der Kommunen gelegt, die auch zusammen mit dem Reich die Arbeitsvermittlung finanzierten (vgl. Hoffius/Vriend 1988: 37-46).

Gerade die „Konsolidierung“ durch das Arbeitsvermittlungsgesetz zeigt jedoch, daß die konfessionellen Regierungsparteien einer Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung als Reichsaufgabe abweisend gegenüberstanden. Im Parlament wurde das Gesetz wenig diskutiert. Sol (2000: 73) führt dies darauf zurück, daß die Regierung von einer „unbestrittenen Autonomie“ der Kommunen ausging. Die Kritik der Juristen G.J. Goedhart und A. Roeterink, die Rolle des Reiches zu stärken199, wies der damalige Sozialminister Verschuur (RKSP) bezeichnenderweise damit zurück, daß dies „die Vermittlung auf der Ebene des Reiches unnötig stärken“ (zit.

nach Sol 2000: 73) würde. Dabei sprach sich Verschuur auch ausdrücklich dagegen aus, das Verhältnis der Arbeitsvermittlung zum System der Einkommenssicherung für Arbeitslose (zur Fürsorgeleistung und zu den Gewerkschaftskassen) gesetzlich zu regeln. Auch dies wollte er der Autonomie der Gemeinden überlassen. Widerspruch gegen die dominante Rolle der Kommunen und Kritik an der zaghaften Einbindung der Gewerkschaften und Arbeitgeber äußerte nur die sozialdemokratische Opposition (vgl. Sol 2000: 73-74).

Auch nach der Verabschiedung des Arbeitsvermittlungsgesetzes richteten die Kom-munen jedoch in den seltensten Fällen wirklich Arbeitsvermittlungen ein, unter de-nen man auch Arbeitsvermittlungsstellen, also ‚arbeidsbeurzen‘, im engeren Sinne hätte verstehen können. Kort berichtet, daß von den 1.064 Arbeitsvermittlungsorga-nen, die 1935 gezählt wurden, nur 73 offiziell als ‚arbeidsbeurs‘ bezeichnet wurden.

Die Kommunen führten die Arbeitsvermittlung oftmals in Verbindung mit anderen Aufgaben aus, wie z.B. mit der Fürsorgeleistung, der ‚steunregeling‘. Nur bei zehn Prozent der kommunalen Einrichtungen, die sich um eine Regulierung der Arbeits-vermittlung bemühten, war die ArbeitsArbeits-vermittlung die Hauptaufgabe (vgl. Kort 1940:

199 Zur Position der Juristen Goedhart und Roeterink vgl. Goedhart/Roeterink 1929.

304-305). Kort faßt die Situation auf kommunaler Ebene folgendermaßen zusam-men:

Nun denn, durch die Kombination mit anderen, oft wichtigeren kommunalen Sozialdiensten gibt es kaum Direktoren, deren einzige oder wichtigste Aufgabe die Arbeitsvermittlung ist (Kort 1940: 357; meine Übersetzung, CT).

Bereits in den 1930er Jahren wuchs infolgedessen innerhalb des Sozialministeriums, und dabei insbesondere innerhalb der Abteilung für Arbeitslosigkeitsbekämpfung und Arbeitsvermittlung, die Unzufriedenheit mit der bestehenden Struktur der Ar-beitsvermittlung. Es wurden immer mehr Stimmen laut, die eine Zentralisierung der Arbeitsvermittlung forderten, wobei zwei Beamte der Abteilung für Arbeitslosig-keitsbekämpfung und Arbeitsvermittlung, H.J. Mooren und Th. van Lier, zu den Wortführern dieser Rufe nach einer Gewichtsverlagerung der Kompetenzen in Rich-tung Zentralstaat wurden. Mooren und Lier waren davon überzeugt, daß der dezen-trale Aufbau der Arbeitsvermittlung ein effektives Eingreifen des Zentralstaates be-hindere. Auch auf einer Konferenz der Vereinigung der Niederländischen Arbeits-börsen im Juni 1939 sprach sich die Mehrheit der Teilnehmer für eine Zentralisie-rung aus (vgl. Rigter et al. 1995: 151-152). Mooren brachte auf dieser Konferenz seine Position folgendermaßen zum Ausdruck:

Die [kommunale] Autonomie erachte ich als ein wichtiges Gut, aber nur für die Regelung von den wirklichen örtlichen Belangen ... Ich verneine aber, daß die Autonomie verschont werden sollte, wenn solch wichtige Probleme allgemeiner Natur wie das Problem der Arbeitslosigkeit gelten (Mooren, Hohe Beamter des Sozialministeriums, 1938; zit. nach Kraaijestein 1995: 13;

meine Übersetzung, CT).

Bemerkenswert ist, daß Lier in seiner Argumentation dabei auch explizit darauf Be-zug nahm, was er in den anderen Ländern beobachtete: eine Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung als Aufgabe des Zentralstaates:

Was sehen wir nun in den letzten 20 Jahren in fast allen west- und mitteleuropäischen Län-dern? Der Staat übernimmt die Aufgaben der Kommunen, weil die Erfahrung gezeigt hat, daß ein System der Arbeitsvermittlung, das sich auf die Autonomie vieler Kommunen stützt, im Endeffekt den modernen Anforderungen der Wirtschaft nicht genügen kann. Ebensowenig wird ein derartiges System der durch die veränderte Struktur auf dem Arbeitsmarkt bedingten hohen Mobilität der Arbeit gerecht, währenddessen ist der Staat für ein gutes Verständnis der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt immer mehr auf die Unterstützung der Arbeitsämter ange-wiesen. Er muß diese Institutionen so steuern, daß er eine effiziente Arbeitslosigkeitspolitik durchführen kann (Lier; zit. nach Bekkum 1996b: 388; meine Übersetzung, CT).

Vermuten läßt sich zudem, daß die Zentralisierung nicht nur durch den Druck, den die Beamten Mooren und Lier ausübten, gefördert wurde, sondern auch durch die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Regierung, die ja, wie erwähnt, im Gegen-satz zu den Konfessionellen die Arbeitsvermittlung als staatliche Aufgabe betrachte-ten. So fragte der 1939 ins Amt getretene Sozialminister Jan van Tempel (SPDA) die Zentrale Unterstützungskommission noch im selben Jahr nach einer Empfehlung für eine Zentralisierung der Arbeitsvermittlung. Auch die Kommission sprach sich schließlich im Mai 1940 für eine beschränkte Zentralisierung aus: Die

Arbeitsver-mittlung sollte weiterhin durch kommunale Einrichtungen ausgeführt werden, der Zentralstaat ab sofort jedoch ausgeprägte Kontrollrechte erhalten (vgl. Sol 2000: 79).

Einen wichtigen Kontext für die Stimmen, die nach Zentralisierung riefen, stellt möglicherweise auch der generelle Trend der Entmachtung der Kommunen dar, der zu Beginn der 1930er Jahre einsetzte. So spricht Derksen (1995: 514) von einem

„Umschlag“ in der Stellung der Kommunen: Der „Blühperiode“ (1995: 514) kom-munaler Autonomie in der Zeit zwischen 1870 und 1930 folgte zu Beginn der 1930er Jahre eine Wende zu einer verstärkten Zentralisierung, weil man die Unterschiede in der Armen-, Bildungs-, Wohnungsbau- und Arbeitsmarktpolitik zwischen den Ge-meinden angesichts der zunehmenden Mobilität als inakzeptabel betrachtete.200 Nach Rigter et al. (1995: 152) bestanden vor der deutschen Besatzung (1939) allein Meinungsunterschiede über den Zeitpunkt einer Zentralisierung, nicht aber über de-ren prinzipielle Notwendigkeit. Als wesentliches Motiv dieses Umschwungs wurde von den Zentralisierungsbefürwortern dabei immer wieder angeführt, daß das Reich, genauer das Sozialministerium, in der Frage der Arbeitsvermittlung so gut wie keine Eingriffsmöglichkeiten besaß, aber zusammen mit den Kommunen die Finanzierung trug (vgl. Bekkum 1996b: 349-350).

Mit der deutschen Besatzung im September 1940 wurde die Arbeitsvermittlung nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Arbeitseinsatzbehörde organisiert (vgl. hier-zu Hoffius/Vriend 1988: 48): Es wurde ein Reichsarbeitsamt als Abteilung des Sozi-alministeriums eingerichtet, womit die öffentliche Arbeitsvermittlung zur „Reichs-aufgabe“ erklärt wurde. Im Jahr 1941 traten schließlich Bezirksarbeitsämter an die Stelle der kommunalen Arbeitsämter. Unter der Deutschen Besatzung wurden die Arbeitsämter zunehmend in den Dienst nationalsozialistischer Zwecke gestellt („Ar-beitseinsatz“).201

Nach der Befreiung von der deutschen Besatzung regelte der Königliche Beschluß vom 17. Juli 1944 (Stb. No. E 51) die Arbeitsvermittlung aufs neue. Dabei schloß man an die unter der deutschen Besatzung eingerichteten Institutionen an. Der Ar-beitsverwaltung wurden die Aufgaben der Arbeitsvermittlung und der Weiterbildung und Umschulung übertragen. Es wurde die Pflicht für Arbeitslose festgeschrieben, sich bei der Arbeitsvermittlung im Falle der Arbeitslosigkeit zu melden. Wie 1930 wurde der Arbeitsverwaltung ein Beratungsorgan beigestellt: die sogenannten

200 Die Forschung zur Entstehung der niederländischen Arbeitsverwaltung äußert sich leider nicht darüber, inwieweit man die Zentralisierung der Arbeitsvermittlung mit diesem allgemeinen Ent-machtungstrend in einen Zusammenhang stellen kann.

201 Zur niederländischen Arbeitsverwaltung unter der Besatzungszeit vgl. ausführlich Bauer 1948.

Die Deutschen benannten die ‚arbeidsbeurs‘ in ‚arbeidsbureau‘ um (vgl. Hoffius/Vriend 1988:

48).

kommissionen (‚Commissies van Advies‘). Diesen gehörten vom Sozialminister be-rufene Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeber an. Die Rolle dieses neuen Be-ratungsorgans wird jedoch als noch schwächer betrachtet als die der im Arbeitsver-mittlungsgesetz von 1930 eingerichteten paritätischen Aufsichtskommission (vgl.

Hoffius/Vriend 1988: 49).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Arbeitsvermittlung damit endgültig zu einer Aufgabe der Staatsverwaltung. Das von den Deutschen gegründete Reichsarbeitsbüro ist direkter Vorgänger des späteren, 1954 gegründeten, Generaldirektorats Arbeits-verwaltung (‚DirecteGeneraal voor de Arbeidsvoorziening‘, DG Arbvo). Vom ur-sprünglichen Einfluß der Kommunen blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nichts üb-rig. Eine Kommunalisierung oder Vergesellschaftung dieser Aufgabe stand auf poli-tischer Seite nicht mehr zur Diskussion (vgl. Kraaijestein 1995: 105). Jan van Tem-pel, der Sozialminister der Londoner Exilregierung, trat immer wieder als Befürwor-ter einer Zentralisierung der Arbeitsvermittlung auf (vgl. Sol 2000: 94). Eine Anfrage konfessioneller Abgeordneter in der Zweiten Kammer im Jahr 1948, in der diese an-regten, die Gewerkschaften und Arbeitgeber stärker zu inkorporieren, wurde vom Sozialministerium abgewiesen (vgl. Sol 2000: 96).

Die Frage ist, ob man mit dieser Zentralisierung die Tendenzen vor 1940 fortsetzte, oder ob die durch die deutschen Besatzer durchgeführte Zentralisierung der Arbeits-vermittlung zu einer „Arbeitseinsatzbehörde“ den wesentlichen Ausschlag für diese Entwicklungen gab. In der niederländischen Sozialwissenschaft gehen diesbezüglich die Meinungen auseinander. Während Hoffius/Vriend (1988: 50) im wesentlichen die deutsche Besatzungszeit als das Fundament dieser Zentralisierung betrachten, geben Bekkum (1996b)202 und auch Kraaijestein (1995)203 Hinweise, daß die Deut-schen die Entwicklungen, die sich vor der Besatzung bereits abzeichneten, „nur“

fortführten. Daß die Deutschen die sich andeutende Abkehr von den Kommunen nur

„vollendeten“, erhärtet auch folgendes Zitat aus einem Dokument des Sozialministe-riums im Londoner Exil 1942:

Eine weiterreichende Zentralisierung der Arbeitsvermittlung in den Niederlanden in dem Sin-ne, daß sie vielmehr als früher ein Reichsdienst sein sollte, war bereits vor der Invasion in Vorbereitung (zit. nach Kraaijestein 1995: 105; meine Übersetzung und meine Herv., CT).

202 Bekkum selbst äußert sich etwas widersprüchlich. An anderer Stelle gibt Bekkum an, daß man vor dem Zweiten Weltkrieg von dirigistischen Steuerungsmodellen auf dem Gebiet der Arbeits-vermittlung weit entfernt gewesen sei und die deutsche Besatzung die Bestrebungen nach einer Bipartisierung, die deutlich erkennbar gewesen seien, jäh unterbrochen hätte (vgl. Bekkum 1996b: 493-500).

203 Kraaijestein (1995: 102-106) spricht davon, daß die deutsche Besatzung die Zentralisierungsten-denzen der Jahre 1930er verstärkte, aber nicht der ausschlaggebende Faktor für die Zentralisie-rung nach dem Kriege war.

Unabhängig davon, welcher Effekt die deutsche Besatzung nun tatsächlich hatte, ist es in unserem Zusammenhang wichtig festzuhalten, daß man sich in den Niederlan-den in Niederlan-den 1920er und 1930er Jahren nicht zur Korporatisierung der Arbeitsvermitt-lung durchringen konnte. Weder die Idee der Staatskommission über die Arbeitslo-sigkeit, dem Vorbild der deutschen kommunalen und paritätischen Arbeitsnachweise zu folgen, noch die Präferenz der konfessionellen Kräfte, die Arbeitsvermittlung durch korporative Branchenvereinigungen zu regulieren, setzten sich durch. Im Lich-te der Tatsache, daß die konfessionelle Hegemonie und ihre Forderung nach Selbst-regulierung in der Arbeitsvermittlung nicht zu den vermuteten Strukturen führte, kann man argumentieren, daß der Konfessionalismus einem ideologischen Hindernis für eine Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber an der staatlichen Arbeits-vermittlung gleichkam. Die sozialistischen Gewerkschaften waren in der Zwischen-kriegszeit politisch zu schwach, um den von ihnen geprägten Bericht der Kommissi-on und damit auch eine staatliche Arbeitsvermittlung mit Beteiligung der Gewerk-schaften und Arbeitgeber umzusetzen.

Was jedoch die arbeitsmarktpolitische Haltung der Gewerkschaften in der Zwischen-kriegszeit am stärksten geprägt hat, war die Frage der Arbeitslosenversicherung.

Denn die Gewerkschaftskassen waren zeitweise der zentrale Pfeiler ihrer Organisati-onskraft. Die Arbeitslosenversicherung wurde somit auch entsprechend der Präferen-zen der Konfessionellen als Aufgabe der Branche institutionalisiert. Die Verabschie-dung und das Zustandekommen dieses Gesetzes, das im folgenden näher erläutert werden soll, nannte der damalige KVP-Fraktionsvorsitzende Romme als ein „Vor-bild wie soziale Gesetzgebung in den Niederlanden zustande kommen soll“ (zit. nach Maas 1991: 653; meine Übersetzung, CT).

8.7 Die Institutionalisierung der Arbeitslosenversicherung als Aufgabe der Branchen

Während der gesamten Zwischenkriegszeit stand die Einführung einer verpflichten-den Arbeitslosenversicherung immer wieder auf der politischen Tagesordnung (vgl.

Roebroek 1993: 84-85). Die Debatte blieb aber ohne Resultat, zum einen weil der Zentralstaat in seiner Arbeitslosenpolitik auf das Fürsorgesystem setzte (vgl. Rooy 1978: 30), zum anderen weil auf der einen Seite die Arbeitgeber nicht bereit waren, für eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung Beiträge zu zahlen, und auf der an-deren Seite die Gewerkschaften an dem Status ihrer Kassen festhielten.

Die katholisch-protestantische Koalitionsregierung bemühte sich in den 1920er Jah-ren zunehmend, die Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung vo-ranzutreiben (vgl. Bekkum 1996b: 317; Roebroek/Hertogh 1998: 176). Bereits 1919 versprach der katholische Sozialminister Aalberse die Einführung einer

Versiche-rung, 1921 und 1923 fragte er den Niederländischen Arbeitslosigkeitrat (‚Nederland-se Werkloosheidsraad‘, NWR)204 um eine Empfehlung. In der Haushaltsdebatte am 1.

Dezember 1927 beauftragte schließlich die Zweite Kammer die Regierung mit dem Entwurf eines Gesetzes, woraufhin der damalige Sozialminister Bruïne (CHU) den Hohen Rat der Arbeit (‚Hoogen Raad voor Arbeid‘)205 um eine Empfehlung bat. In den Verhandlungen des Hohen Rates traten jedoch deutliche Meinungsverschieden-heiten auf. Die Mehrheit der Ratsmitglieder hatte gegen eine verpflichtende Arbeits-losenversicherung Bedenken und lehnte Beiträge der Arbeitgeber ab (vgl. Hoogland 1940a: 547-550). Dabei ist während der gesamten Diskussion um die Einführung ei-ner Arbeitslosenversicherung in den 1920er Jahren bei den Arbeitgebern eine deutli-che Opposition erkennbar. Diese betrachteten die Arbeitslosenversideutli-cherung in der Auseinandersetzung um die Festsetzung der Löhne als Machtmittel der Gewerkschaften (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 91-92).

Mitten in diese Diskussionen brach nun die Depression der 1930er Jahre ein. Zwi-schen 1931 und 1936 stieg die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen von 138.000 auf 475.000. Damit wurde im Januar 1936 die höchste Zahl an Arbeitslosen seit der ersten offiziellen Zählung erreicht (vgl. Roebroek 1993: 84). Im Jahr 1935 zählt man beim NVV ein Drittel der Mitglieder als arbeitslos (vgl. Windmuller 1969:

67). Die Krise auf dem Arbeitsmarkt brachte den Gewerkschaften insbesondere zwi-schen 1928 und 1934 einen starken Zulauf an Mitgliedern. Es waren vor allem die Gewerkschaftskassen, die den Gewerkschaften diesen Zuwachs bescherten. Die Kas-sen wurden von einem „Bindemittel“ zur „letzten Kontaktstelle“ (Jong 1956: 180) mit den Arbeitern.206

204 Der Niederländische Arbeitslosigkeitsrat wurde bereits 1914 als Beratungsorgan für die Einfüh-rung einer ArbeitslosenversicheEinfüh-rung gegründet. Er hatte jedoch de facto nur eine geringe Bedeu-tung, weil die Arbeitgeber den Sitzungen des Rates fern blieben (vgl. Bekkum 1996b: 297). Ein anderes Organ, das auf die Diskussion um den öffentlichen Umgang mit der Arbeitslosigkeit in dieser Zeit Einfluß nahm, war der Niederländische Bund für Arbeitsbeschaffung.

205 Der Hohe Rat der Arbeit wurde auf Initiative des damaligen Arbeitsministers Aalberse im Okto-ber 1919 gegründet und kann als Vorgänger der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Ver-handlungsinstitutionen betrachtet werden. Die Bedeutung des Hohen Rates lag vor allem darin, daß in diesem die „Säulen“ der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien auf „neutralem Bo-den“ (Windmuller 1969: 64) zusammentrafen. Es wird geschätzt, daß von den 104 Gesetzesemp-fehlungen, die der Hohe Rat zwischen 1919 und 1939 abgab, 80 Prozent von der Regierung zum Teil oder sogar zur Gänze befolgt wurden (vgl. Windmuller 1969: 63-65). Auf dem Gebiet der Arbeitslosenpolitik konnte der Hohe Rat jedoch selten Empfehlungen ausarbeiten, weil der Kon-sens zwischen den Arbeitgebern und Gewerkschaften fehlte (vgl. Bekkum 1996b: 297). Mit der deutschen Besatzung stellte der Hohe Rat der Arbeit faktisch seine Arbeit ein, im Jahr 1950 wur-de er aufgelöst. An seine Stelle trat wur-der im selben Jahr durch das Gesetz über die Branchenorga-nisationen (‚wet op de bedrijfsorganisatie‘) geschaffene Sozialökonomische Rat (Sociaal Eco-nomische Raad, SER).

206 Das Ausmaß der Krise läßt sich auch daran ablesen, daß die Regierung während der Depression den Gewerkschaften verbot, Arbeitslose als Mitglieder aufzunehmen. Der NVV gründete darauf-hin lokale Gewerkschaften für Arbeitslose. Die beigetretenen Arbeitslosen mußten erklären, bei einer Wiederbeschäftigung Mitglied der Gewerkschaft zu werden (Windmuller 1969: 205, Fn.

38).

Mit der Krise bekamen sowohl bei den Protestanten als auch bei den Katholiken die-jenigen Stimmen Oberwasser, welche ein aktiveres Eintreten des Staates in der Sozi-alpolitik befürworteten. In den Wahljahren 1933 und 1937 räumten die Wahlpro-gramme aller Parteien der Institutionalisierung einer verpflichtenden Arbeitslosen-versicherung höchste Priorität ein (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 175-185).

Auch die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften begannen sich in den 1930er Jahren zu verbessern. Nachdem sich zunächst die protestantischen und katholischen Arbeitgeber und Gewerkschaften annäherten, kam es in den späten 1930er Jahren auch zu einer Verbesserung des Verhältnisses des NVV zu den Ar-beitgeberorganisationen (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 93). Hoefnagels (1974: 225) spricht davon, daß der „ökonomische Notzustand“ eine „Zusammenarbeit“ zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern bewirkte. Zwischen 1933 und 1939 fiel die Anzahl der Streiks so auch auf das niedrigste Niveau seit Beginn des 20. Jahrhun-derts (vgl. Windmuller 1969: 86). Die Entspannung machte zudem eine erste Regu-lierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen möglich: 1933 wurde das Branchenräte-gesetz (‚bedrijfsradenwet‘), 1937 das Gesetz über die Verbindlich- und Unverbind-licherklärung kollektiver Tarifverträge durch den Staat (‚wet op het algemeen

Auch die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften begannen sich in den 1930er Jahren zu verbessern. Nachdem sich zunächst die protestantischen und katholischen Arbeitgeber und Gewerkschaften annäherten, kam es in den späten 1930er Jahren auch zu einer Verbesserung des Verhältnisses des NVV zu den Ar-beitgeberorganisationen (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 93). Hoefnagels (1974: 225) spricht davon, daß der „ökonomische Notzustand“ eine „Zusammenarbeit“ zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern bewirkte. Zwischen 1933 und 1939 fiel die Anzahl der Streiks so auch auf das niedrigste Niveau seit Beginn des 20. Jahrhun-derts (vgl. Windmuller 1969: 86). Die Entspannung machte zudem eine erste Regu-lierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen möglich: 1933 wurde das Branchenräte-gesetz (‚bedrijfsradenwet‘), 1937 das Gesetz über die Verbindlich- und Unverbind-licherklärung kollektiver Tarifverträge durch den Staat (‚wet op het algemeen