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Die Allianz der Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Trägerfrage Bereits im Anschluß an die Einführung der Erwerbslosenfürsorge begannen 1918 die

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

6.5 Die Allianz der Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Trägerfrage Bereits im Anschluß an die Einführung der Erwerbslosenfürsorge begannen 1918 die

Vorbereitungen für die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Bis zur endgülti-gen Verabschiedung des AVAVG 1927 wurden drei Entwürfe vorgelegt. Alle drei Entwürfe wurden von heftigen Diskussionen im Reichstag, Reichsrat, (vorläufigen) Reichswirtschaftsrat77 und zwischen dem Reich, den Gewerkschaften, den Arbeitge-bern, den Ländern und den Gemeinden begleitet. Die Auseinandersetzung um die Arbeitslosenversicherung kumulierte dabei zu einer der zentralen sozialpolitischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik. Aus der Perspektive der Gewerk-schaften und Arbeitgeber standen dabei zwei Fragen im Mittelpunkt: erstens die An-bindung der Versicherung an die Arbeitsnachweise, zweitens eine entscheidende Mitverwaltung der Gewerkschaften und Arbeitgeber bei beiden Aufgaben.

77 Der Reichswirtschaftsrat wurde im April 1920 gebildet und hatte die Funktion, den Reichstag in wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu beraten. Er war mit Vertretern der Arbeitgeber und Ar-beitnehmer aus den verschiedensten Wirtschaftsbereichen sowie mit vom Reichsrat und von der Reichsregierung ernannten „Persönlichkeiten“ besetzt. Seine Gründung war als eine „vorläufige“

gedacht, weil an seine Stelle später „regionale Bezirksräte“ und ein „endgültiger Reichswirt-schaftsrat“ treten sollten. Diese Umstrukturierung fand jedoch nicht statt. Im Jahr 1933 wurde der Reichswirtschaftsrat abgeschafft (vgl. Preller 1949: 251-252).

Es war noch der sozialdemokratische Reichsarbeitsminister Schlicke, der im An-schluß an die Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge im November 1919 den er-sten Entwurf zur Einführung einer Arbeitslosenversicherung78 vorlegte. Die Arbeits-losenversicherung sollte nach Schlickes Vorstellungen organisatorisch an die Träger der Krankenversicherung angeschlossen werden. Eine Anbindung an die Arbeits-nachweise empfand das RAM unter Schlicke als ungeeignet, weil diesen Versiche-rungsaufgaben, wie die Feststellung des Versicherungsfalls, der Beiträge und der Leistung „wesensfremd“ (zit. nach Führer 1990: 254) seien. Der Arbeitsnachweis sollte nur Verwaltungsarbeit übernehmen, aber nicht in den Instanzenzug eingebun-den wereingebun-den. Das RAM unter dem Sozialdemokraten Schlicke, „sah mithin in der Ar-beitslosenversicherung zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Kompensation der sozia-len Folgen der Arbeitslosigkeit“ (Führer 1990: 254).

Der Entwurf Schlickes zog aufgrund dieser losen Verbindung der Versicherung mit dem Arbeitsnachweis sowohl von wissenschaftlicher79 als auch von politischer Seite Kritik auf sich.80 Der Arbeitsrechtler Kumpmann (1923: 821) bemerkt im Rückblick auf den Entwurf, daß „nicht häufig ein Entwurf so einhellig von der wissenschaftli-chen Kritik verworfen worden ist“. Auch die Unternehmer und Gewerkschaften op-ponierten heftigst. Im Gegensatz zum RAM unter Schlicke verstanden sie unter der Frage der Arbeitslosenversicherung weit mehr als eine Kompensationseinrichtung.

Die DAGZ, die VDA und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB)81 forderten, die Nachweise zum Träger der Versicherung zu machen (vgl. Führer 1990:

255-256).

Dabei waren besonders die Arbeitgeber unzufrieden. Durch die Anbindung der Ver-sicherung an die KrankenverVer-sicherung vermuteten sie eine gezielte Schwächung

78 Zum ersten Entwurf der Einführung einer Arbeitslosenversicherung vgl. Lewek 1992: 162-180;

Führer 1990: 252-258; Wermel/Urban 1949b: 31-34; Preller 1949: 179-280.

79 Fachleute des Arbeitsrechts, wie Prof. Walter Kaskel und Dr. Karl Kumpmann, traten aus ver-waltungstechnischen Gründen vehement dafür ein, die Versicherung an den Nachweis anzu-schließen (vgl. Wermel/Urban 1949b: 32-33).

80 Stellvertretend für die grundsätzliche Kritik der Zeitgenossen sei folgende Kommentierung von Wermel und Urban angeführt: „Dieser Entwurf begegnete lebhafter Kritik. Vor allem wurde ge-tadelt, daß eine Organisation, die in keiner Weise die Voraussetzungen für die Durchführung der Arbeitslosenversicherung besäße wie die Krankenkasse, mit dieser Aufgabe betraut werden soll-te, und daß infolge der trotzdem unentbehrlichen Beteiligung des Arbeitsnachweiswesens zwei Instanzen mit der Behandlung des gleichen Falles beschäftigt würden, was nur zu einer völlig unnötigen Verteuerung und Erschwerung des Verfahrens führen könnte.“ (Wermel/Urban 1949b:

31-32)

81 Die Freien Gewerkschaften befanden sich in einer kleiner Zwickmühle: So präferierten sie zwar die Anbindung an die Nachweise und kritisierten ihre Nichteinbeziehung in die Vorbereitungen des Entwurfes als „Rückfall in die Zeiten des monarchischen Deutschlands“ (Führer 1990: 256).

Dennoch befanden sie aber, vermutlich weil der Entwurf vom ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiter Verbandes stammte, nämlich Alexander Schlicke, das Gesetz als an-nehmbar.

rer Position. Denn seitdem die Volksbeauftragten in den Ortskrankenkassen wieder die Zweidrittelmehrheit der Versicherten eingeführt hatten, betrachteten die Unter-nehmer, vornehmlich der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) und die DAGZ - wohl nicht zu unrecht - die Ortskrankenkassen als „Organe“ (Führer 1990:

258) der Freien Gewerkschaften. Ein zentrales Motiv des Widerstandes der Unter-nehmer war daher der vermutete Machtzugewinn der Gewerkschaften. Schlickes Vorhaben werteten sie als Versuch, den Arbeitgebern Kosten aufzutragen (die Bei-träge zur Arbeitslosenversicherung), ohne ihnen eine Mitverwaltung zugestehen zu wollen. In einer Kommentierung des Entwurfs von Schlicke brachte dies die DAGZ unmißverständlich zum Ausdruck:

Dagegen [gegen die Anbindung an die Krankenkassen] muß die Arbeitgeberschaft sich ganz energisch wehren und eine völlige Parität der Verwaltung anstreben (DAGZ, Nr. 32, 8.8.1920;

zit. nach Führer 1990: 258).

Ob die Anbindung an die Krankenkassen von Schlicke deshalb vorgeschlagen wurde, um auf diesem Weg den Einfluß der Arbeitgeber auf die Arbeitslosenversicherung zu mindern, wird von der Literatur leider nicht abschließend beantwortet.82 Wie es denn auch sei, in jedem Fall wurden die Bemühungen Schlickes durch die Reichstagswahl im Juni 1920 unterbrochen. In deren Folge löste Heinrich Brauns Alexander Schlik-ke als Reichsarbeitsminister ab.

Dieser Amtswechsel vom Sozialdemokraten und ehemaligen Vorsitzenden des Deut-schen Metallarbeiterverbandes Schlicke zum Zentrumspolitiker und Katholiken Brauns wird auch mit einer Neuakzentuierung der Politik des RAM verbunden. So betont Führer:

Mit dem Ministerwechsel von Schlicke zu Brauns, der als ehemaliger Direktor des Volksver-eins für das katholische Deutschland dem in der Gedankenwelt der katholischen Sozialreform zentralen Gedanken der Gleichberechtigung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern verpflichtet war, verlor dieser Versuch, eine nichtparitätische Verwaltung der Versicherung gleichsam durch die Hintertür in das Gesetz einzubringen, seine politische Basis (Führer 1990: 259; Herv.

durch Führer).

82 So vermutete Führer, daß Schlicke durchaus den „Effekt“ gewünscht haben könnte, den sein Entwurf hervorrief: „Eingedenk der allen politisch Beteiligten bewußten großen arbeitsmarktpolitischen Bedeutung der Versicherung mag der Weg, die Benachteiligung der Arbeitgeber nicht direkt auszusprechen, sondern sie lediglich indirekt als Konsequenz der anders motivierten Wahl des Versicherungsträgers zu präsentieren, dem Ministerium erfolgversprechend erschienen sein.“ (Führer 1990: 258-259) An anderer Stelle hebt Führer jedoch auch hervor, daß das Ministerium unter Schlicke aus „Kostengründen die Schaffung eines neuen Verwaltungsapparates“ (Führer 1990: 253) vermeiden wollte und die bestehenden Anbindungsmöglichkeiten durch „negative Auslese“ (Führer 1990: 253) bestimmt wurden.

Führer selbst schränkt also die These der versuchten Entmachtung der Arbeitgeber mit finanzpolitischen Erwägungen im Ministerium ein. Erstaunlicherweise wird die von Schlicke vorgeschlagene Anbindung an die Träger der Krankenversicherung in der Forschung wenig diskutiert. So gehen Preller (1949: 279-180) und Lewek (1992: 162-180) auf die Hintergründe dieser Entscheidung Schlickes gar nicht, Wermel/Urban (1949b: 31-34) nur am Rande ein. Dies ist umso erstaunlicher, als der von Führer vermutete Schachzug Schlickes, die Arbeitgeber

„auszuschalten“, ja auch die These zuließe, daß der Selbstverwaltungsgedanke von der Bismarckschen Krankenversicherung auf die Arbeitslosenversicherung hätte überspringen können.

Auch innerhalb des Kabinetts formierte sich nun nach Brauns‘ Amtsübernahme - nach anfänglicher Zustimmung - eine breite Ablehnungsfront gegen Schlickes Ent-wurf. Wortführer der Kritiker unter den Ministerien war das Reichsfinanzministeri-um (RFM) unter Wirth. Wirth machte finanzpolitische Bedenken geltend (vgl. Le-wek 1992: 171). Die allgemeine Kritik konzentrierte sich jedoch immer mehr auf or-ganisatorische Grundfragen, auf die Frage der Trägerschaft. Sowohl die Länder als auch die Industrie und der Deutsche Städtetag forderten eine Anbindung der Arbeits-losenversicherung an die Arbeitsvermittlung:

Wie die Unternehmer begründete der Städtetag die Angliederung an die Arbeitsnachweise da-mit, daß nur so die Kontrolle der Arbeitslosen, die Bewilligung und Einstellung der Arbeitslo-senversicherung gewährleistet sei (Lewek 1992: 175).

Im Juli 1920 beauftragte daher Brauns das Reichsamt für Arbeitsvermittlung mit der Ausarbeitung von Vorschlägen, die dem Arbeitsnachweis eine hervorgehobenere Stellung einräumen sollten (vgl. Führer 1990: 259). Bereits die Diskussion um den ersten Entwurf einer Arbeitslosenversicherung drehte sich damit um die Forderung der Anbindung der Versicherung an die Nachweise. Die Arbeitslosenpolitik sollte nur soweit ausgebaut werden als sie „eine scharfe Kontrolle der Arbeitslosen gewährleistete“ (Lewek 1992: 176). In dieser Zielsetzung bildete sich zu diesem Zeitpunkt „zwischen Reich, Ländern, Kommunen und Unternehmern eine weitreichende Allianz heraus, der sich die Gewerkschaften schließlich anschlossen“

(Lewek 1992: 176).

Brauns nahm den Entwurf Schlickes noch während der Beratungen im Reichsrat im Januar 1921 „wegen des allgemeinen Widerstandes“ (Wermel/Urban 1949b: 34) zu-rück. Ob er dies nun wegen der allgemeinen Unzufriedenheit aufgrund der Träger-frage, wie es Führers Ausführungen83 vermuten lassen, tat, oder aufgrund finanzpoli-tischer Zwänge, die Lewek84 hervorhebt, kann an dieser Stelle nicht abschließend

83 Führer (1990: 259) bemerkt, daß Brauns - „erst als“ das Reichsamt für Arbeitsvermittlung die Trägerschaft der Kassen in seiner Antwort auf Brauns‘ Anfrage grundsätzlich kritisiert hatte - damit begann, auch die Frage der Trägerschaft neu zu regeln.

84 Lewek betont vor dem Hintergrund der ökonomischen Unruhe der Weimarer Republik in seiner gesamten Studie immer wieder die Bedeutung finanzpolitischer Zwänge. Für das Scheitern des ersten Entwurfes führt er an: „Die Entscheidung über die Zurückstellung der Arbeitslosenversi-cherung war ein Musterbeispiel dafür, wie sehr die Sozialpolitik abhängig war und ist von der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftspolitik: sozialpolitische [sic!] Initiativen können sich nur dort entfalten, wo ihnen von der Finanz- und Wirtschaftspolitik Raum gelassen wird. Dieser Spielraum bestand im Deutschen Reich zwischen 1918 und 1923 nicht.“ (Lewek 1992: 180) Die Rücknahme des ersten Entwurfs erklärt Lewek aus finanzpolitischen Engpäßen und nicht aus-schließlich aus dem Widerstand der Unternehmer und Gewerkschaften (vgl. Lewek 1992: 180).

Das Argument der finanzpolitischen Zwänge streckt Lewek dabei auf alle drei Entwürfe aus:

„Von 1918 bis 1927 läßt sich demnach die Geschichte der Erwerbslosenfürsorge und die Ausein-andersetzung um die Einführung der Arbeitslosenversicherung als ein Prozeß beschreiben, in dem sich der Staat schrittweise der finanziellen Verantwortung für die Arbeitslosenpolitik zu ent-ledigen suchte.“ (Lewek 1992: 400)

urteilt werden und ist in unserem Zusammenhang auch zweitrangig. Wichtig ist vielmehr, daß dieses Scheitern des ersten Entwurfs und die heftige Diskussion um die Trägerschaft deutlich gemacht haben, daß in Deutschland eine Arbeitslosenversi-cherung nicht wie in England im Schnellgang eingeführt werden konnte.

Bemerkenswert ist zudem, daß sich in den kritischen Positionen der Gewerkschaften und Arbeitgeber bereits bei diesem ersten Entwurf eine Gemeinsamkeit abzeichnete:

die Forderung der Anbindung an die Nachweise. Warum diese Forderung aber weit mehr bedeutete als eine Allianz in der Frage der Kontrolle der Arbeitslosen - wie Lewek (1992: 176) hervorhebt - und warum diese Parallele politisch so wirkungsvoll wurde, daß sie den Gang der folgenden Diskussionen beherrschte, wird nur verständ-lich, wenn man sich die Querverbindung zur Erwerbslosenfürsorge, und damit zur Rolle der kommunalen Kompetenzen, vor Augen führt.

Die Institutionalisierung der Arbeitslosenversicherung steht in Deutschland in einem engen Zusammenhang mit der Erwerbslosenfürsorge.85 Denn aus der Art der Ausge-staltung der Erwerbslosenfürsorge entwickelten sowohl das RAM als auch die Ge-werkschaften und Arbeitgeber einen Teil ihrer Positionen zur Arbeitslosenversiche-rung. Bei den Arbeitgebern, und das ist insbesondere im Rahmen der vergleichenden Perspektive dieser Arbeit zu betonen, schlug die Kritik an der Erwerbslosenfürsorge sogar in eine Zustimmung zur Versicherung um.

Im Hinblick auf den ersten Entwurf zur Verabschiedung einer staatlichen Arbeitslo-senversicherung äußert sich dieser Zusammenhang vor allem darin, daß man sich auf der Seite der Arbeitgeber wegen der Unzufriedenheit mit der Erwerbslosenfürsorge mit dem Gedanken eines unternehmensseitigen Beitrages für eine Arbeitslosenversi-cherung anzufreunden begann. Führer stellt den Zusammenhang zwischen der Er-werbslosenfürsorge und der Position der Arbeitgeber hinsichtlich der Arbeitslosen-versicherung deutlich heraus, wenn er festhält:

Daß die Mehrheit der organisierten Arbeitgeber in den ersten Jahren der Republik für die Ar-beitslosenversicherung eintrat und auf die Wiederaufnahme der alten, gegen sie gerichteten Töne verzichtete, entsprang nicht einer sozialpolitischen ‚Bekehrung‘, sondern ihrer Unzufrie-denheit mit der Erwerbslosenfürsorge (Führer 1990: 209).86

85 Die Historiker folgen in der Interpretation der Verzahnung zwischen Erwerbslosenfürsorge und Arbeitslosenversicherung keiner einheitlichen Linie. So hält Lewek (1992: 16) die Erwerbslosen-fürsorge für eine „Abwehrstrategie“ gegen die Versicherung. Er wirft Führer (1990) vor, daß Führer demgegenüber die Erwerbslosenfürsorge als „direktes Erprobungs- und Exerzierfeld für die Arbeitslosenversicherung“ (Lewek 1992: 16) ansehen würde.

86 Ähnlich äußert sich Mares (1996: 17): „The gradual change in the preferences of employers in large firms and their endorsement of a system of unemployment insurance results from this dis-satisfaction of employers with the system of unemployment assistance.“

Mit der Einführung einer Arbeitslosenversicherung anstelle der Erwerbslosenfürsor-ge wollten die Unternehmer „den Beelzebub, die ErwerbslosenfürsorErwerbslosenfürsor-ge, durch den harmloseren Unterteufel“ Arbeitslosenversicherung „austreiben“87. Die Arbeitgeber setzten sich für die Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung ein, um dadurch Einfluß auf das System der Erwerbslosenfürsorge zu gewinnen.

Den endgültigen Stimmungsumschwung in Richtung Versicherung auf Seiten der Arbeitgeber datiert Lewek dabei auf das Ende des Jahres 1920. Im Dezember 1920 unterbreitete der RDI88 der Regierung „erstmals detaillierte Vorstellungen der Indu-strie zur Arbeitslosenversicherung“ (Lewek 1992: 189). Die Unternehmer warfen der Erwerbslosenfürsorge vor, daß diese Arbeitsunwilligkeit begünstige und „demorali-sierend“89 wirke, weil die Fürsorge von den Leistungsempfängern keine Gegenlei-stung verlange. Der Verband Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (VDEStI) führ-te in seiner Kommentierung an, daß durch die Einführung einer Versicherung „die Willkür der Gemeinden und Länder bei der Zuteilung und Festsetzung der Unterstüt-zung ... wenigstens zum großen Teil beseitigt“90 werden könnte.

Es zeichnete sich ein Streit innerhalb des Arbeitgeberlagers ab, der seinen Ursprung in einem „ökonomische[n] Interessengegensatz zwischen Großindustrie einerseits und Klein- und Mittelbetrieben andererseits“ (Führer 1990: 213) hatte. Während die eher auf lokaler Ebene operierenden Klein- und Mittelbetriebe in einer Beitrags-pflicht mehr Nachteile sahen als im System der Erwerbslosenfürsorge, war die durch den RDI repräsentierte Groß- und Schwerindustrie91, die auf nationaler und interna-tionaler Ebene tätig war, eher bereit die Kosten einer Versicherung auf sich zu neh-men, um dadurch Einfluß auf die Durchführung der Unterstützung zu bekommen (vgl. Führer 1990: 214).92 Der RDI drängte auf eine „positive Mitarbeit an den Ge-setzentwürfen“ (Führer 1990: 215).

87 Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt, 29. Jg., 1919/20, Sp. 1396; zit. nach Lewek 1992:

176.

88 Der RDI war im Februar 1919 durch einen Zusammenschluß vom CVDI, dem Verbandsvertreter der alten Industrien Eisen, Stahl und Textil, und vom BdI, der Organisation der neuen und ex-pandierenden Branchen Elektro, Chemie und Maschinenbau, gegründet worden (Führer 1990:

201). Vom RDI wurde dabei eine „enge und personelle Verflechtung“ (Führer 1990: 201) des RDI mit dem VDA angestrebt.

89 DAGZ, Nr. 2, 11.1.1920; zit. nach Führer 1990: 210.

90 Schoppen, H. (1921): Die Arbeitslosenversicherung, in: Stahl und Eisen 41(2): 1853; zit. nach Führer 1990: 211-212.

91 Die Schwerindustrie besaß im RDI anfänglich eine starke Position. Mit der Wahl des Chemiein-dustriellen Carl Duisberg zum Verbandsvorsitzenden wurde diese Vormachtstellung nach 1924/25 immer stärker zurückgedrängt (vgl. Führer 1990: 202).

92 Ausführlich zu den Positionen der verschiedenen Verbände der Arbeitgeber zwischen 1920 und 1923 vgl. Führer 1990: 209-216.

Trotz des Dissenses im Arbeitgeberlager, auf den ich im Rahmen der Diskussionen um den dritten Entwurf in den Jahren 1925 bis 1927 zurückkommen werde, zeichne-te sich in der Kritik am erszeichne-ten Entwurf somit ein Bezug zur kommunalen Praxis im Umgang mit der Verordnung zur Erwerbslosenfürsorge ab.

Auch im zweiten Vorstoß für einen Entwurf für eine Arbeitslosenversicherung93, den Heinrich Brauns 1922 startete, ist dieser Bezug zur Erwerbslosenfürsorge klar er-kennbar. Im Zuge des Ruhrkampfes und der Hyperinflation standen bei der Arbeits-losenpolitik des Reiches immer mehr finanzpolitische Interessen im Vordergrund, weil das System der Erwerbslosenfürsorge den finanziellen Belastungen immer we-niger „gewachsen“ (Faust 1987: 265) war. Oscar Weigert, Ministerialrat im Reichs-arbeitsministerium, brachte die finanzpolitischen Erwägungen seines Ministeriums im Frühjahr 1924 folgendermaßen zum Ausdruck:

Es mußten neue Einnahmen erschlossen werden, um Reich, Länder und Gemeinden finanziell zu entlasten; gleichzeitig mußten die Aufwendungen der Erwerbslosenfürsorge auf das unerläßliche Maß beschränkt werden; schließlich mußte versucht werden, die produktiven Formen der Erwerbslosenfürsorge weiter zu entwickeln (Oscar Weigert; zit. nach Faust 1987:

265).

Bereits Brauns‘ Denkschrift zur weiteren Behandlung der Arbeitslosenversicherung vom Dezember 1920 zielte in ihrem Grundtenor darauf ab, die Mängel der Erwerbs-losenfürsorge zu beseitigen (vgl. Lewek 1992: 181-182). Dabei ging es Brauns vor allem um die Abwälzung der Kosten der Erwerbslosenfürsorge und um die ungenü-gende Anbindung an die Vermittlung. Dem „Drucke der Inflation“ (Preller 1949:

280) konnte dieser Entwurf jedoch nicht standhalten94, so daß dieser zweite Vorstoß in einer „vorläufigen Arbeitslosenversicherung“95 endete.

Die „vorläufige Arbeitslosenversicherung“ bedeutete eine Neuauflage der Erwerbs-losenfürsorge und die bereits angesprochene Umstellung der Finanzierung dieser Fürsorge auf Beiträge der Arbeitnehmer und Unternehmer. Vier Fünftel des Auf-wands wurden von nun an von den Tarifpartnern aufgebracht. Die Verordnung vom 15. Oktober 1923 institutionalisierte damit das bereits im Rahmen des ersten Entwur-fes gegebene grundsätzliche Einverständnis der Gewerkschaften und Arbeitgeber für eine Beitragspflicht der Arbeitsmarktparteien.

93 Vgl. ausführlich zum zweiten Entwurf Lewek 1992: 181-197; Führer 1990: 259-285.

94 Wermel/Urban (1949b: 38-39) führen als Beweggrund für den Rückzug Brauns‘ an, daß das Fortschreiten des Verfalls der Währung sowie die Besatzung des Ruhrgebietes durch die Franzo-sen im Januar 1923 vor allem in den besetzten Gebieten zu einer MasFranzo-senarbeitslosigkeit führten, die die finanzpolitischen Kapazitäten des Reiches maßlos überforderten.

95 Brauns wählte diesen Zusatz „vorläufig“, weil er in seinem zweiten Entwurf keinen Rechtsträger für die Versicherung nannte. Die Trägerschaft der Krankenkassen hatte er aufgegeben. Er setzte aber auch keinen neuen Träger ein. Sein Entwurf unterschied zwischen dem Fürsorgesystem, das er an die kommunalen Nachweise anbinden wollte, und einem Beitragssystem. Die kommunalen Nachweise sollten nach Brauns‘ Entwurf auch die Anträge der Versicherung prüfen (vgl. Führer 1990: 259-260).

Besonderes Kennzeichen der Diskussion im Winter 1921/22 war „die Bereitschaft von Gewerkschaften und Industrie, mit der Regierung zusammenzuarbeiten“ (Lewek 1992: 188). Preller (1949: 280) hält bezüglich der Diskussionen zwischen Reich, Gewerkschaften und Arbeitgebern um den zweiten Entwurf fest, daß „in der Frage der Heranziehung der unmittelbar Beteiligten, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu Beiträgen kein Streit mehr“ bestand.

Hält man sich die eben beschriebenen Entwicklungen Anfang der 1920er Jahre in ih-rer Gesamtheit vor Augen, so gilt es festzuhalten, daß man 1923 in vielen Streitpunk-ten bereits Einigkeit erreicht hatte. Das ANG von 1922 schuf trotz seiner Unzuläng-lichkeiten eine erste gesetzliche Grundlage für ein einheitliches Arbeitsnachweiswe-sen. Die Einführung der Beitragsfinanzierung in der Erwerbslosenfürsorge verlagerte den Kern der Auseinandersetzung in der Frage der Arbeitslosenversicherung auf Aspekte außerhalb der Finanzierung. Das Prinzip der reinen Fürsorge war durch die Einführung der Beiträge und der Wartezeit aufgehoben.

Was noch fehlte, war eine adäquate Einbindung der Gewerkschaften und Arbeitge-ber. Denn da die Träger der Erwerbslosenfürsorge die Errichtungsgemeinden der öf-fentlichen Nachweise waren, konnte von einer Mitverwaltung durch die Gewerk-schaften und Arbeitgeber noch keine Rede sein.

Es war eben diese kommunale Dominanz in der Arbeitsmarktpolitik, die die Ge-werkschaften und Arbeitgeber weiterhin stark kritisierten. Die freien Verbände for-derten, die „Umklammerung“ (Führer 1990: 275) des Arbeitsnachweises durch die Gemeindeverwaltung aufzuheben, und kritisierten, daß die Verpflichtung zur Lei-stung der Beiträge kein „uneingeschränktes Recht auf Selbstverwaltung nach sich“

(Führer 1990: 275) zog. Der ADGB trat immer wieder als vehementer Verfechter ei-nes Rechtsanspruches auf eine Arbeitslosenversicherung auf. Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit am 20. Februar 1925 forderte Franz Spliedt, damals Vorsitzender des ADGB, diesen Rechtsanspruch offen ein:

Wer Beiträge leistet, muß das Recht auf Unterstützung haben ... Will man dieses nicht oder kann man es nicht, dann bleibt uns nur ein Weg, und der ist: wieder zurück zur Fürsorge, die einzig aus öffentlichen Mitteln gespeist wird. Ob man das kann oder will, weiß ich nicht. Einen zweiten Weg gibt es aber nicht (Spliedt 1925: 37; Herv. durch Spliedt).

Wie die Gewerkschaften empfanden auch die Arbeitgeber die Selbstverwaltung als

„unzureichend“ (Fukuzawa 1995: 240). Sie traten für eine Revision des

„unzureichend“ (Fukuzawa 1995: 240). Sie traten für eine Revision des