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Korporatismus und „Versäulung“ (1918-1939)

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

8.5 Korporatismus und „Versäulung“ (1918-1939)

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, und somit die kritische Phase der Initiati-lisierung der Arbeitsmarktpolitik, ist von einer Dominanz der Protestanten und Ka-tholiken geprägt.189 Die Situation grenzt sich damit sehr stark von der ab, die bis da-hin die Politik bestimmte. War bis zu den Wahlen 1918 das politische Kräfteverhält-nis der einzelnen „Säulen“ relativ ausgewogen, so gewannen in der Zwischenkriegs-zeit sowohl unter den Parteien als auch unter den Gewerkschaften und Arbeitgeber-organisationen die Protestanten und Katholiken zunehmend an Übergewicht. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1917 zeigte damit auch, daß sich die Mehr-heit der Bevölkerung hinter die Konfessionellen stellte. Dies hatten weder die Liberalen noch die Sozialdemokraten erwartet (vgl. hierzu Roebroek 1993: 51).

Die drei konfessionellen Parteien, die ‚Roomsch-Katholieke Staatspartij‘ (RKSP) sowie die beiden protestantisch-christlichen Parteien, die ‚Anti-Revolutionaire Partij‘

(ARP) und die Christelijk-Historische Unie (CHU), behalten nun in der Zwischen-kriegszeit vor der liberalen Partei (‚Vrijzinning-Democratische Bond‘, VDB) und der

‚Sociaal Democratische Arbeiderspartij‘ (SDAP) klar die Oberhand. Die Zusammen-setzung des Kabinetts wurde während dieser Zeit von der RKSP bestimmt, die ge-genüber den protestantisch-christlichen Parteien einen größeren Stimmenanteil besaß (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 175). Die Liberalen wurden politisch unbedeutend, die Sozialdemokratie wurde zur stärksten Oppositionskraft. Während die Sozialisten zwischen 1918 und 1939 jedoch nie mehr als 20 bis 22 Prozent der Stimmen

189 Weil der Liberalismus aufgrund seiner politischen Schwäche die Diskussionen in der Zwischen-kriegszeit nur wenig prägte, werden die Liberalen im folgenden vernachlässigt. Gleichwohl sollte nicht unerwähnt bleiben, daß der niederländische Liberalismus mit dem Konfessionalismus ge-wisse Gemeinsamkeiten aufwies und dadurch auch eine vom englischen und französischen Liralismus unterscheidbare und eigene Qualität besaß. Von Johan Rudolf Thorbecke geprägt, be-tonte der niederländische Liberalismus, daß der „liberale Staat ... die Entwicklung von selbstän-diger Kraft befördern“ soll, eine „selbständige Kraft in den Provinzen, der Gemeinden, den Ver-einigungen und den Individuen“ (Thorbecke, zit. nach Banning 1964: 58-61). Der niederländi-sche Liberalismus sieht den Staat somit nicht nur als „Nachtwächter“, der sich in der sozialen Frage enthalten soll, ihm wird vielmehr auch zugesprochen, Aktivität in der Gesellschaft zu för-dern. Dies kommt dann doch der Betonung der Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität im konfessionell geprägten sozialen Denken sehr nahe. Daß der Liberalismus, der Mitte des 19.

Jahrhunderts in den Niederlanden eine starke Kraft war, den Aufbau des Wohlfahrtsstaates nicht prägen konnte, liegt daran, daß es in dieser stärksten Phase des niederländischen Liberalismus aufgrund der verzögerten Industrialisierung noch keine „soziale Frage“ gab.

ten, hatten die RSKP immer 30 bis 32 Prozent und die ARP und die CHU zusammen gut 18 bis 20 Prozent (vgl. Wolinetz 1989: 84-85).

Erst im Jahr 1939, als die Koalition der Konfessionellen zerbrach, änderte sich die Situation: Fortan konnten die Sozialdemokraten durch die sogenannte ‚Rooms-Rode-Coalitie‘, die nach dem Ende der Besatzungszeit wieder aufgenommen wurde und bis 1958 hielt, die Regierungspolitik mitbestimmen, zumal sie das Sozialministeri-um190 innehatten. Tabelle 2 faßt die Zusammensetzung der Kabinette sowie die Be-setzung des Sozialministeriums in der Zeit zwischen 1908 und 1951 zusammen.

Tabelle 2: Die Zusammensetzung der Kabinette sowie die Sozialminister in den Niederlanden (1908 - 1951)

Kabinett Regierungs-

periode Regierungsparteien Sozialminister Partei des So-zialministers Heemskerk 1908-1913 ARP-RKSP Talma ARP Cort van der Linden 1913-1918 ‚Vrijzinnigen‘ Treub/Lely VDB/Liberalen Ruys de Beerenbrouck I 1918-1922 ARP-RSKP-CHU Aalberse RKSP Ruys de Beerenbrouck

II

1922-1925 ARP-RSKP-CHU Aalberse RKSP

Colijn I 1925-1926 ARP-RSKP-CHU Koolen RKSP De Geer I 1926-1929 ‚Confessionelen en Liberalen‘ Slotemaker de

Bruïne

CHU Ruys de Beerenbrouck

III

1929-1933 RSKP-ARP- CHU Verschuur RKSP

Colijn II 1933-1935 RSKP-ARP-CHU-LSP-VDB Slotemaker de

Bruïne CHU

Colijn III 1935-1937 RSKP-ARP-CHU-LSP-VDB Slingenberg VDB Colijn IV 1937-1939 RSKP-ARP- CHU Romme RKSP Colijn V 1939 ARP-CHU-Liberalen Damme Parteilos De Geer II 1939-1940 RSKP-SDAP-ARP-CHU-VDB Van den Tempel SDAP

Gerbrandy I 1940-1945 Exilregierung Van den Tempel SDAP

Gerbrandy II 1945 Exilregierung Wijffels Parteilos Schermerhorn/Drees 1945-1946 KVP-PvdA-ARP-VVD Drees PvdA

Beel I 1946-1948 KVP-PvdA Drees PvdA

Drees/Van Schaik 1948-1951 KVP-PvdA-CHU-VVD Joekes PvdA Quelle: Roebroek/Hertogh 1998: 508-510.

ARP = ‚Anti-Revolutionaire Partij‘ (Antirevolutionäre Partei, protestantisch); CHU = ‚Christelijk-Historische Unie‘ (Christlich-Historische Union, protestantisch); KVP = ‚Katholieke Volkspartij‘ (Katholische Volkspartei, Nachfolger der RKSP seit 1945; LSP = Liberale Staatspartij de Vrijheidsbond; PvdA = ‚Partij van de Arbeid‘

(Partei der Arbeit, Nachfolger der SDAP seit 1946; SDAP = ‚Sociaal Democratische Arbeiderspartij‘

(Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 1946 umbenannt in PvdA; RKSP = ‚Roomsch-Katholieke Staatspartij‘

(Römisch-Katholische Staatspartei, 1945 umbenannt in KVP); VDB = ‚Vrijzinnig-Democratische Bond‘ (Bund der Freisinnigen Demokraten, liberal); VVD= ‚Volkspartij voor Vrijheid en Democratie‘ (Volkspartei für Freiheit und Demokratie, liberal, gegründet 1948).

190 Der Posten des Sozialministers wanderte lange Zeit zwischen verschiedenen Ministerien, bevor 1933 das Ministerium für Soziales gegründet wurde. In der Entwicklung des Sozialministeriums lassen sich die folgenden Etappen festhalten: 1911 Gründung der ‚Afdeling Arbeid‘ beim Mi-nisterium für Landwirtschaft, Schiffahrt und Handel, 1918 Gründung des ‚Departement Arbeid‘, 1922 Gründung des Ministeriums für Arbeit, Handel und Schiffahrt, 1932 Gründung des Ministe-riums für Wirtschaft und Arbeit, 1933 Gründung des MinisteMiniste-riums für Soziales, 1952-1972 Um-benennung in Ministerium für Soziales und Volksgesundheit, seit 1972 Ministerium für Soziales und Beschäftigung (‚Ministerie Sociale Zaken en Werkgelegenheid‘, SZW).

Für die konfessionellen Kräfte stellte die „Antithese“191 des Theologen Kuijper den ideologischen Grundpfeiler für die Abgrenzung zwischen den einzelnen „Säulen“

dar. Kuijper stellte eine „Kluft zwischen Glaube und Unglaube“ fest, die nicht

„überbrückbar“ sei und er forderte, daß die Gläubigen ihre „eigenen konfessionellen Organisationen und Strukturen“ (Kruijt/Goddijn 1965: 122) gründen sollen. Durch die Dominanz der „Gläubigen“ bekamen die Konfessionellen in der Zwischenkriegs-zeit nun auch die Möglichkeit, die „Antithese“ politisch umzusetzen.

Ein Schub in Richtung Konfession ist auch im Mächteverhältnis der Gewerkschaften und Arbeitgeber erkennbar. So organisierten in den 1920er Jahren die konfessionel-len Gewerkschaften rund die Hälfte der Arbeiter (vgl. Roebroek 1993: 57). Obwohl der sozialdemokratische NVV auch während der gesamten Zwischenkriegszeit die stärkste Gewerkschaft blieb, wiesen die protestantischen und katholischen Gewerk-schaften zwischen 1918 und 1960 mehr Mitglieder auf (vgl. Visser/Hemerijck 1998:

166). Die „Antithese“ fand ein für die Entwicklung des niederländischen Wohlfahrts-staates äußerst bedeutsames Opfer: Im berühmten „Posthumus-Kupers-Memorandum“ von 1921 mußten die sozialdemokratischen Gewerkschaften den Forderungen der seit 1918 mächtigeren katholischen und protestantischen Gewerk-schaften nachgeben, daß nicht der Staat, sondern die GewerkGewerk-schaften und Arbeitge-ber in eigener Regie die Sozialversicherung verwalten sollten (vgl. Roebroek 1993:

52). Diese politische Stärkung der katholischen Gewerkschaften läßt sich auch auf ihren Zusammenschluß zum Römisch-Katholischen Gewerkschaftsverband (‚Rooms-Katholieke Werkliedenverbond‘, RKWV, 1925) zurückführen. Im Jahr 1933 konnte der RKWV etwa 41,7 Prozent der organisierten Arbeiter für sich verbuchen (vgl.

Brugmans 1969: 495). Zudem konnte der RKWV einen starken politischen Einfluß auf die regierende RKSP ausüben (vgl. Windmuller 1969: 59).

Die einzelnen „Säulen“ grenzten sich voneinander ab. Der deutlichste Ausdruck die-ser Abgrenzung ist der Beschluß der katholischen Bischöfe von 1906, daß sich ka-tholische Arbeiter nur kaka-tholischen Gewerkschaften anschließen dürfen. Jong hebt hervor, daß das Verhältnis der einzelnen Gewerkschaften zueinander auch in der Zwischenkriegszeit durch „eigene geistige Bereiche“ gekennzeichnet war:

Die enge Kooperation, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen konnte, haben RKWV, CNV und NVV nicht zustande gebracht. Zu sehr waren die vorangegangenen Jahre, die 20er Jahre, von einer fortschreitenden ‚Versäulung‘ geprägt. Jede Zentrale lebte vor sich in ihrem eigenen geistigen Bereich, und eine Kluft - die Antithese - trennte sowohl die Parteien, mit denen sich die Zentralen am meisten verbunden fühlten, als auch die Zentralen selbst (Jong 1956: 179-180; meine Übersetzung, CT).

Die sozialpolitische Diskussion wurde in der Zwischenkriegszeit von den Grundposi-tionen der katholischen und protestantischen „Säulen“ stark beeinflußt. Trotz der

191 Die Antithese entstand in den Jahren zwischen 1868 und 1878 im Rahmen des Schulstreits (vgl.

Stuurman 1983: 125-132).

Abgrenzung hatten die Katholiken und Protestanten nun aber wichtige Gemeinsam-keiten, was das Verständnis der Beziehung von Staat und Gesellschaft anbelangt. Die Katholiken forderten die Einrichtung von Branchenvereinigungen (Veraart)192. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten in diesen Organisationen gemeinsam die Arbeitsbeziehungen regeln und die Sozialgesetzgebung ausführen. Die Rolle des Staates sahen die Katholiken minimalistisch, denn die Wahrung der „Souveränität“

hatte für sie die oberste Priorität. Der römisch-katholische Sozialminister Aalberse (1918-1925, RKSP) übertrug die Forderungen der katholischen „Säule“ schließlich in die Unterscheidung zwischen sozialer Gesetzgebung („sociale wetgeving“) und sozialer Reform („sociale hervorming“). Während die soziale Gesetzgebung, und damit die Intervention des Staates, nur soweit gehen sollte, soziale Mißstände aufs erste zu beseitigen, sei es die Sache der Branchenvereinigungen und der Gesellschaft, die sozialen Aufgaben in die Hand zu nehmen (vgl. Ven 1948: 36-37). Unter „sozia-ler Reform“ verstand Aalberse:

[D]aß Dinge, die durch den Staat ausgeführt werden müssen, allmählich durch die öffentlich-rechtlich anerkannte Wirtschaft übernommen werden können. Diese kann dann unter der Kon-trolle der Staates, der das Allgemeinwohl zu berücksichtigen hat, ihre eigenen Verordnungen und Gesetze feststellen (Aalberse auf der Sitzung des Hohen Rates der Arbeit am 20. Januar 1940; zit. nach Ven 1948: 36; meine Übersetzung, CT).

Gegenüber den Katholiken, die durch die beiden päpstlichen Enzyklika „Rerum No-varum“ (1891) und „Quadragesimo Anno“ (1931) stark beeinflußt wurden (Wind-muller 1969: 22), gingen die Protestanten noch einen Schritt weiter. Immer wieder wandten sie sich explizit gegen die liberale Vorstellung einer autonomisierten und individualisierten Gesellschaft. Abraham Kuyper (1837-1920), Pastor der ‚Neder-landse Hervormde Kerk‘, Gründer der protestantischen Partei ARP und von 1901 bis 1905 Ministerpräsident, formulierte die protestantische Anschauung über das Ver-hältnis von Staat und Gesellschaft im Jahre 1891 betont sozialistisch und anti-liberal:

Genauso bestimmt haben wir ... als Christen parteiisch zu sein, im Falle des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Wer wie die Sozialdemokraten den Staat in der Gesellschaft aufgehen läßt, leugnet damit die von Gott eingesetzte Obrigkeit, die dazu dient, seine Erhabenheit und sein Recht zu handhaben. Und wer umgekehrt, in Einklang mit den Staatssozialisten, die Ge-sellschaft in den Staat aufgehen läßt, trägt dazu bei, den Staat zu vergöttern: der Staat statt Gott, und die freie durch Gott geordnete Gesellschaft [wird] um willen der Apotheose des Staa-tes vernichtet. Dahingegen haben wir als Christen weiterhin zu behaupten, daß der Staat und die Gesellschaft je ein eigener Bereich ist, wie gewollt jeder seine eigene Souveränität besitzt, und die soziale Frage nicht rechtens gelöst werden kann, wenn man nicht die Zweiseitigkeit achtet, und somit die Obrigkeit hochhält und die Wege ebnet für die freie Initiative der Gesell-schaft. Wird ... die Frage aufgeworfen, ob unsere menschliche Gesellschaft ein Aggregat von Individuen oder ein organischer Körper ist, dann müssen alle, die Christen sind, sich an die Seite der sozialen Bewegung scharen und sich dem Liberalismus entgegenwenden, da ja Gottes Wort uns lehrt, wie das All aus einem Blut geschaffen ist und in einem Verbund durch Gott zu-sammengefaßt ist (Kuyper 1891; zit. nach Peet et al. 1991: 77-78; Herv. durch Kuyper; meine Übersetzung, CT).

192 Der Katholik J.A. Veraart gilt als „Vater“ der Idee der Einrichtung von paritätisch besetzten Branchenorganisation; vgl. Dr. J. A. Veraart (1918): Vraagstukken de economische bedrijfsorga-nisatie.

Deutlicher als die Katholiken betrachteten die Protestanten die Gesellschaft als sou-veränen Bereich neben dem Staat. Für sie galt das Prinzip der „Souveränität im eige-nen Kreis“ (‚souvereiniteit in eigen kring‘).193 Der anti-revolutionäre Protestant Ru-dolph Slotemaker de Bruïne (1869-1941), der Aalberse von 1926 bis 1929 als Sozi-alminister folgte, beschrieb die „eigenen Kreise“ der Gesellschaft und ihre Bezie-hung zum Staat in einer äußerst prägnanten Form:

Es ist unser Glauben, daß es nicht die Berufung des Staates ist, das soziale Leben von oben zu dominieren und es in vorgefertigte Linien zu pressen ... Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur ein paar zu nennen. Diese haben al-le ihre eigene Natur, ihre eigene Autorität und Verantwortung ... Wenn der Staat die Bereiche der sozialen Versicherung und des sozialen Schutzes betritt, tut er dies subsidiär. Es sind die gesellschaftlichen Organe, die hier die Aktivposten bilden (Slotemaker de Bruïne; zit. nach Roebroek 1993: 55; meine Übersetzung, CT).

Somit vertraten die Protestanten einen Korporatismus, dessen ideele wie organisato-rische Grundlage der „eigene Kreis“ und die „Souveränität“ der Familie, des Betrie-bes oder der Branche darstellte. Die Rolle des Staates wurde dagegen darauf be-schränkt, die Spontanität der Gesellschaft zu fördern und den gesellschaftlichen Gruppen Raum für korporative Zusammenarbeit bereitzustellen (vgl. Cox 1993: 64).

Damit besaßen die Protestanten und die Katholiken in ihren Anschauungen einen wichtigen gemeinsamen Punkt, der sie deutlich von den Sozialisten unterschied.

Während die Konfessionellen immer wieder als Verfechter der Branchenvereinigun-gen, für eine Verwaltung der sozialen Frage durch die Gewerkschaften und Arbeit-geber und in relativer Autonomie zu staatlicher Kontrolle eintraten, betrachteten die Sozialisten sozialpolitische Steuerung grundsätzlich als staatliche Aufgabe. Eine Be-teiligung der Gesellschaft hatte für sie daher die Funktion, ein Übergewicht des Staa-tes zu vehindern. In den 1930er Jahren brachte der Sozialist Josephus Jitta diese Position auf den Begriff der „funktionalen Dezentralisierung“ (‚functioneele decentralisatie‘). Funktionale Dezentralisierung194 diente hier als Gegenbegriff zu staatlicher Zentralisierung. Funktionale Dezentralisierung bezeichnete

... das Streben, bestimmte Funktionen, die der Staat an sich genommen hat, zum größten Teil von den bestehenden Vertretungsorganen abzutrennen und an neue Organe zu übertragen, in denen bestimmte Interessen und Sachverständige vertreten sind, die beratende, verwaltende und gesetzgebende Funktionen innehaben (Jitta 1932: 13; meine Übersetzung, CT).

193 Für die Protestanten waren in der Frage der Branchenorganisationen vor allem die Ideen von P.S.

Gerbrandy und Abraham Kuyper richtungsweisend (vgl. Rigter et al. 1995: 88-89).

194 Der vom Juristen Josephus Jitta eingeführte Begriff der „funktionalen Dezentralisierung“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem zentralen politischen Konzept in der Frage der Aufgaben-verteilung zwischen Staat und Gesellschaft bei der Ausführung staatlicher Aufgaben. Wir werden auf das Konzept der „funktionalen Dezentralisierung“ im Rahmen der Diskussion um die Korpo-ratisierung der niederländischen Arbeitsverwaltung zurückkommen (vgl. Kapitel 16).

Die Sozialisten195 hatten wenig Vertrauen in den konfessionellen Korporatismus, in die gesellschaftliche Kraft der Selbstregulierung. Vielmehr sollte der Staat die Be-handlung und die Verwaltung der sozialen Frage in die Hand nehmen (vgl. Rigter et al. 1995: 89). In der Perspektive der Konfessionellen sollte Sozialpolitik dagegen ex-plizit von unten nach oben wachsen. Die Konfessionellen betrachteten korporatisti-sche Einrichtungen dementsprechend als private Organe (vgl. Cox 1993: 67). Tref-fend beschreiben Kuijpers und Schrage diese zentrale Differenz zwischen den kon-fessionellen und den sozialistischen (wie auch progressiven liberalen) Kräften fol-gendermaßen:

In contrast with Socialist and (progessive) Liberals, Protestants and Catholics emphasized the responsibility of the ‚social partners‘ - the employer organizations [sic!] and the trade unions - in the making and the managing of a social security system. The role of the state should, in their view, be limited (Kuijpers/Schrage 1997: 83).

Die Konfessionellen wollten also eine Regulierung des sozialen Sicherungssystems durch die Gewerkschaften und Arbeitgeber; die Rolle des Staates sollte dabei aber stark begrenzt werden. Ideologisch lief dies auf eine paritätische und nicht, wie in Deutschland, auf eine drittelparitätische Selbstverwaltung der Arbeitsverwaltung hinaus.

Trotz der umfangreichen ideologischen Vorarbeit zeichnete sich Anfang der 1920er Jahre jedoch ab, daß der Gedanke der Branchenvereinigungen vorerst Ideologie blieb. Im ganzen Land wurde die Arbeitsmarktkrise Anfang der 1920er Jahre als Ein-schnitt empfunden. Die Depression ließ die Arbeitslosenquote zwischen 1920 und 1922 von 5,8 Prozent auf 11,2 Prozent ansteigen (vgl. Windmuller 1969: 55). Die Gewerkschaften wurden in die Defensive gedrängt (vgl. Jong 1956: 177). Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit traten in der Zusammenarbeit der Arbeitsmarktpartner mit der Regierung Spannungen auf. Das (vorläufige) Scheitern der Branchenvereini-gungen wird insbesondere auch auf eine Kehrtwendung in der Haltung der Arbeitge-ber zurückgeführt.196

So stellt Ven (1948: 40) für die Zeit zwischen 1922 und 1929 fest, daß sich die Ar-beitgeber immer mehr von den Gewerkschaften und Arbeitnehmern distanzierten.

Der Bereich des Unternehmens, den man im Zuge der Kriegswirren kurze Zeit als kollektiv zu regulierende Angelegenheit (Branchenvereinigungen!) betrachtete,

195 Auf Seiten der Sozialisten kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen der Sozialde-mokratischen Partei und dem NVV. 1923 veröffentlichten die SDAP und der NVV gemeinsam einen Bericht unter dem Titel ‚bedrijfsorganisatie en medezeggenschap‘ (Branchenorganisatio-nen und Mitbestimmung). Während der Weltwirtschaftskrise entwickelten SDAP und NVV zu-sammen den ‚Plan van de Arbeid‘ (1935) - ein Programm für nationale Wirtschaftsplanung, Kon-junktur- und Investitionspolitik, das die Sozialisierung der Wirtschaft als Fernziel vor Augen hat-te (vgl. Righat-ter et al. 1995: 89-90).

196 Windmuller (1969: 72) führt an, daß auch die Gewerkschaften der Mitbestimmung (‚medezeg-genschap‘) äußerst ambivalent gegenüberstanden; „Mitbestimmung“ war bei den Gewerkschaf-ten lange Zeit eine „Streitparole“ (Jong 1956: 203).

de wieder dem Laissez-faire unterworfen. Es dominierte die Auffassung, ökonomi-sche von sozialen Dingen zu trennen:

Trennung von ökonomischen und sozialen Angelegenheiten, paritätische Vertretung von Ar-beitgebern und Arbeitern bei der Erörterung des letztgenannten, die ökonomischen Angelegen-heiten der Wirtschaft vorbehalten, d.h. den Arbeitgebern, so scheint in diesen Jahren hinsicht-lich der Beziehung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerparteien die vorherrschende Mei-nung [der Arbeitgeber] zu sein (Ven 1948: 43; meine Übersetzung, CT).

Diese Haltung schlug bei den Arbeitgebern in der Frage der Arbeitslosenversiche-rung in Widerstand um. Sie verweigerten die finanzielle Beteiligung bei einer ver-pflichtenden Arbeitslosenversicherung (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 90-95; Schra-ge/Nijhof 1992: 38-40). Einen Arbeitgeberbeitrag qualifizieren sie mit der Bemer-kung ab, daß sie damit „Schießpulver zum Feind tragen“ (Ven 1948: 42) würden.

Trotz dieser politischen Spannungen wirkten sich jedoch die ideologischen Grundpo-sitionen der Akteure auf die Institutionalisierung der niederländischen Arbeitsmarkt-politik aus. Die Arbeitslosenversicherung wurde am Ende in der Tat als Aufgabe der von den Gewerkschaften und Arbeitgebern verwalteten Branchenvereinigungen insti-tutionalisiert. In der Frage der Arbeitsvermittlung wurde die konfessionelle Forde-rung der paritätischen Selbstverwaltung durch die Branche dagegen nicht durchge-setzt: Die Arbeitsvermittlung wurde zur Aufgabe des Staates, ohne daß die Gewerk-schaften und Arbeitgeber an der Regulierung beteiligt wurden. Obwohl letzteres an-gesichts der eben skizzierten Auffassungen der Konfessionellen paradox erscheint, läßt sich auch dies in gewisser Weise durch die „Versäulung“ und die konfessionelle Dominanz erklären. Wie und warum es zu diesem ambivalenten Ergebnis kam, soll nun im folgenden näher erläutert werden.

8.6 Die Institutionalisierung der Arbeitsvermittlung als staatliche