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Arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der verspäteten Industrialisierung und der „Versäulung“

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

8.2 Arbeitsmarktpolitische Konsequenzen der verspäteten Industrialisierung und der „Versäulung“

Wie in Großbritannien engagierten sich auch in den Niederlanden die Gewerkschaf-ten und Arbeitgeber nur sehr wenig auf dem Gebiet der Arbeitsvermittlung. Ver-bandseigene Vermittlungsorganisationen kamen bis zur Jahrhundertwende kaum zu-stande.159 So existierten 1896 nur zehn gewerkschaftseigene Vermittlungsorganisa-tionen, solche der Arbeitgeber bis dahin überhaupt nicht. Während die Anzahl der gewerkschaftseigenen Vermittlungsorganisationen bis 1914 auf 71 anstieg, blieb die Haltung der Arbeitgeber dazu über die gesamte formative Phase hinweg skeptisch (vgl. Hoffius/Vriend 1988: 44). Ausdruck findet diese Skepsis der Unternehmer im Ergebnis einer Umfrage des Jahres 1927, die von den Arbeitgeberverbänden selbst initiiert wurde. In dieser äußerten 85 Prozent der befragten Unternehmer, daß sie we-nig Wert auf eigene Arbeitsvermittlungsorganisationen legten und 93 Prozent, daß sie von den existierenden (kommunalen) Arbeitsbörsen (‚arbeidsbeurzen‘) so gut wie keinen Gebrauch machten (vgl. Rooy 1978: 61). Aber auch die

159 Zur Entwicklung der Arbeitsvermittlung bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Bekkum 1996b: 166-182, 210-216; Hoffius/Vriend 1988: 17-25; Kort 1940: 195-212.

nen Vermittlungsorganisationen versanken nach 1917 wieder in die Bedeutungslo-sigkeit (vgl. Hoffius/Vriend 1988: 44-45). Kort (1940: 204) erkennt für die Zeit nach 1917 einen stetigen „Verfall“ der gewerkschaftlichen Arbeitsvermittlung.

Als wesentlichen Faktor für diese Entwicklung betrachtet Bekkum (1996b: 167) den Industrialisierungsrückstand160 der Niederlande. Während die Industrialisierung der Produktion in Deutschland schon 1850 voranschritt, fing dieser Prozeß in den Nie-derlanden erst um 1890 an.

Vor dem Ersten Weltkrieg zählte die niederländische Industrie hinter der dänischen zu den am wenigsten entwickelten in Westeuropa, zumal in der Zeit zwischen 1895 und 1914 der industrielle Sektor kaum schneller wuchs als der agrarische und der ter-tiäre (vgl. Stuurman 1983: 323). Während in Deutschland 1910 52 Prozent der Er-werbsbevölkerung in der Industrie beschäftigt waren, betrug der entsprechende An-teil in den Niederlanden zu diesem Zeitpunkt nur etwa 33 Prozent (vgl. Jonge 1976:

237). Dabei gründete der verspätete industrielle „take off“, da die Niederlande (im Gegensatz zu Wallonien/Belgien)161 keine eigenen Rohstoffe (wie Kohle und Eisen) besaßen, zudem weniger auf industriellem Kapital in der Stahl- und Metallindustrie als vielmehr auf der Landwirtschaft, dem Handel und der Schiffahrt162 (vgl. Brug-mans 1969; Jong 1976). Es gab somit nicht nur eine zeitliche Verzögerung im Ver-gleich zu den Industrialisierungsverläufen in Deutschland und Großbritannien, son-dern auch einen Unterschied in der Branchenstruktur. Was im Vergleich zu den In-dustrialisierungsverläufen in anderen Ländern fehlte, waren die typischen Basisindu-strien und die Kapitalgüterindustrie (vgl. Wijers 1982: 25), während der landwirt-schaftliche Sektor im Vergleich zu anderen sich industrialisierenden Ländern auch in 1930er Jahren noch relativ groß war (vgl. Vries 1978: 60-61)163.

160 Zur (verspäteten) Industrialisierung in den Niederlanden vgl. ausführlich die Studien von Brug-mans 1969 und Jonge 1976.

161 Ein wesentlicher Unterschied zu Belgien besteht auch darin, daß in den Niederlanden die Dampfkraft und das Eisenbahnwesen um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch sehr schwach ent-wickelt waren.

162 Brugmans (1958: 218-220) weist darauf hin, daß in den Niederlanden um 1870 in der Landwirt-schaft und im Schiffsbau die ersten industriellen Großbetriebe entstanden.

163 Die relative Größe des landwirtschaftlichen Sektors im Vergleich zum industriellen hatte zur Konsequenz, daß das reale Pro-Kopf-Einkommen in den Niederlanden sehr viel niedriger war als in anderen Ländern. So hebt Vries hervor, daß 1929, also zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, das reale Pro-Kopf-Einkommen in Großbritannien doppelt so hoch war als in den Niederlanden. In der Folge traf die Depression der 1930er Jahre, als die Preise für landwirtschaftliche Produkte stärker fielen als die für industrielle Produkte, die niederländische Ökonomie mit ihrem export-orientierten landwirtschaftlichen Sektor besonders hart und stärker als die britische Ökonomie (vgl. Vries 1978: 60-61). Die wirtschaftsstrukturelle Bedeutung des landwirtschaftlichen Sektors zeigt sich darin, daß vor 1900 das im Jahr 1884 gegründete ‚Nederlandse Landbouw Comité‘ auf Seiten der Arbeitgeber die wichtigste und stärkste Organisation darstellte. Das Komitee wurde von der Regierung im Jahr 1893 sogar als Repräsentant der Industrie anerkannt (vgl. Vries 1978:

24).

Die niederländische Industrie entwickelte sich daher erst mit der „zweiten“ indus-triellen Revolution, mit dem Aufbau der Textilindustrie, des Schiffsbaus, der Hafen-anlagen, der Nahrungsmittel- sowie der Chemie- und Elektroindustrie164 (vgl. Brug-mans 1969: 471-491). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg (in den 1960er Jahren) er-reichten die Niederlande auf der Grundlage einer gezielten staatlichen Industrialisie-rungspolitik das Industrialisierungsniveau von Großbritannien und Deutschland (vgl.

hierzu ausführlich Hen 1980; Böhl et al. 1981; Wijers 1982). Im ausgehenden 19.

Jahrhundert gab es in den Niederlanden somit nur eine lokale Industrialisierung.165 Kloosterman (1985: 111) spricht von „regionaler Arbeitsteilung“.166

Diese verspätete Industrialisierung erklärt, daß sich die Gewerkschaften und Arbeit-geber relativ spät organisierten und als nationale Verbände auftraten. Sie erklärt je-doch nicht die spezifische Form, in der sie dies taten. Denn die Gründungen der Ge-werkschaften und Arbeitgeberorganisationen folgten der „Versäulung“.

Der Begriff der „Versäulung“ spricht die „Mobilisierung, Organisierung und Diszi-plinierung“ eines großen Teils der Bevölkerung nach „parallelen, gegeneinander und polarisierten organisatorischen Komplexen [an], welche ... auf einer eigenen weltan-schaulichen Grundlage aufgebaut waren“ (Peet et al. 1991: 15). Es gab in den Nie-derlanden innerhalb der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien protestantische, katholische, sozialistische und liberale Gruppen. Die konfessionellen „Säulen“

zeichneten sich darüber hinaus durch einen ausgeprägten Antiliberalismus und Anti-sozialismus aus.

Die „Versäulung“ war in ihrem religiösen und liberalen Teil nun nicht nur älter, son-dern auch fundierter als die Industrialisierung: „Die Gesellschaft war bereits segmen-tiert“, so Rooy (1978: 214), „als sich nach 1890 die industrielle Entwicklung durch-setzte, und war nicht mehr durch moderne klassengebundene Parteien zu erobern.“

164 In der Zwischenkriegszeit entstanden auch viele der großen niederländischen Konzerne, wie Uni-lever und Philips.

165 Regionale Ungleichgewichte wurden vor allem durch den industriellen „Vorsprung“ der westli-chen Regionen (Utrecht, Noord-Holland, Zuid-Holland und Zeeland) gegenüber den anderen Tei-len des Landes aufgespannt. Der Vorsprung führte aber nicht zu einer Dominanz der westlichen Landesteile, da der Süden und der Osten zwischen 1899 und 1930 kräftig aufholten (vgl. Vries 1978: 5-8, 22, 25).

166 Zu erwähnen sind die Textilindustrie in Haarlem, Twente, Eindhoven, Leiden und Tilburg, die diamantverarbeitende Industrie in Amsterdam sowie die Glühlampenfabriken von Philips in Eindhoven, die jedoch erst 1892 gegründet wurden.

Der Ursprung der „Versäulung“ wird bereits im 16. Jahrhundert verortet, als die Cal-vinisten die Republik der Sieben Nördlichen Provinzen gründeten und die protestan-tische Religion zur Staatsreligion deklarierten.167

Die „Versäulung“ und die verspätete Industrialisierung verhinderten, daß die Ge-werkschaften und Arbeitgeber die Organisation des Arbeitsmarktes durch Arbeits-vermittlung als Mittel zur gegenseitigen Abgrenzung betrachten konnten, wie es in Deutschland der Fall war. Nicht von einem „Klassenbewußtsein“, sondern von den

„Säulen“ waren ihre Positionen geprägt.

Es waren die Liberalen, die 1871 mit dem ‚Algemeen Nederlandsch Werklieden Verbond‘ (ANWV) als erste einen nationalen Gewerkschaftsbund gründeten.168 Im Jahr 1892 wurde das sozialistische ‚Nationaal Arbeids Secretariaat‘ (NAS) als Sekti-on der Zweiten InternatiSekti-onalen aufgebaut. Nachdem 1893 der ‚BSekti-ond van Roomsche-Katholieke Werkliedenvereenigingen‘ gegründet wurde und sich 1894 mit dem ‚Al-gemeene Nederlandsche Diamantbewerkers Bond‘ (ANDB) die erste Industriege-werkschaft formierte, kam es 1903 zur Gründung des sozialistischen Niederländi-schen Verbandes von Gewerkschaften (‚Nederlandsch Verbond van Vakvereeniging-en‘, NVV) und 1909 schließlich zu der des protestantischen Christlichen Nationalen Gewerkschaftsverbandes (‚Christelijk Nationaal Vakverbond‘, CNV).169 Entschei-dend für das Fortschreiten der „Versäulung“ unter den niederländischen Gewerk-schaften war dabei der große Eisenbahnerstreik von 1903, der mit einer Niederlage der Arbeiter endete, für die sich die einzelnen „Säulen“ der Arbeiterbewegung

167 Mit dem Friedensvertrag von Münster (1648) wurden die zwei südlichen und katholischen Pro-vinzen Noord Brabant und Limburg in die Republik integriert. Lange Zeit wurden diese katholi-schen Landesteile als „Kolonien“ der protestantikatholi-schen Provinzen behandelt. Mit der französi-schen Revolution wurde das bis dahin geltende Verbot der katholifranzösi-schen Religion aufgehoben und die südlichen Provinzen den nördlichen gleichgestellt. Im 19. Jahrhundert emanzipierte sich schließlich der katholische Teil der Bevölkerung und traten zu den konfessionellen Kräften libe-rale und sozialistische hinzu (vgl. Moraal 1983: 4-5). Zur deutlichsten Abgrenzung zwischen den

„Säulen“ kam es durch den Schulstreit: Die Konfessionellen forderten eigene Schulen. Der Streit mündete 1917 in dem Kompromiß, die privaten und konfessionellen Schulen den staatlichen gleichzustellen. Neben den Parteien und der Presse gehörte damit das Schulwesen (besser: Bil-dungswesen) zu den ersten „versäulten“ Bereichen (vgl. hierzu Kruijt/Goddijn 1965: 115-123;

Therborn 1989: 203-205). Über die Konsequenzen der „Versäulung“ hat sich in der niederländi-schen Soziologie eine heftige Debatte entwickelt. Der (funktionalistiniederländi-schen) These Lijpharts (1968), daß die „Versäulung“ zwischen 1917 und 1965 politische Stabilität („politics of accomo-dation“) beförderte, weil die „Säulen“ aufgrund ihrer ausgeprägten Gegensätze zu Kompromis-sen gezwungen waren, steht beispielsweise der Versuch Stuurmans (1983) gegenüber, die „Ver-säulung“ in einen stärkeren Zusammenhang mit der spezifischen historischen Entwicklung der Niederlande zu stellen. Dabei existiert in der Literatur auch ein Streit darüber, ob die liberalen und sozialistischen Gruppen wirklich eigenständige „Säulen“ darstellten (so Lijphart 1968; Roe-broek 1993), oder ob man den Begriff der „Versäulung“ nur auf die konfessionellen Gruppen be-schränken sollte (so Stuurman 1983).

168 Im Jahr 1876 spaltete sich vom ANVW ein protestantischer Verband ab, der sich ‚Patrimonium‘

nannte.

169 Zur Gründung der Gewerkschaften vgl. Hoefnagels 1974: 54-70, 107-114.

genseitig die Schuld zuwiesen.170 Waren bei den Arbeitgebern die konfessionellen Kräfte auch schwächer entwickelt als bei den Gewerkschaften (vgl. Windmuller 1969: 42), so folgte der Gründung des ersten nationalen Arbeitgeberverbandes, der

‚Vereeniging van Nederlandsche Werkgevers‘ (VNW, 1899)171, auch hier diejenige einer protestantischen ‚Christelijke Werkgeversvereeniging‘ (1918)172 und einer ‚Al-gemene Rooms-Katholieke Werkgeversvereeniging‘ (1919).173

Aufgrund dieser Segmentierung der organisierten Interessen setzten nicht etwa sol-che Gruppen, die den ökonomisch-politissol-chen Konsequenzen der Industrialisierung eine dementsprechende Programmatik entgegengesetzt hätten, die wesentlichen Ak-zente in der Auffassung über die „soziale Frage“, sondern Verfechter religiöser und weltanschaulicher Positionen. Es determinierten somit sowohl die verspätete Indu-strialisierung als auch die „Versäulung“ quasi als konstante Rahmenbedingungen, daß in den anstehenden Auseinandersetzungen die soziale Frage überwiegend ent-lang den konfessionellen und weltanschaulichen Linien diskutiert wurde (vgl. To-ren/Vos 1997: 105).

Die Distanz der Gewerkschaften und Arbeitgeber zur Arbeitsvermittlung ist somit nicht nur durch die verspätete Industrialisierung und die verzögerte Organisierung ih-rer Interessen, sondern auch ideologisch bedingt; denn erstens lag dem religiösen und dominierenden Teil der Gewerkschaften mehr daran, die Bibeltreue der Mitglieder zu fördern als ein „Recht auf Arbeit“174, und zweitens trat in den Positionen der Ge-werkschaften und Arbeitgeber eine bedeutsame Spaltung zwischen den „Säulen“ auf;

eine Spaltung, die dazu führte, daß die konfessionellen Gewerkschaften und Arbeit-geber später (in den 1920er Jahren) eine durch konfessionelle Gewerkschaften und Arbeitgeber geleitete Arbeitsvermittlung einforderten, während die sozialistischen

170 Zum Eisenbahnerstreik 1903 vgl. die umfassende Analyse von Rüter 1935.

171 Die VNW wurde in Reaktion auf die von der Regierung beabsichtigte Einführung einer Unfall-versicherung gegründet.

172 Bereits 1891 gründeten orthodoxe protestantische Arbeitgeber einen Verband, den ‚Boaz‘.

173 Zur Gründung der Arbeitgebervereinigungen vgl. Windmuller 1969: 46-48. Dabei existierte von Beginn an ein Dualismus in der Struktur der Arbeitgebervereinigungen. Man trennte Fragen der Arbeitsbeziehungen (Löhne, Arbeitsbedingungen) vom allgemeinen wirtschaftspolitischen Enga-gement (Preispolitik, Steuern usw.). Dieser Dualismus schlug in eine organisatorische Spaltung um. Während der VNW für die Fragen der allgemeinen Politik zuständig war, galt die 1920 ge-gründete ‚Vereeniging Centraal Overleg in Arbeidszaken voor Werkgeversbonden‘ als Verhand-lungsgremium für die Arbeitsbeziehungen.

174 Die Sozialhistorikerin Henriette Roland Holst-Van der Schalk bezeichnete die niederländische Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. Jahrhundert als „Gefühlsbewegung“ (Holst 1932: 6); den Gegensatz zwischen dem Bewußtsein der niederländischen Arbeiter und dem der Arbeiter in Ländern wie Deutschland beschrieb sie folgendermaßen: „Der niederländische Arbeiter fühlte sich nicht als unentbehrlich, sondern als überflüssig. Er brüllte nicht laut nach einem ‚Recht auf Arbeit‘, sondern bat flehentlich nach Arbeit, als ob es sich um ein Almosen handelt.“ (Holst 1932: 132; meine Übersetzung, CT)

Gewerkschaften die Arbeitsvermittlung als öffentlich zu verwaltende Aufgabe be-trachteten (vgl. Kort 1940: 339-351). Konfessionelle Arbeitgeber und Gewerkschaf-ten wiesen in ihren StandpunkGewerkschaf-ten so oftmals mehr GemeinsamkeiGewerkschaf-ten auf als konfes-sionelle und sozialistische Gewerkschaften.

Bei den Gewerkschaften kam nun hinzu, daß sie ihr Interesse deutlich stärker auf den Aufbau eigener Gewerkschaftskassen richteten. Sol (2000: 149) hebt hervor, daß die niederländischen Gewerkschaften in viel geringerem Ausmaß als die Gewerkschaf-ten in anderen Ländern eigene Vermittlungseinrichtungen gründeGewerkschaf-ten, weil sie der

„Strategie der Arbeitslosenversicherung“ den Vorzug gaben. Im Gegensatz zu ihrem Desinteresse hinsichtlich der Arbeitsvermittlung steht also ihr Engagement bei der Gründung eigener Gewerkschaftskassen. So zählte man 1914 etwa 742 Arbeitslosen-kassen der Gewerkschaften. Von diesen wurden 31 durch einen kommunalen Fond unterstützt. Daneben existierten christliche Kassen, wie z.B. Unsere Hilfe im Namen des Herrn in Den Haag, und mehrere berufsgebundene Hilfsorganisationen. Der Deckungsgrad dieser Kassen war allerdings gering, so daß 1914 nur sieben bis acht Prozent der männlichen Erwerbsbevölkerung über diese Kassen gegen Arbeitslosig-keit versichert waren (vgl. Hoffius/Vriend 1988: 29). Im Jahr 1930 waren es 13 Pro-zent der gesamten Erwerbsbevölkerung (vgl. Rooy 1978: 57).175 Vor allem die sozia-listische Gewerkschaft NVV betrachtete die eigenen Kassen bereits vor dem Ersten Weltkrieg als ihr wichtigstes Organisationsmittel (vgl. Jong 1956: 77, 95).

Die Arbeitsvermittlung blieb daher bis zu den ersten Interventionen des Reiches lan-ge Zeit eine rein kommunale Aufgabe. Die Kommunen begannen dabei auf eilan-gene Initiative hin, Arbeitsbörsen (‚arbeidsbeurzen‘) zu errichten.176 Auf die Gründung der ersten kommunalen Arbeitsbörse, 1905 in Schiedam, und weiterer kommunaler Ar-beitsbörsen177 folgte 1908 die Errichtung der Vereinigung der Niederländischen Ar-beitsbörsen (‚Vereeniging van de Nederlandse Arbeidsbeurzen‘, VNA).

Die VNA strebte die Einrichtung eines landesweiten Netzes an, um eine interlokale Arbeitsvermittlung anbieten zu können. Für das Jahr 1913 zählte man schließlich 21 kommunale Arbeitsvermittlungsorganisationen, von denen wie in Deutschland die

175 Versichert waren dabei vor allem höher qualifizierte und besser entlohnte Arbeiter, wie Drucker, Zigarrenmacher, Handels- und Büroangestellte, Diamant- und Baufacharbeiter (vgl. Schra-ge/Nijhof 1992: 34).

176 Zur Entwicklung der kommunalen Arbeitsvermittlung vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Kort 1940:

231-244.

177 1905 werden in Haarlem, 1906 in Den Haag, Hilversum Leiden und Venlo, 1907 in Arnhem und Groningen, 1908 in Amsterdam und Enschede, 1909 in Zwolle, Delft und Dordrecht, 1910 in Gouda, Rotterdam, Leeuwarden und Den Bosch, 1912 in Deventer und Eindhoven kommunale Arbeitsbörsen eingerichtet. Die Börse in Amsterdam orientierte sich nach dem Berliner Vorbild (vgl. Bekkum 1996b: 211).

meisten mit Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber verwaltet wurden (vgl.

Hoffius/Vriend 1988: 28; Kort 1940: 240-241).

Angesichts der langsamen und vorsichtigen Entwicklungen auf dem Gebiet der Ar-beitsvermittlung wird der erste kritische Moment in der Initialisierungsphase der nie-derländischen Arbeitsverwaltung entsprechend spät durch das Jahr 1913 markiert. In diesem Jahr stellte die 1909 von der Regierung eingerichtete Staatskommission über die Arbeitslosigkeit (‚Staatscommissie over de Werkloosheid‘, ScoW) einen Bericht vor, der ein relativ ausgefeiltes und umfassendes Konzept für eine reichsweite Ar-beitsmarktpolitik enthielt.178 Die Kommission entwarf einen integrierten und korpo-ratistischen arbeitsmarktpolitischen Ansatz, der sich allerdings nicht durchsetzte. Da sich die Kommission in ihrem Bericht sehr stark an den Entwicklungen in Deutsch-land und EngDeutsch-land orientierte, soll dieser dennoch im folgenden Abschnitt kurz skiz-ziert werden.

8.3 Der Bericht der Staatskommission über die Arbeitslosigkeit (1913)