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Arbeitsverwaltung und Interessen

Was begründet das besondere gesellschaftliche interessenpolitische Potential der Ar-beitsmarktpolitik und warum greift ein interessentheoretischer Ansatz für das Ver-ständnis der Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern an öffentlichen Ar-beitsverwaltungen zu kurz? Um diese Fragen zu klären, werden zunächst die Aufga-ben öffentlicher Arbeitsverwaltungen sowie ihr Bezug zu den Interessen der Ge-werkschaften und Arbeitgeber dargestellt.

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Mit dem Aufbau öffentlicher Arbeitsverwaltungen machte der Staat Arbeitsmarktpo-litik zum ersten Mal systematisch und umfassend zum Gegenstand seiner PoArbeitsmarktpo-litik.

Das wesentliche Motiv der Gründung öffentlicher Arbeitsverwaltungen bestand dar-in, durch Arbeitsvermittlung (in der älteren deutschen Terminologie „Arbeits-nachweis“) die freie Vermarktung der Arbeitskraft zu ermöglichen. Zugleich ging es um eine elementare Einkommenssicherung (Arbeitsbeschaffung, Arbeitslosenversi-cherung, Arbeitslosenfürsorge), um ökonomisch dysfunktionale Auswirkungen wie Vernichtung des Arbeitsvermögens durch Abgleiten in den Pauperismus und durch vorübergehende Arbeitslosigkeit zu verhindern.8

Der Staat übernahm im Interesse der Entwicklung der Volkswirtschaft Verantwor-tung für einen nationalen Arbeitsmarkt. Die Kernaufgaben öffentlicher Arbeitsver-waltungen - Arbeitsvermittlung und Einkommenssicherung - sind Ausdruck eines Bedürfnisses des Staates, die Allokation auf dem Arbeitsmarkt zu regulieren. Sie dienen der Überbrückung und der Vorbeugung von Phasen der Arbeitslosigkeit und haben explizit zum Ziel, die „freie“ Verfügbarkeit des Faktors Arbeit zu beeinflus-sen.

Betrachten wir im folgenden die öffentliche Arbeitsverwaltung als institutio-nalisierten Ausdruck eines staatlichen Regulationsbedürfnisses und nehmen wir dies als gegeben an, so stellt sich die Frage, wie sich die Gewerkschaften und Arbeitgeber zu diesem Bedürfnis und damit auch zu den Funktionen und Aufgaben öffentlicher Arbeitsverwaltungen positionieren.

8 Dies ist ein engeres Verständnis von Arbeitsmarktpolitik. Im weiteren Sinne faßt man dagegen unter staatlicher Arbeitsmarktpolitik alle politische Maßnahmen, Einrichtungen und Regelungen, die den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen sollen.

In diesem Verständnis fallen auch Maßnahmen der Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Beschäfti-gungspolitik, Ausländerpolitik, Bildungspolitik oder Gesundheitspolitik - um nur einige zu nen-nen - unter den Begriff der staatlichen Arbeitsmarktpolitik (vgl. Mertens/Kühl 1977).

In der eben beschriebenen Form erfüllt Arbeitsmarktpolitik zwei Funktionen: erstens eine kompensatorische Funktion (passive Arbeitsmarktpolitik), nämlich den Aufbau einer zur Lohnarbeit komplementären und auf sie gerichteten Einkommenssicherung durch Lohn- oder Arbeitsersatz, die den Status der abhängig Beschäftigten als Ar-beitskräfteträger in Phasen von Nichtbeschäftigung erhält; zweitens eine Anpas-sungsfunktion (aktive Arbeitsmarktpolitik), die „Verflüssigung“ des Arbeitsmarktes durch eine Regulierung des Marktaustausches in regionaler und beruflicher Perspek-tive mittels Arbeitsvermittlung.9 Die Anpassungsfunktion unterscheidet sich somit von der kompensatorischen durch den Gedanken, mit Arbeitsmarktpolitik nicht nur die Subsistenz und Reproduktion der abhängig Beschäftigten über Phasen der Er-werbslosigkeit zu sichern, sondern auch prophylaktisch, der Arbeitslosigkeit und ih-ren individuellen und sozialen Folgen durch eine Anpassung des Arbeitsangebots an die Bedürfnisse der Arbeitsnachfrage entgegenzuwirken.

Es ist diese Anpassungsfunktion, die Arbeitsmarktpolitik klar von anderen sozialpo-litischen Maßnahmen, die ihren Schwerpunkt meist auf die kompensatorische Ab-sicherung legen, unterscheidet (vgl. Rothstein 1992: 37; Pal 1988: 20) und die Ar-beitsmarktpolitik mit einem besonderen interessenpolitischen Potential ausstattet.

Die Unterscheidung zwischen der kompensatorischen Funktion und der Anpassungs-funktion, auch wenn sich diese beiden Funktionen analytisch und in der arbeits-marktpolitischen Praxis nur schwer voneinander unterscheiden lassen10, ist somit nicht nur ein semantischer, sondern auch ein substantieller. Denn durch die Anpas-sungsfunktion ist mit Arbeitsmarktpolitik ein unmittelbarer und direkter Eingriff in die Verwertungsbedingungen von Kapital und Arbeit auf dem Arbeitsmarkt verbun-den. Der allen sozialpolitischen Maßnahmen inhärente Charakter eines Eingriffs in die Marktbedingungen wird in der Arbeitsmarktpolitik damit zusätzlich verstärkt.

9 Während die kompensatorische Funktion heute eher dem von der OECD vertretenen Verständnis von passiver Arbeitsmarktpolitik nahekommt, weist die Anpassungsfunktion mehr auf den Be-reich der sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik. Aktive Arbeitsmarktpolitik ist auf den quanti-tativen und qualiquanti-tativen Ausgleich (‚match‘) zwischen Arbeitsangebot (z.B. durch berufliche Erst- und Weiterbildung) und Arbeitsnachfrage (z.B. durch Lohnkostenzuschüsse) gerichtet.

Damit steht aktive Arbeitsmarktpolitik im Gegensatz zur Beschäftigungspolitik, die das Beschäf-tigungsniveau insgesamt anheben will. Im deutschen Sprachraum wurde die Unterscheidung zwi-schen aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik vor allem durch die Arbeiten von Günther Schmid vorangetrieben. Nach Günther Schmid ist der Begriff der aktiven Arbeitsmarktpolitik zum ersten Mal von der OECD im Jahr 1964 verwendet worden. Er markiert in Auseinandersetzung mit dem

„schwedischen Modell“ eine Wende in der Konzeption und Auffassung von Arbeitsmarktpolitik.

In der damaligen Situation von hohen Inflationsraten und Vollbeschäftigung verstand man unter Arbeitsmarktpolitik das Ziel, strukturell bedingte Arbeitslosigkeit und Überbeschäftigung, denen man inflationstreibende Wirkung zuschrieb, abzubauen (vgl. Schmid 1976: 165-166).

10 Der Schaffung einer das Lohneinkommen ergänzenden bzw. ersetzenden Einkommenssicherung ist eine Anpassungsfunktion inhärent, weil die arbeitslosen Leistungsempfänger in die Lage ver-setzt werden, auf neue Arbeit zu warten, ohne die Arbeitsfähigkeit in Gänze zu verlieren. Umge-kehrt sind insbesondere seit den 1980er Jahren Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik durchaus auch kompensatorisch motiviert.

Sowohl die kompensatorische als auch die Anpassungsfunktion berühren unmittelbar die Interessen der Unternehmer und Arbeitnehmer, weil sie auf den Preis- und Men-genmechanismus des Arbeitsmarktes Einfluß haben. Weil aber Arbeitsmarktpolitik durch die Arbeitsvermittlung (Anpassungsfunktion, aktive Arbeitsmarktpolitik) die Regulierung und Lenkung der Angebots- und Nachfrageströme auf dem Arbeits-markt explizit beeinflussen will, nehmen öffentliche Arbeitsverwaltungen im Unter-schied zu anderen Sozialverwaltungen eine mediatisierende Stellung zwischen Ka-pital und Arbeit ein. Arbeitsverwaltungen wollen zwischen Arbeitsangebot und Ar-beitsnachfrage vermitteln, und sie vermitteln dadurch auch zwischen den Interessen von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, zwischen den Interessen der Gewerk-schaften und Arbeitgeber.

Diese Beschreibung der Politik öffentlicher Arbeitsverwaltungen legt nahe, warum die Entscheidung nach dem tragenden Organisationsprinzip der öffentlichen Arbeits-verwaltung (die ‚institutional choice‘) hinsichtlich der Wahl zwischen Staatsverwal-tung und SelbstverwalStaatsverwal-tung, der Wahl zwischen Korporatismus „ja oder nein“, eine besondere Brisanz besitzen muß. Die Gesellschaft, Gewerkschaften und Arbeitge-berorganisationen, werden durch die Politik öffentlicher Arbeitsverwaltungen expli-zit angesprochen. Deshalb scheint es in der Natur der Sache zu liegen, in der Politik der Arbeitsverwaltungen selbst begründet zu sein, daß die Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen ein bestimmtes Regulationsbedürfnis hinsichtlich der Ar-beitsmarktpolitik entwickeln: Zum staatlichen Regulationsbedürfnis gesellt sich ein gesellschaftliches.

Wie läßt sich das gesellschaftliche Regulationsbedürfnis anhand der beiden Kernauf-gaben Arbeitslosenunterstützung (Arbeitslosenversicherung) und Arbeitsvermittlung verständlich machen?

Die Arbeitslosenversicherung als Ausdruck der kompensatorischen Funktion beein-flußt den Marktmechanismus, indem die Sicherung eines Einkommens außerhalb des Lohneinkommens den Lohndruck, den Arbeitslosigkeit ausübt, verringert (vgl. Hei-mann 1929: 209-210).11 In dieser Perspektive hat die kompensatorische Funktion der Arbeitsmarktpolitik Einfluß auf den Preis der Arbeitskraft, und damit auf die Positi-on der Beschäftigten wie auf die der Arbeitslosen: auf die der Beschäftigten, weil der Lohndruck gemindert wird, den die Arbeitslosen ausüben; auf die der Arbeitslosen, weil diese in die Lage versetzt werden, nicht zu jedem Preis ihre Arbeitskraft verkau-fen zu müssen. Fritz Naphtali (1931: 156) zufolge schützt ein Rechtsanspruch auf ei-ne Arbeitslosenversicherung als lohei-nerhaltendes Element die Arbeiterschaft. Die

11 Einschränkend muß angemerkt werden, daß Zumutbarkeitsregelungen und Vorschriften, die Empfänger einer Versicherungsleistung dazu verpflichten, Arbeit aufzunehmen, diesem Effekt der Minderung des Lohndrucks entgegenlaufen, denn der Arbeitslose kann bei Weigerung seine Versicherungsleistung verlieren.

stitutionalisierung einer Arbeitslosenversicherung kann also im Sinne der Gewerk-schaften sein. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung wird dabei „zum Teil“ von einer „unzweideutigen“ und „natürlichen Präferenz“ (Mares 1996: 7) der Gewerkschaften für staatliche Sozialversicherungen gesprochen.12

Warum aber die Arbeitgeber die Einrichtung von Sozialversicherungen unterstützten, erschien dagegen lange rätselhaft. Die Wohlfahrtsstaatenforschung vernachlässigte lange Zeit eine systematische Analyse der Interessen von Arbeitgebern an staatlichen Versicherungslösungen.13 Durch die Untersuchung der Einrichtung der deutschen Arbeitslosenversicherung (1927), welche von den Großunternehmen der Chemie-, Maschinenbau- und Elektroindustrie aktiv befürwortet wurde, schließt Mares (1996) diese Forschungslücke. Sie betrachtet die nationale und umfassende Arbeitslosenver-sicherung als ein Instrument zur Umverteilung von Risiken der Arbeitslosigkeit. Da-durch wird das Interesse der Arbeitgeber plausibel: Weil nämlich gerade die deutsche Großindustrie der oben genannten Branchen aufgrund ihrer weltmarktabhängigen Exportorientierung von einer hohen Konzentration dieses Risikos betroffen und zu-gleich jedoch auch auf qualifizierte Arbeiter angewiesen war, konnte sie eine staatli-che und umfassende Arbeitslosenversistaatli-cherung als einen Mechanismus verstehen, der dieses Risiko über weite Bereiche, d.h. über mehrere Branchen, verteilt.14 Obwohl eine staatliche Versicherungslösung für die Unternehmer mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, kann eine staatliche Versicherung zur Verbesserung ihrer Konkurrenz-fähigkeit beitragen.

Arbeitsmarktpolitische Aufgaben, die, wie die Arbeitsvermittlung, auf eine Anpas-sung ausgerichtet sind, verändern den Marktmechanismus, indem sie unmittelbar auf das Mengenverhältnis Einfluß haben. Die Arbeitsvermittlung erhöht das effektive Arbeitsangebot. An der Ausgestaltung von Arbeitsvermittlung können damit sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeber Interesse haben. Beiden liegt daran, den Aus-gleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Die

12 Getragen wird diese Perspektive durch den Machtressourcen-Ansatz, demzufolge die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten durch die Macht und den Einfluß der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften und Sozialdemokratie) zu erklären ist. Einflußreiche Studien in diesem Zweig der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung sind Korpi (1978), Stephens (1979) und Esping-Andersen (1985).

13 Eine Ausnahme stellen die Beiträge von Ullmann (1982) und Hay (1977, 1978, 1982) dar, wel-che die Rolle der Unternehmer bei der Entstehung des deutswel-chen bzw. britiswel-chen Wohlfahrtsstaa-tes diskutieren.

14 Diese Perspektive entwickelt Mares in Anlehnung an Baldwin (1990) und Ewald (1986). Sozial-politik als Umverteilungsmechanismus von Risiken ist eine Kritik am Verständnis der Rolle und Funktion von Sozialpolitik als Mechanismus zur „Dekommodifizierung“ (Sicherung eines Ein-kommens außerhalb des Marktes) und „Restratifizierung“ (Aufhebung klassen- und schichtspezi-fischer Segmentierungen, die durch den Markt verursacht sind, vgl. dazu Esping-Andersen 1990). Denn „Dekommodifizierung“ und „Restratifizierung“ interpretieren die Funktionen und die Rolle von Sozialpolitik a priori in unmittelbarer Nähe zu den Präferenzen der Arbeiterbewe-gung (vgl. hierzu Mares 1996: 7-8). Wir werden auf Mares (1996) in Kapitel 6 zurückkommen.

Arbeitsvermittlung erhöht das reale Kontingent an geeigneter Arbeitskraft, auf das der Arbeitgeber zurückgreifen kann. Die Verbesserung der Transparenz auf dem Ar-beitsmarkt verhindert wiederum, daß Arbeitskraft wegen mangelnder Information zu jedem Preis angeboten werden muß. Dies kann sowohl im Interesse der Gewerk-schaften als auch der Arbeitgeber liegen.

Diese Nähe der Arbeitsmarktpolitik zum Arbeitsmarkt begründet das interessenpoli-tische Potential der Arbeitsmarktpolitik. Dieses interessenpoliinteressenpoli-tische Potential be-schreibt auch einen spezifischen und potentiellen Interessencharakter der Institution Arbeitsverwaltung. Die Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber an öffentli-chen Arbeitsverwaltungen wird damit auch zum Thema interessen- und konflikttheo-retischer Ansätze.

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Interessentheoretische Ansätze gehen von der Annahme divergierender Interessen gesellschaftlicher Gruppen aus. Sie betonen Gruppen- oder Klassenkonflikte und ge-ben diesen mehr Gewicht als institutionellen Festlegungen oder organisationsstruktu-rellen Handlungsvoraussetzungen bzw. sehen letztere als Resultat der ersteren.15 Da-bei lassen sie sich (ähnlich der korporatistischen Diskussion und den Ansätzen des Politiklernens) danach unterscheiden, ob sie die Betonung stärker auf politische For-derungen „von unten“ legen, auf die der Staat reagierte (oder reagieren mußte), oder ob sie die treibende Kraft „oben“, beim Staat, verorten. In der Spielart der „Von-oben-Perspektive“ wird die Inkorporierung der „Klassen“ so z.B. als Bemühen der Herrschafts- und Legitimitätssicherung durch politische Eliten gewertet (vgl. Alber 1987: 74).

Sowohl die „Von-oben-Perspektive“ - korporatistische Politik als Reaktion auf Legi-timitätsdefizite - als auch die „Von-unten-Perspektive“ - korporatistische Forderun-gen der „Klassen“ - sind funktionalistisch (vgl. hierzu auch Alber 1987: 74-86).

15 Eine Ausnahme stellt hier der Machtressourcen-Ansatz von Korpi (1978) dar. Korpi erklärte für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Interessen die Machtressourcen der Gewerkschaften zum zentralen Dreh- und Angelpunkt und nahm an, daß relativ starke Gewerkschaften die Bedeutung gewerkschaftlicher Strategien und Interessen für das ‚policy-making‘ erhöhen würden. Da diese Art der Argumentation eine deutliche Nähe zu neo-korporatistischen Ansätzen des Schmitter-schen Typ aufweist, wurde auf eine weitere Diskussion der Position Korpis verzichtet.

Die „Von-oben-Perspektive“ begreift den Aufbau öffentlicher Arbeitsverwaltungen durch den Staat als präventive Maßnahme, die den Verlust politischer Herrschaft verhindern sollte. Diese Unterstellung müßte sich an der Frage prüfen lassen, ob die politische Herrschaft durch das Aufkommen der fluktuierenden Beschäftigungsfor-men und der Arbeitslosigkeit, welche das wesentliche Motiv für den Aufbau einer öf-fentlichen Arbeitsverwaltung darstellten, wirklich gefährdet war. Wie Kapitel 6 zei-gen wird, stand die Einrichtung der Erwerbslosenfürsorge, die den Entstehungspro-zeß der deutschen Arbeitsverwaltung stark prägte, tatsächlich im Kontext politischer Unsicherheiten, und zwar dem der Revolution von 1918. Für die Entstehung der bri-tischen Arbeitsverwaltung vermutet Gilbert (1970: 51) einen Zusammenhang mit der Wahlrechtsreform von 1885, welche die diskriminierende Praxis des englischen Ar-menrechts politisch gefährlich machte (ähnlich Rimlinger 1971: 57-60). Hay (1993:

26) entgegnet dieser Sichtweise Gilberts jedoch, daß die Arbeiterbewegung der Ausweitung der staatlichen Intervention und der sozialen Reform skeptisch gegenü-berstand. In diesem Zusammenhang weist Hay auch auf die Studie von Blewett (1965) hin, die in Frage stellt, ob die Wahlrechtsreform die Stimme der Arbeiterklas-se wirklich gestärkt hat. Während für den britischen Fall der Zusammenhang zwi-schen den Reformen und einer möglichen Legitimitätssicherung für die politische Elite zumindest in Frage zu stellen ist, läßt sich für den niederländischen Fall ein derartiger Kontext der Reformen erst gar nicht erkennen (vgl. Kapitel 8).

In der „Von-unten-Perspektive“ müßte der Ursprung einer Selbstverwaltungsstruktur in der Arbeitsmarktpolitik dagegen in einer klassenbasierten Auseinandersetzung zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern oder in einem gemeinsamen Inter-esse dieser beiden Gruppen, das gegen staatliche Akteure gerichtet war, zu finden sein. Dies ergibt sich aus der eben dargestellten Nähe der Arbeitsmarktpolitik zu den Kerninteressen der Gruppen der Arbeitnehmer und Unternehmer. In den Niederlan-den, Großbritannien und Deutschland - dies zeigt insbesondere die formative Phase der Arbeitsverwaltungen - waren die Gewerkschaften und Arbeitgeber jedoch nicht in derselben Art und Weise an arbeitsmarktpolitischer Intervention interessiert. Es waren eigentlich nur die deutschen Gewerkschaften und Arbeitgeber, welche die Ar-beitsmarktpolitik erstens zunächst zu einer Frage der Klassenauseinandersetzung er-klärten und zweitens später - im gemeinsamen Interesse gegen eine kommunale Ar-beitsmarktpolitik - auch aktiv danach strebten, an der öffentlichen Arbeitsverwaltung beteiligt zu werden (vgl. Teil II).

Offensichtlich greifen Erklärungen, die sich auf die durch die kapitalistische Dyna-mik bedingten Interessengegensätze konzentrieren, zu kurz. Denn nimmt man eine funktionalistische Perspektive zum Ausgangspunkt, müßte es überall zu Korporatis-men, zu selbstverwalteten Arbeitsverwaltungen kommen. Wie die in dieser Arbeit untersuchten Länder aufzeigen, ist dies jedoch nicht immer der Fall.

So folgert auch Hall aus seiner Auseinandersetzung mit „gruppentheoretischen An-sätzen“, daß man der Artikulation der Interessen eine breitere (institutionalistische) Einbindung geben müsse. Er kritisiert:

What is missing is a more extensive analysis of the basis for class interest and class power; and such an analysis would entail a more complete investigation of the organizations and institu-tional structures that envelop social classes and the state. In a complex society, power is medi-ated by organization and distributional conflict is conducted through institutional structures that leave their imprint on the result (Hall 1986: 14).

Hall weist darauf hin, daß man den institutionellen Voraussetzungen der Interessen-durchsetzung und Interessenauseinandersetzung einen höheren Stellenwert geben muß. Institutionen definiert Hall als „formal rules“, „compliance procedures“ und

„standard operating practices“ (Hall 1986: 19).