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Arbeitsverwaltung und Institutionen

Wenn sich der Untersuchungsgegenstand - in meinem Fall: die Einbindung der Ge-werkschaften und Arbeitgeber in die Arbeitsverwaltung - nicht durch seine Funktio-nen verständlich machen läßt, bedarf es eines „aufgeklärten Institutionalismus“

(Scharpf 1985), der Funktion in Bezug zur Struktur und zum Prozeß setzt, der

„Struktur, Prozeß und Funktion ... in ihrer Wechselbezüglichkeit definiert und analy-siert“ (Scharpf 1985: 165) und der aufgeklärt ist, weil er Institutionen selbst in ihrem situativen Kontext betrachtet:

Institutionen sind für die Politik von Bedeutung, weil sie Handlungspotentiale und Handlungs-schranken darstellen. Aber in eben dieser Bedeutung sind Institutionen kontingente Phänome-ne, deren Eigenschaften sich überhaupt erst in der Konfrontation mit bestimmten politischen Handlungsabsichten, Strategien und Policies erschließen (Scharpf 1985: 167; meine Herv., CT).

Die Frage ist nun, wie sich die wahrgenommenen Interessen an der Arbeitsmarktpolitik in Abhängigkeit von sich ändernden Signalen, die die Allokationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt an die Akteure aussenden und die die Akteure verarbeiten, wandeln.

Interessen an der Arbeitsmarktpolitik werden im konkreten Kontext der Arbeits-marktallokation wahrgenommen. Dieser konkrete ökonomische und institutionelle Kontext setzt jedoch nicht unbedingt eine bestimmte Handlung in Gang. Vielmehr stehen zwischen Struktur, Prozeß und Funktion Machtverhältnisse sowie Strategien.

Die Interessendurchsetzung und die Interessenauseinandersetzung selbst sind also auch durch institutionelle und situative (Macht, Strategie) Bedingungen vermittelt.

Das Verhältnis von Institution und Interessen, von Institution und Akteur wird damit als ein wechselseitiges verstanden, als Bedingung und Bedingtsein zugleich. In einer dynamischen Perspektive ist die Geschichte öffentlicher Arbeitsverwaltungen als Geschichte von Institutionen- und Interessenwandel zu verstehen, was im folgenden

ersten Abschnitt expliziert wird. Dieser Institutionen- und Interessengeschichte der untersuchten Länder schließt sich eine - durch die Fälle angeleitete - Diskussion von solchen institutionalistischen Ansätzen an, die eine theoretische Verortung der Betei-ligung von Gewerkschaften und Arbeitgeber an staatlicher Politik anbieten und die bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Institutionen und Interessen unter-schiedliche Schwerpunkte setzen: der korporatistische Zugang, der die Bedeutung der Organisationskraft der Gewerkschaften und Arbeitgeber hervorhebt, die Regula-tionstheorie bzw. staatszentrierte Sichtweisen, die die Bedeutung von staatlichen Strategien (in Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren) betonen sowie institutiona-listische Ansätze des Lernens, die vergangene Erfahrungen der Akteure und Informa-tionsaustausch über Länder als Quelle der Handlungen von Akteuren betrachten.

Ziel ist es, anhand der ausgewählten Länder und anhand theoretischer Ansätze zu der spezifischen Form jenes „aufgeklärten Institutionalismus“ zu gelangen, der unserer Fragestellung angemessen ist und dem Gegenstand gerecht wird.

3.3.22..11 DDiiee IInnssttiittuuttiioonneennggeesscchhiicchhttee ööffffeennttlliicchheerr AArrbbeeiittssvveerrwwaallttuunnggeenn

In der folgenden Institutionen- und Interessengeschichte werden zwei Phasen unter-schieden. Die erste Phase thematisiert die formative Phase öffentlicher Arbeitsver-waltungen. Die zweite Phase skizziert die Politik öffentlicher Arbeitsverwaltungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute, wobei diese zweite Phase selbst wiederum in drei Perioden unterteilt wird.

3.2.1.1 Die formative Phase öffentlicher Arbeitsverwaltungen

In der Phase des Aufbaus öffentlicher Arbeitsverwaltungen, die für unsere drei Län-der auf die Zeit zwischen 1909 und 1949 zu datieren ist, ging es vorrangig um den Aufbau eines „freien“ Arbeitsmarktes durch Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenver-sicherung. Der sozio-ökonomische Hintergrund der formativen Phase öffentlicher Arbeitsverwaltungen (der Einrichtung öffentlicher Versicherungs- und Vermittlungs-systeme) ist Arbeitslosigkeit als periodisch wiederkehrendes Massenphänomen und das Aufkommen fluktuierender Beschäftigungsformen. Arbeitslosigkeit wurde in dieser Phase zu einem strukturellen Phänomen: Es trat eine Diskrepanz zwischen den Eigenschaften der Arbeitskräfte und den Anforderungen der Arbeitsplätze auf. Auf dem Arbeitsmarkt stellte sich das Problem des überregionalen Ausgleichs zwischen Angebot und Nachfrage, das Problem eines Mangels an Arbeit, das Problem der Un-stetigkeit von Beschäftigungsformen. Der Übergang zu einer gesamtgesellschaftlich dominanten kapitalistischen Wirtschaftsform bescherte die neue Erfahrung zeitlicher

Perioden des Arbeitskräftemangels und des Arbeitskräfteüberschusses, die Erfahrung einer regionalen und strukturellen Unter- oder Überbeschäftigung (vgl. hierzu Kumpmann 1923; Jastrow 1902). Man begann, diese strukturelle Arbeitslosigkeit von solcher zu unterscheiden, die saisonal oder konjunkturell bedingt war. Struktu-relle Arbeitslosigkeit wurde zum technologischen und industriellen Entwicklungs-stand der Ökonomie in Bezug gesetzt. Die Wahrnehmung der Dringlichkeit des Auf-baus einer öffentlichen Arbeitsverwaltung war damit in den einzelnen Ländern sehr stark vom Industrialisierungsstand der Ökonomie beeinflußt.

Dieser an sich offensichtliche Zusammenhang gewinnt in der folgenden Untersu-chung eine besondere Bedeutung, insofern die untersuchten Länder, betrachtet man wie in Tabelle 1 die Verteilung der Beschäftigten in den wichtigsten Wirtschaftssek-toren zwischen 1820 und 1950, höchst unterschiedliche Industrialisierungsverläufe aufweisen:

Tabelle 1: Anteil der Beschäftigten nach Wirtschaftszweigen in Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden (1820-1950)

Großbritannien Deutschland Niederlande

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

1820 37,6 n.v. n.v.

1870 22,7 49,5 37,0

1913 11,7 34,6 26,5

1950 5,1 22,2 13,9

Bergbau, Verarbeitende Industrie, Bauwirtschaft&Versorgung

1820 32,9 n.v. n.v.

1870 42,3 28,7 29,0

1913 44,1 41,1 33,8

1950 44,9 43,0 40,2

Dienstleistungen

1820 29,5 n.v. n.v.

1870 35,0 21,8 34,0

1913 44,2 24,3 39,7

1950 50,0 34,8 45,9

Quelle: Maddison 1995: 39; n.v. = Daten sind nicht verfügbar.

Im Vergleich zu Großbritannien sind Deutschland und die Niederlande Nachzügler in der Industrialisierung, wobei dieser Prozeß in den Niederlanden noch später als in Deutschland in voller Wucht einsetzte. Es wundert daher nicht, daß die öffentliche Arbeitsverwaltung in Großbritannien wesentlich früher eingerichtet wurde als in den Niederlanden und Deutschland. Während in Großbritannien bereits 1909 eine natio-nale Arbeitsvermittlung als Aufgabe des Zentralstaates geschaffen (‚Labour Exchan-ge Act‘) und im Jahre 1911 eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung (‚National Insurance Act‘) eingeführt wurde, kam es in Deutschland erst im Jahr 1927 zur Gründung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. In den Niederlanden wurden demgegenüber noch später, im Jahr 1930, ‚arbeidsbeurzen‘

(Arbeitsämter) eingerichtet, und damit die Arbeitsvermittlung als kommunale Pflichtaufgabe institutionalisiert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich im Jahr

1952, trat hier das Gesetz über eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung in Kraft.

Die unterschiedlichen Industrialisierungsverläufe erklären die relativen Zeitabstände zwischen den Institutionalisierungsprozessen zum Teil, nicht aber ihre spezifische Form. Denn die beiden Nachzügler gingen bei der Institutionalisierung klar unter-scheidbare Wege (vgl. Teil II). Die Gründung öffentlicher Arbeitsverwaltungen hatte somit nicht nur den durch die Industrialisierung vorangetriebenen strukturellen Wan-del auf dem Arbeitsmarkt zur Voraussetzung. Der konkrete historische Kontext, in den die formative Phase eingebettet war, wurde auch durch „alte“ Formen der öffent-lichen und privaten Intervention in den Arbeitsmarkt bestimmt: durch „alte“ Institu-tionen. Zu nennen sind hier das staatliche, kirchliche und private Armenwesen auf der einen Seite und private, kommunale, gewerkschaftsnahe oder arbeitgeberorien-tierte Arbeitsvermittlungsorganisationen sowie gewerkschaftliche oder kommunale Unterstützungskassen für Arbeitslose auf der anderen Seite.

Aufgrund dieser „alten“ Institutionen ist die Gründung öffentlicher Arbeitsverwal-tungen, d.h. der Aufbau einer Arbeitsvermittlung als Aufgabe des Zentralstaates und die Einführung einer verpflichtenden staatlichen Arbeitslosenversicherung, nicht nur Antwort auf die sozialen Konsequenzen der Entwicklung (kapitalistischer) Arbeits-märkte, sondern auch Ausdruck eines grundlegenden Bruches in der politischen, öf-fentlichen und gesellschaftlichen Wahrnehmung von Arbeitslosigkeit. Die formative Phase öffentlicher Arbeitsverwaltungen bedeutet einen Bruch mit „alten“ Institutio-nen: Der „vormoderne“ Umgang mit der Arbeitslosigkeit, den die Institutionen des Armenrechts oder die Institutionen partikularer Bewältigungs- und Interventionsfor-men (z.B. Gewerkschaftskassen, Arbeitsnachweise der Gewerkschaften und Arbeit-geber) verkörperten, mußte vom Nationalstaat, der in einer nationalen Ökonomie die Quelle seiner Machtentfaltung und seiner nationalen Effizienz erblickte, überwunden werden. Diese Überwindung ging mit Monopolisierungstendenzen einher. Der Staat errichtete ein öffentliches Monopol auf Arbeitsvermittlung.

Vor dieser Überwindung mußte der Blick dafür geschärft werden, daß die „alten“ In-stitutionen für die Problembewältigung nicht mehr ausreichend waren. Will der Staat eine öffentliche Arbeitsverwaltung aufbauen, durch die er die Allokation auf dem Arbeitsmarkt als Gegenstand nationaler Politik betrachtet, so muß er sich über die paternalistische Tradition der Armenpflege hinwegsetzen, welche Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Übel und individuelle Verworfenheit betrachtete. Er mußte Ar-beitslosigkeit vom Individuum lösen und als gesellschaftliche Erscheinung akzeptie-ren (vgl. hierzu auch Leibfried 1977: 297). Deutlich bringt der Verwaltungswissen-schaftler Ignaz Jastrow einen Wesensunterschied zwischen Armenpflege und Ar-beitsnachweis zum Ausdruck, wenn er schreibt:

Die Armenpflege ist fast überall das Mutter-Ressort des Arbeitsnachweises gewesen ... [Aber es] zeigte sich, daß die Armenpflege mit der Arbeitsvermittlung ein Gebiet betreten hatte, auf dem sich ihre gewöhnlichen Grundsätze nicht durchführen ließen ... Mit der Arbeitsvermittlung aber trat, wie der Name sagt, die Verwaltung in die Mitte zwischen diesem bisher von ihr ver-sorgten Mikrokosmos und der großen Außenwelt der Besitzenden und Erwerbenden. Auf deren Verhältnisse paßte die Beschränkung auf das Notdürftigste ganz und gar nicht. Da aber jede Vermittlungstätigkeit zur Voraussetzung hat, daß sie beiden Zielen entspricht, so bedeutet hier die Begrenzung auf das Notdürftigste geradezu die Unmöglichkeit der Ausführung. Wo daher der Arbeitsnachweis sich aus der Armenpflege entwickelt hat, hat er sich im Gegensatz zu ihr entwickelt (Jastrow 1902: 181-182; Herv. durch Jastrow).

Gewerkschaften und Arbeitgeber, die danach strebten, beim Aufbau öffentlicher Ar-beitsverwaltungen mit ihren Interessen berücksichtigt zu werden, mußten ihr Regula-tionsbedürfnis in einem gesamtwirtschaftlichen Sinne definieren.

Für unseren Vergleich zwischen den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland wird nun relevant, daß dieser Bruch auf der Grundlage eines unterschiedlichen Ent-wicklungsstandes der „alten“ arbeitsmarktpolitischen Institutionen und des Armen-wesens erfolgte.

So bauten die niederländischen und britischen Gewerkschaften und Arbeitgeber im Vergleich zu den deutschen nur in einem relativ beschränkten Ausmaß eigene Ar-beitsnachweise auf. Während die deutschen Gewerkschaften und Arbeitgeber zur Kaiserzeit die Vielzahl von eigenen Arbeitsnachweisen als Instrument der klassenpo-litischen Einflußnahme nutzten, zeigten die niederländischen und britischen Gewerk-schaften und Arbeitgeber an „eigenen“ Arbeitsnachweisen nur ein sehr geringes In-teresse. Während die deutschen Gewerkschaften ihre eigenen Kassen zum Schutz gegen Arbeitslosigkeit weit vor der Institutionalisierung der öffentlichen Arbeitsver-waltung im Jahre 1927 aufgaben, weil sie diese als „revisionistisch“ betrachteten, hielten die niederländischen und britischen Gewerkschaften gerade während dieses Institutionalisierungsprozesses an ihren eigenen Kassen fest: die britischen Gewerk-schaften, weil sie sich als Facharbeitergewerkschaften (‚craft unions‘) verstanden, als ökonomische Interessenvertretung der qualifizierten Arbeiter (‚skilled workers‘); die niederländischen, weil ihre Gründung dem in der Gesellschaft vorhandenen religi-ösen Pluralismus („Versäulung“) gefolgt war, und sie der wirtschaftlichen und welt-anschaulichen Interessenvertretung ihrer Mitglieder mehr Bedeutung beimaßen als einer Programmatik, die den ökonomisch-politischen Konsequenzen der Industriali-sierung entsprochen hätte (vgl. Teil II).

Auch das Armenwesen weist in den drei betrachteten Ländern eine unterschiedliche Tradition auf: Während das niederländische Armenwesen bis ins 20. Jahrhundert durch eine Dominanz privater und konfessioneller Einrichtungen und einen Nach-rang der staatlichen Armenpflege charakterisiert ist und Bestrebungen liberaler und sozialistischer Kräfte, die staatliche Armenpflege auszuweiten, immer wieder am

Widerstand der katholischen und protestantischen Gruppen scheiterten (vgl. Valk 1986: 9-28), dominierte in England die staatliche Armenpflege. Während Deutsch-land (außer Bayern) und die NiederDeutsch-lande - beide Nachzügler in der Industrialisierung - bereits 1870 das Heimatprinzip im Armenrecht aufhoben und durch das Aufent-haltsprinzip ersetzten, wurde das Heimatprinzip des englischen Armenrechtes - dem Wesen nach - erst mit dem Aufbau der öffentlichen Arbeitsämter (‚labour ex-changes‘) im Jahre 1909 aufgegeben (vgl. Aschrott 1909; Falkenburg 1909; Krech 1909).

Diese Unterschiede sind ein Indiz dafür, daß die institutionellen Anknüpfungspunkte beim Aufbau der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in unseren drei Ländern sehr ver-schieden gewesen sind. Dies ist von Bedeutung, weil die „alten“ Institutionen auf die Allokation des Arbeitsmarktes Einfluß hatten und damit auch auf den Prozeß des Übergangs von den „alten“ Institutionen zur „modernen“ Institution Arbeitsverwal-tung.

Das deutsche und das niederländische Armenwesen waren durch die Auflockerung des Heimatprinzips, das als Unterstützungsgemeinde den Heimat- und nicht den Aufenthaltsort festlegte, und damit die Mobilität der Armen und Arbeitslosen behin-derte, zu einem früheren Zeitpunkt als England „kapitalfördernd“16, im Sinne einer Verflüssigung des Arbeitsmarktes, einer Mobilitätsförderung statt deren Verhinde-rung. Das niederländische und deutsche Armenrecht behinderten somit im Moment der Institutionalisierung der öffentlichen Arbeitsverwaltungen weit weniger die Freizügigkeit der Arbeitskräfte als das englische.17

Auch die Tradition der gesellschaftlichen Arbeitsmarktpolitiken berührte die Freizü-gigkeit. Denn Gewerkschaftskassen und Nachweise kontingierten das Arbeitsange-bot, indem sie nur bestimmten Arbeitern offen standen, nämlich solchen, die Mit-glieder der Gewerkschaften waren.18

16 Sachße/Tennstedt (1980: 198) bezeichnen die Auflockerung des Heimatprinzips in der deutschen Armenpolitik als „kapitalfördernd“.

17 Zumindest dem Wesen nach behinderte das englische Armenrecht die Freizügigkeit mehr. In-wieweit die Freizügigkeit durch das Armenrecht auch objektiv behindert wurde, kann freilich im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Zur weiteren Diskussion vgl. auch Kapitel 7.

18 Diese Bedeutung der gewerkschaftlichen Arbeitsmarktpolitik bringt der Marxist Bruno Hilfer-ding deutlich zum Ausdruck: „Die Arbeitslosen müssen vom Arbeitsmarkt zurückgehalten wer-den, wie etwa das Kartell, wenn schon einmal die Produktion das den Kartellzwecken entspre-chende Angebot überschreitet, durch Lagerungskosten der Produkte den Markt vor Überfüllung schützt. Den Lagerungskosten entsprechen die Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften, die hier aber von viel größerer Bedeutung sind, da sie das einzige Mittel sind, das Angebot in Schranken zu halten, während das Kartell das viel wirksamere Mittel der Produktionseinschrän-kung besitzt.“ (Hilferding 1920: 481)

Der Kontext der Arbeitsmarktallokation der ersten Phase läßt sich in unseren drei Ländern somit mit unterschiedlichen Industrialisierungsverläufen und mit unter-schiedlichen Traditionen der „alten“ Interventionsformen charakterisieren. Bereits in den Institutionen des Armenrechts wie auch in den Organisationsformen der gesell-schaftlichen Arbeitsmarktpolitiken wurde von den Akteuren das Interesse an der Ar-beitsmarktpolitik unterschiedlich wahrgenommen. Dies hatte auch auf den Institutio-nalisierungsprozeß der öffentlichen Arbeitsverwaltungen Auswirkungen (vgl. Teil II). So ist für das Verständnis der Entstehung der britischen Arbeitsverwaltung ein Blick auf das Armenrecht notwendig. Der Entstehungsprozeß der deutschen Arbeits-verwaltung wurde nicht unwesentlich durch die umfangreiche Tradition der eigenen Arbeitsmarktpolitiken der Gewerkschaften und Arbeitgeber zur Kaiserzeit beein-flußt. Auch der Konflikt zwischen katholischer bzw. protestantischer und liberaler bzw. sozialistischer Sichtweise in der Behandlung der sozialen Frage, wie er sich im niederländischen Armenwesen zeigte, findet sich im Institutionalisierungsprozeß der niederländischen öffentlichen Arbeitsverwaltung wieder.

Nicht nur die formativen Phasen, sondern auch der Wandel der öffentlichen Arbeits-verwaltungen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt an, daß der konkrete Kontext der Arbeitsmarktallokation Einfluß auf die Aktualisierung arbeitsmarktpolitischer Inter-essen hat. Im folgenden soll dies anhand des Wandels der Ausrichtung öffentlicher Arbeitsverwaltungen näher dargelegt werden.

3.2.1.2 Die öffentliche Arbeitsverwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg

Sind in der formativen Phase die Arbeitsvermittlung und die Einkommenssicherung die Kernaufgaben öffentlicher Arbeitsverwaltungen, so wächst die Politik öffentli-cher Arbeitsverwaltungen nach dem Zweiten Weltkrieg darüber hinaus. Hier lassen sich verschiedene Ausprägungen feststellen. Unterscheiden läßt sich eine erste Phase planvoller und korporativer Intervention (1964-1973/74), eine zweite Phase kurativer Arbeitsmarktpolitik in den 1980er Jahren und eine dritte Phase befähigender Ar-beitsmarktpolitik in den 1990er Jahren. Diese Unterteilung macht nicht nur deutlich, daß der Interventionsgegenstand selbst, die Allokation auf dem Arbeitsmarkt, Wand-lungsprozessen unterliegt und dies unterschiedliche Wahrnehmungen des arbeits-marktpolitischen Interesses zur Folge hat. Es kann auch gezeigt werden, daß die Ak-teure in den betrachteten Ländern - trotz ähnlicher Herausforderungen - ihr Interesse an der Arbeitsmarktpolitik in den verschiedenen Phasen unterschiedlich wahrnah-men.

Die Phase planvoller und korporativer Intervention begann mit dem Jahr 1964 und endete mit der Rezession durch die erste Ölkrise 1973/74. Man erkannte zum ersten Mal nach dem Ende der Nachkriegsprosperität, die von Vollbeschäftigung geprägt war und die wir hier übersprungen haben, Strukturprobleme. Das Problem „Arbeits-markt“ wurde neu definiert. Mit den ersten Einbrüchen in der Vollbeschäftigung entwarf und empfahl die OECD - angeregt durch die schwedische Praxis - das Kon-zept der aktiven Arbeitsmarktpolitik (1964 wurde hierzu eine Empfehlung der OECD veröffentlicht; vgl. OECD 1964). Kern der neuen Politik war die Förderung der be-ruflichen und regionalen Mobilität (vgl. hierzu Schmid 1976). Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Nachkriegsprosperität und des hohen Beschäftigungsstandes ging man von einem Mangel an Arbeitskräften aus. Man vermutete wachstumshemmende Qualifikations- und Mobilitätsengpässe. Arbeitsmarktpolitik sollte solche Engpässe verhüten. Planvolle und korporative Intervention sollte ökonomischen Krisen begeg-nen.

In dieser Phase planvoller und korporativer Arbeitsmarktpolitik wurde in Deutsch-land das Arbeitsförderungsgesetzes (AFG, 1969) verabschiedet, das einen Anspruch auf berufliche Weiterbildung institutionalisierte und die Arbeitnehmer und Arbeitge-ber zur Finanzierung dieser Maßnahmen verpflichtete (vgl. Kapitel 20). In Großbri-tannien wurden durch die Gründung der ‚Manpower Services Commission‘ (MSC, 1973) die Gewerkschaften und Arbeitgeber an der Arbeitsverwaltung beteiligt (vgl.

Kapitel 10), während in den Niederlanden Bemühungen der Gewerkschaften, den Ansatz einer korporativen und aktiven Arbeitsmarktpolitik aufzugreifen, scheiterten (vgl. Kapitel 14).

Im Zentrum der Phase der kurativen Arbeitsmarktpolitik (1980er Jahre) stand die durch die beiden Ölkrisen ausgelöste Beschäftigungskrise der westlichen Industrie-staaten. In dieser Phase wich die Vollbeschäftigungsökonomie der Ökonomie der Massenarbeitslosigkeit. Der vorausschauende, vorbeugend gestalterische Ansatz, der aus der Erfahrung der 1960er Jahre ein Konzept der aktiven Arbeitsmarktpolitik empfahl, wurde in den 1980er Jahren immer mehr beiseite gelegt. Vor dem Hinter-grund der massenhaften Aussteuerung aus dem Arbeitsmarkt gewannen in den 1980er Jahren passive Instrumente und Maßnahmen der Reduzierung des Arbeitsan-gebots (Frühverrentung) eine überragende Bedeutung. Andererseits wurde auch akti-ve Arbeitsmarktpolitik (Weiterbildung, Arbeitsbeschaffung) betrieben. Aber eben nicht mehr mit dem Ziel, den Strukturwandel zu fördern, sondern um die Sozialkas-sen zu entlasten, indem Arbeitslose zur Teilnahme an Maßnahmen verpflichtet wer-den. Es änderte sich somit die Zielgröße der Arbeitsmarktpolitik.

Auch in dieser Phase agierten die Arbeitsverwaltungen in den betrachteten Ländern, jedoch - wie in der Phase der planvollen und korporativen Arbeitsmarktpolitik - trotz ähnlicher Herausforderungen nicht entlang einer einheitlichen Linie.

In Deutschland wurden Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach dem AFG abgebaut und erlitt die Aufstiegsfortbildung gegenüber der Anpassungsfortbildung einen Bedeutungsverlust. Nicht mehr Aufstiegsmobilität, wie durch die Aufstiegs-fortbildung, sollte gefördert werden, sondern nur noch „Mobilität“ (vgl. Kapitel 22).

Das Konzept einer umfassenden Gestaltung des Arbeitsmarktes war von den Um-ständen überholt worden, bevor es recht zum Tragen kommen konnte. In Großbritan-nien erlebte die ‚Manpower Services Commission‘ demgegenüber zu Beginn der 1980er Jahre ihre „Blüte“. Sie wurde zum wichtigen Implementationsträger arbeits-marktpolitischer Programme für Jugendliche. Ende der 1980er Jahre - nachdem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit von der Regierung als überwunden geglaubt wurde - trennten sich die Konservativen von der MSC: Der Korporatismus wurde wieder abgeschafft (vgl. Kapitel 12). Diesem Niedergang des Korporatismus in Großbritannien stehen in den Niederlanden die Korporatisierung der Arbeitsverwal-tung, die Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik und die Implementation ar-beitsmarktpolitischer Maßnahmen auf der Ebene der Branchen durch die Tarifpartner (sektorale oder tarifliche Arbeitsmarktpolitik) gegenüber (vgl. Kapitel 15 und 16).

Seit den 1990er Jahren befinden wir uns in einer Phase befähigender Arbeitsmarktpolitik. Arbeitsmarktpolitik wird zur aktivierenden Sozialpolitik. Der Grund dafür liegt darin, daß kurative Arbeitsmarktpolitik vor allem für Sozialversicherungssysteme zu teuer wurde. Länder, wie die Niederlande und Deutschland, bemühen sich zur Zeit intensiv um die Gestaltung einer Aktivierung der Sozialpolitik (in Deutschland: Reform des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), in den Niederlanden: Verzahnung von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik durch die Gründung von Zentren für Arbeit und Einkommen, CWI). Bei dieser Aktivierung der Sozialpolitik durch Arbeitsmarktpolitik gewinnen einerseits dezentrale Formen der Intervention wieder an Bedeutung. Dadurch wird die Position der Arbeitsverwaltung durch neue (alte) dezentrale Substitute für zentrale Problemlösungen, wie z.B. durch eine kommunale Arbeitsmarktpolitik, gefährdet. Andererseits ändert sich wiederum die Zielgröße der aktiven Arbeitsmarktpolitik: Nicht mehr „nur“ Arbeitslose oder Arbeitsuchende stellen die Zielgruppe der Maßnahmen dar, sondern im zunehmenden Maße alle Empfänger von Transferleistungen.

In dieser Phase der „befähigenden“ Arbeitsmarktpolitik durchlebt die

In dieser Phase der „befähigenden“ Arbeitsmarktpolitik durchlebt die