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Die Subventionierung der Gewerkschaftskassen

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

8.4 Die Subventionierung der Gewerkschaftskassen

Mit dem Ersten Weltkrieg verschärften sich in den Niederlanden in einem besonde-ren Maße die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, und schienen die traditionellen Schutzsysteme (wie die Gewerkschaftskassen und die kommunale Armenfürsorge) diesem Problemdruck immer weniger gewachsen zu sein.183

Nachdem im ersten Kriegsjahr die Arbeitslosigkeit um 176 Prozent anstieg (Kort 1940: 251), wurden die gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen und damit auch die Gewerkschaften an den Rand des Bankrotts gedrängt. Einen Einblick in die Bedro-hung der Gewerkschaften durch die Arbeitslosigkeit geben Statistiken des NVV.

Beim ‚Algemene Nederlandse Diamantbewerkersbond‘ (ANDB) und im textilverar-beitendem Gewerbe, und somit in denjenigen Wirtschaftsbereichen, die zu jener Zeit als wichtige Zugpferde der Industrialisierung galten, waren zum 1. September 1914 ca. 96 Prozent bzw. ca. 78 Prozent der Mitglieder arbeitslos (vgl. Jong 1956: 126).

Wollte der Staat die Gewerkschaften nicht als künftige politische Akteure und Kom-promißpartner verlieren, mußte er ihrem Ruf nach einer staatlichen Unterstützung ih-rer Kassen folgen.

182 Mit dem Ersten Weltkrieg waren in der Öffentlichkeit - nicht bei den Gewerkschaften! - Rufe nach einer Pflichtversicherung zur Absicherung bei Arbeitslosigkeit deutlich vernehmbar und hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß erwerbsfähige Arbeitslose nicht in das Versorgungs-system des Armenrechts gehören (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 176-178).

183 Aufgrund der britischen Seeblockade 1914 mußten die Niederlande ihren Außenhandel zum gro-ßen Teil einstellen, was die Ökonomie aufgrund ihrer Augro-ßenorientierung empfindlich traf. Zu den ökonomischen Folgen des Ersten Weltkrieges vgl. Brugmans 1969: 432-449.

Gerade für den NVV und die ihm angeschlossenen Einzelgewerkschaften bedeuteten

„starke Kassen“ eine „starke Verhandlungsposition“ (Jong 1956: 56). So forderte der NVV auf einer Konferenz im Jahre 1914 das Reich auf, die Kassen anzuerkennen und sie finanziell zu unterstützen:

[N]achdrücklich sollte festgestellt werden, ... daß wir die Arbeitslosenversicherung als ein ei-genes Instrument der Organisationen betrachten und eine essentielle Pflicht der Gemeinschaft erkennen, daß diese die Versicherung subventioniert (zit. nach Jong 1956: 100; meine Überset-zung, CT).

Mit der Notstandsregelung von Minister Treub (‚Noodregeling-Treub‘, 1914)184 unter der liberalen Regierung Cort van der Linden (1913-1918) wurde diesem Ruf entspro-chen. Mit ihr, die auf eine Initiative des NVV zurückging, begann aber nicht nur ein neues Kapitel in der Geschichte der niederländischen Arbeitslosenpolitik, sondern auch in der der Gewerkschaften. Durch die ‚Noodregeling-Treub‘ wurden den Ge-werkschaftskassen öffentliche Zuschüsse seitens der Kommunen zugewiesen. Der Staat hat dadurch die Gewerkschaften nicht nur vor dem finanziellen Kollaps be-wahrt (vgl. Rigter et al. 1995: 25), sondern sie erstmals auch als politische Organisa-tion der Arbeiter anerkannt und sie in dieser FunkOrganisa-tion politisch und strukturell ge-stärkt (vgl. Jong 1956: 127; Windmuller 1969: 42-43).185

Durch den Arbeitslosigkeitsbeschluß (‚werkloosheidsbesluit‘) von 1917186 übernahm der Staat endgültig die Finanzierung der gewerkschaftlichen Unterstützungskassen, und zwar zu 100 Prozent. Das Reich und die Kommunen trugen die Kosten, die Aus-führung blieb in den Händen der Gewerkschaften (vgl. Bekkum 1996b: 256). Eine weitere Unterstützung der Kassen erfolgte schließlich durch das Arbeitslosenversi-cherungsnotgesetz (‚werkloosheidsverzekeringsnoodwet‘) von 1919. Dieses Gesetz verlängerte die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes der Kassen von sechs Wochen auf drei Monate (vgl. Rigter et al. 1995: 114).

In den Niederlanden war somit bis zur Einführung der verpflichtenden Arbeitslosen-versicherung im Jahr 1952 nur derjenige versichert, der auch Gewerkschaftsmitglied war. Dies bescherte den Gewerkschaften in der Zwischenkriegszeit einen beachtli-chen Zulauf an Mitgliedern (vgl. Windmuller 1969: 205; Nijhof/Schrage 1984). Die staatliche Subventionierung der Kassen trug zu einer Ausbreitung und Zentralisie-rung der Gewerkschaftskassen187 und damit auch der Gewerkschaften selbst bei. Der Anteil der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung, welcher über die Kassen gegen

184 Die ‚Noodregeling-Treub‘ ist abgedruckt in: Proosdij 1970: Beilage 1, Nr. 6 und 12.

185 Nijhof/Schrage (1984: 279) vermuten, daß durch die staatliche Anerkennung und die Subventio-nierung der Gewerkschaftskassen ein wesentlicher Schritt für die nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Rolle der Gewerkschaften in der Ausführung der Sozialversicherung getan wurde.

186 Staatsblad no. 522, 1916; der ‚werkloosheidsbesluit‘ ist abgedruckt in: Morren 1935: 188-299.

187 Hatten 1913 nur 26 Gewerkschaften einen zentralen Fond für die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, so waren es 1917 bereits 51 (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 85-86).

beitslosigkeit versichert war, stieg in den Jahren zwischen 1909 und 1929 um 19 Prozent (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 87). Waren 1905 etwa 15.000 Arbeiter über die Kassen gegen Arbeitslosigkeit versichert, so stieg die Zahl der Versicherten 1913 auf 78.000 (vgl. Schrage/Nijhof 1992: 36). Im Zuge dieser Ausbreitung wurden insbe-sondere von den an den NVV angeschlossenen Gewerkschaften andere Unterstüt-zungssysteme, wie die Kranken- oder Rentenleistungen, aufgegeben (vgl. Genabeek 1990: 7).

Die Arbeitslosenkassen bildeten so spätestens seit der Einführung der staatlichen Un-terstützung ein Teil der Identität der Gewerkschaften. Dies war, wie bereits ange-sprochen, nicht nur bei der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung der Fall, sondern auch bei der konfessionellen. So hob H. Amelink, Vordenker des protestantischen CNV und von 1931 bis 1941 Abgeordneter für die protestantische ‚Anti-Revolutionaire Partij‘ (ARP) in der Zweiten Kammer, in einer Schrift über die “mo-derne protestantische Gewerkschaftsbewegung“ im Jahr 1914 hervor, daß im Gegen-satz zu den gewerkschaftlichen Unterstützungsleistungen bei Krankheit oder Tod, die Verwaltung der Arbeitslosenkassen in der Hand der Gewerkschaften bleiben müsse:

Dennoch glauben wir, daß, wenn die Sozialleistungen bei Krankheit, Tod usw. genauso gut auf andere Weise unterstützt werden können, es für die Gewerkschaften gut ist, diese Soziallei-stungen abzugeben. Die SozialleiSoziallei-stungen im Falle Arbeitslosigkeit sind anders zu handhaben.

Diese Sozialleistungen sollten in den Händen der Gewerkschaften bleiben. Dies ist auch für die Gewerkschaften sehr wichtig. Die Gefahr ist ja groß, daß ein Arbeitsloser seine Arbeitskraft für einen niedrigeren Lohn als den jetzt gültigen Lohn anbietet. Es wird deutlich sein, daß hier-durch die Gewerkschaftsarbeit gefährdet ist. Auch kann niemand besser als die Gewerkschaf-ten die Arbeitslosen kontrollieren. Deshalb würden wir bei einer möglichen gesetzlichen Rege-lung der Arbeitslosenversicherung gerne den Weg beschreiten wollen, diese Sozialleistung den Gewerkschaften aufzutragen (Amelink 1914; zit. nach Peet et al. 1991: 221-222; meine Herv.

und meine Übersetzung, CT).

Die Kassen hatten für die Gewerkschaften eine hohe strategische Bedeutung. Man wollte mit ihnen den Lohndruck mildern, den die Arbeitslosigkeit verursachte. Wie bei den englischen ‚trade unions’ waren die Kassen auch ein Instrument der Gewerk-schaften, um sich gegen die „unorganisierten“ Arbeiter abzugrenzen (vgl. hierzu auch Nijhof/Schrage 1984: 268-269). Überspitzt faßte die ‚Nederlandse Vereeniging van Fabriekarbeiders‘ diese „trade-unionistische“ Position im Jahr 1929 folgender-maßen zusammen: „Nicht die Patrone sind unsere größten Feinde, sondern die unor-ganisierten Arbeiter.“ (zit. nach Nijhof/Schrage 1984: 269; meine Übersetzung, CT) Für sich betrachtet, überrascht eine derartige Haltung wenig. Die Verteidigung der Kassen als Mittel der Abgrenzung gegenüber unorganisierten Arbeitern und die Stär-kung der niederländischen Gewerkschaften in der Zwischenkriegszeit aufgrund der Kassen beeinflußten jedoch die Position der Gewerkschaften hinsichtlich einer ver-pflichtenden Arbeitslosenversicherung. Denn wegen der Kassen wehrten sich die niederländischen Gewerkschaften bis Mitte der 1930er Jahre gegen die Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 94). Im Vergleich zur Position der deutschen Gewerkschaften, die mit Beginn des Ersten

Weltkrieges das Genter System, und damit eine freiwillige Versicherung über die Kassen der Gewerkschaften, explizit ablehnten, treten so erhebliche Differenzen auf.

Es waren auch die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges, welche dazu führten, daß das Reich damit begann, die Organisation der Arbeitsvermittlung zu regulieren. So wurde 1914 ein Zentrales Reichsarbeitsamt (‚Centrale Rijksarbeidsbeurs‘) gegründet, das 1916 zusammen mit dem bereits 1914 eingerichteten Zentralen Arbeitslosig-keitsversicherungsfond in einen Reichsdienst für Arbeitslosenversicherung und Ar-beitsvermittlung (‚Rijksdienst der Werkloosheidsverzekering en Arbeidsbemidde-ling‘) überführt wurde. Im Jahr 1917 wurde diesem Reichsdienst eine mit Vertretern der Arbeitgeber und Gewerkschaften besetzte Zentrale Unterstützungskommission (‚Centrale Commissie van Bijstand‘) beigestellt. Auf die weitere Entwicklung auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung konnte dieses beratende Gremium aber nur einen geringen Einfluß ausüben (vgl. Bekkum 1996b: 255, 261). Der Sozialist W. Drees (‚Sociaal Democratische Arbeiderspartij‘, SDAP188), der in den 1930er Jahren Vor-sitzender der Kommission war, führte die geringe Bedeutung der Kommission darauf zurück, daß „die öffentliche Arbeitsvermittlung kommunale Einrichtungen waren und das Reich diese nicht beaufsichtigte“ (Drees; zit. nach Bekkum 1996b: 589).

Neben der Subventionierung der Gewerkschaftskassen und dem Reichsdienst für Ar-beitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung richtete der Zentralstaat 1914 mit dem Königlichen Nationalen Unterstützungskomitee (‚Koninklijke National Steun Comité‘, KNSC) ein Fürsorgesystem für Erwerbslose ein (die sogenannte ‚steunrege-ling‘, Unterstützungsregelung). Über das KNSC, deren Vorsitzender der Liberale Treub wurde, wurden sofort in mehreren Städten lokale Unterstützungskomitees er-richtet. Die ‚steunregeling‘ gewährte Erwerbslosen eine Fürsorge. Die ‚steunrege-ling‘ und die staatliche Unterstützung der Gewerkschaftskassen, beides als pragmati-sche Notlösung im Zuge der Kriegswirren entstanden, bildeten nun bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die beiden zentralen Pfeiler der öffentlichen Arbeitsmarktpoli-tik (vgl. Rooy 1978: 23, 29-34).

Während nun der Erste Weltkrieg dafür sorgte, daß der Zentralstaat, das Reich, das Feld der Arbeitsmarktpolitik überhaupt betrat, bewirkten die politischen Machtver-hältnisse und die ökonomischen Unsicherheiten der nächsten zwanzig Jahre, daß sich die Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenversicherung in den Niederlanden ge-trennt und - organisatorisch betrachtet - gegenläufig entwickelten. Die öffentliche Arbeitsvermittlung blieb bis Ende der 1930er Jahre eine Einrichtung der Kommunen und wurde dann auf Reichsebene gehoben. Die Grundlage der Arbeitslosenversiche-rung waren bis zur EinfühArbeitslosenversiche-rung der Branchenvereinigungen dagegen die Kassen der Gewerkschaften. In gewisser Hinsicht stehen diese institutionelle Trennung wie auch die gegensätzlichen Organisationsformen beider Aufgaben mit der „Versäulung“ und

188 Die SDAP wurde 1894 gegründet und ging 1946 in die PvdA (‚Partij van de Arbeid‘) über.

der Dominanz der konfessionellen „Säulen“ in der Zwischenkriegszeit in einem Zu-sammenhang. Im folgenden sollen daher zunächst die gesellschaftspolitischen Auf-fassungen der einzelnen „Säulen“ und die Folgen der konfessionellen Hegemonie skizziert werden.