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Die Kommunen als Träger der Erwerbslosenfürsorge

Teil II Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsverwaltung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden

6.4 Die Kommunen als Träger der Erwerbslosenfürsorge

Der Erste Weltkrieg brachte in Deutschland nicht nur die Zentralisierung des Ar-beitsnachweiswesens, sondern auch die Organisierung einer staatlichen Arbeitslo-senunterstützung (der sogenannten Erwerbslosenfürsorge) in Gang.72 Die „Beeinflu-ßung des Arbeitsmarktes“ wurde während des Ersten Weltkrieges zum „sozialpoliti-schen Zentralproblem“ (Preller 1949: 61). Nachdem die Reichsregierung die Forde-rung der Gewerkschaften nach der EinfühForde-rung einer ArbeitslosenversicheForde-rung wäh-rend des Ersten Weltkrieges nicht aufgegriffen (vgl. Wilke/Götz 1980: 14) und die Unterstützungssysteme der Gewerkschaften und Kommunen zu Kriegsbeginn trotz der Überforderung ihrer finanziellen Belastbarkeit nicht gestützt hatte (vgl. Lewek 1992: 32), begann das Reich erst ab 1918, sich finanziell an der Unterstützung Ar-beitsloser zu beteiligen.

71 Vgl. hierzu stellvertretend die Einschätzung in der Erinnerungsschrift des RAM von 1928: „In dem Nebeneinander von Dienstaufsicht und Fachaufsicht, das sich daraus ergab, lag, wie sich später zeigte, die größte Schwäche des Gesetzes.“ (RAM 1929: 145)

72 Vor dem Ersten Weltkrieg gab es nur als Teil der Armenpflege eine öffentliche Fürsorge für Ar-beitslose. Die Armenpflege war aber regional unterschiedlich und in ländlichen Gebieten schwach ausgeprägt (vgl. RAM 1929: 157). Sachße/Tennstedt (1988: 9) sprechen davon, daß die Fürsorge bis 1914 nur eine Ergänzung zum System der Sozialversicherung, zur „Arbeiterpolitik“, darstellte, während die Fürsorge mit dem Ersten Weltkrieg „über die herkömmlichen Armuts- und Unterschichtenpopulationen hinaus ausgeweitet“ wurde und so auch erstmals Teile des Mit-telstandes erfaßt wurden. Zur Entwicklung und Geschichte der deutschen Armenpolitik bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Sachße/Tennstedt 1980.

Der Startpunkt der öffentlichen Intervention liegt in der Verordnung über die Er-werbslosenfürsorge vom 13. November 1918. Mit dieser Verordnung wurde eine be-dürftigkeitsabhängige Arbeitslosenunterstützung als kommunale Pflichtaufgabe ein-geführt. Die Zeichen der Zeit, das Ende des Ersten Weltkrieges und die revolutionä-ren Unruhen, brachten es mit sich, daß an der „Ausarbeitung“ dieser Verordnung die Gewerkschaften „entscheidend mitbeteiligt“ (Wermel/Urban 1949b: 24) waren.

Schon das Datum der Verordnung, November 1918, deutet an, daß die Einführung der Erwerbslosenfürsorge natürlich auch unter dem Ziel stand, die drohende Revolu-tion abzuwehren. Lewek betont dies im besonderen Maße:

Die Erwerbslosenfürsorge und die Bemühungen zur Einrichtung einer Arbeitslosenversiche-rung in Deutschland seit 1919 können kaum verstanden werden, wenn nicht berücksichtigt wird, daß durch die Sozialpolitik, besonders in den ersten kritischen Nachkriegsjahren, der Ra-dikalität der deutschen Arbeiterbewegung die Spitze genommen werden sollte (Lewek 1992:

105).

Bedeutungsvoller als die Beteiligung der Gewerkschaften ist jedoch der Umstand, daß auch die Arbeitgeber diese erste gesetzgeberische Maßnahme zur Unterstützung von Arbeitslosen billigten. Die „Abwehr sozialer Unruhen und revolutionärer Um-brüche“ führte bei einem Teil der Arbeitgeber zu einem „allgemeine[n] Stimmungs-wandel zugunsten einer großzügig geregelten Erwerbslosenfürsorge“ (Lewek 1992:

51). Damit kippte die vor und während des Ersten Weltkrieges kategorische Ableh-nung der Einführung einer Arbeitslosenversicherung auf Seiten der Arbeitgeber. Sie stimmten der „Einführung einer zeitweiligen Arbeitslosenunterstützung“ (Führer 1990: 136) zu. Erkannten die Arbeitgeber noch während des Ersten Weltkrieges ih-ren Vorteil im Fehlen einer Arbeitslosenversicherung, und lehnten der Centralver-band Deutscher Industrieller (CVDI), die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeber-verbände (VDA) und der Bund der Industriellen (BdI), die Handelskammern wie auch die Interessenverbände der landwirtschaftlichen Unternehmer die Einführung einer Arbeitslosenversicherung ab73, so betrachteten sie mit Kriegsende dieses Fehlen als Nachteil für die Verfolgung der eigenen Interessen und für den Fortbestand des politischen Einflusses. Nachdem die „Deutsche Arbeitgeber-Zeitung“ (DAGZ) die Forderung der Freien Gewerkschaften nach einer obligatorischen Arbeitslosenversi-cherung im April 1918 bezeichnenderweise noch mit der Begründung verweigerte, daß man damit die Arbeitgeber in die Position bringen würde, „selber das Messer zu schleifen, das dann gegen sie in Form von Streiks und sonstigen Arbeitsunruhen zu gelegener Zeit geführt werden soll“74, vollzogen die Arbeitgeber in den letzten Kriegswochen, als die Großindustrie die Kontakte zu den Gewerkschaften aufbaute, eine erste Annäherung an den Gedanken einer Arbeitslosenunterstützung.

73 Zur Ablehnung einer Arbeitslosenversicherung durch die Arbeitgeber zur Kaiserzeit vgl. Führer 1990: 82-93 und Faust 1986: 170-177; zur Position der Arbeitgeber während des Ersten Welt-krieges vgl. Führer 1990: 134-135.

74 „Deutsche Arbeitgeber-Zeitung“ (DAGZ), Nr.16, 21.4.1918; zit. nach Führer 1990: 135.

Der Vorstand des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller stimmte den am 26. Oktober 1918 von den Gewerkschaften aufgestellten Forderungen (Anerkennung der Gewerkschaften, Abschluß von Tarifverträgen, Beseitigung des Kampfcharakters der Arbeitsnachweise und Einrichtung und Beteiligung an einer Arbeitslosenversi-cherung) als Voraussetzungen für eine weitere Zusammenarbeit zu. Damit wurde zwar die Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung nicht ausdrücklich unterstützt (vgl. Führer 1990: 136), aber dennoch ein erster Schritt in Richtung einer finanziel-len Beteiligung der Arbeitgeber an der Versicherung getan. Nachdem sich also be-reits Anfang 1918 die Gewerkschaften für die Einführung einer staatlichen Arbeits-losenversicherung ausgesprochen hatten, legten im Herbst 1918 auch die Arbeitgeber ihr grundsätzliches Veto in der Frage der Arbeitslosenversicherung zu den Akten.

Die Verordnung zur Erwerbslosenfürsorge verpflichtete nun die Gemeinden, außer-halb der bestehenden Armenfürsorge eine Erwerbslosenfürsorge einzurichten. Beige-stellt wurden ihnen paritätisch besetzte Fürsorgeausschüsse. Die Kosten der Erwerbs-losenfürsorge wurden gezwölftelt: sechs Zwölftel trug das Reich, vier Zwölftel tru-gen die Länder und zwei Zwölftel die Gemeinden. Anspruchsberechtigt waren Per-sonen, die arbeitsfähig und -willig, aber infolge des Krieges erwerbslos und bedürftig waren. Die Beschränkung auf Arbeitslosigkeit, die durch Kriegsfolgen verursacht war, läßt deutlich erkennen, daß man der Verordnung nur vorübergehenden Charak-ter zuschrieb. Nach einem Jahr sollte sie wieder außer Kraft treten. Man dachte je-doch nicht daran, diese Verordnung ersatzlos zu streichen. Vielmehr ging die Reichs-regierung davon aus, anstelle der Erwerbslosenfürsorge eine staatliche Versicherung einzurichten (vgl. Führer 1990: 170).

Bei der Durchführung der Erwerbslosenfürsorge überließ man den Gemeinden aller-lei Spielräume. Sowohl die Höhe der Unterstützung als auch die Festsetzung der Wartezeit lagen im Kompetenzbereich der Gemeinden. In der Folge wurde die Er-werbslosenfürsorge, die bis 1927 die einzige gesetzliche Grundlage für die Arbeitslo-senunterstützung des Reiches blieb, zu einer Angelegenheit der kommunalen Politik und Verwaltung. Durch die kommunale Eigenmacht in der Erwerbslosenfürsorge tra-ten auf lokaler Ebene höchst unterschiedliche Handhabungen der neuen Verordnung auf (vgl. Weller 1969: 38-39).

Da der Anteil der Kommunen an der Finanzierungslast nur sehr marginal war, überstiegen die Kosten der Erwerbslosenfürsorge sehr bald die Leistungsfähigkeit und -willigkeit des Reiches und der Länder. Im Jahr 1919 begann man schließlich durch zahlreiche Regelungen, die Kosten in Zaum zu halten. Es wurden Höchstsätze festge-legt und eine Höchstdauer der Leistung gesetzt. Ludwig Preller hebt hervor, daß der geringe kommunale Eigenanteil in kurzer Zeit „Vorschriften erforderlich [machte], um den finanziell nur wenig interessierten Gemeinden die Sorge um die Unterbrin-gung der Erwerbslosen in der Wirtschaft nahezulegen“ (Preller 1949: 236).

Im Jahr 1920, und dies sollte für die weitere Entwicklung nicht ohne Bedeutung bleiben, wurden die gemeindlichen Fürsorgeausschüsse dazu verpflichtet, mit den kommunalen Arbeitsnachweisen zusammenzuarbeiten. Die Lösung der Finanzpro-bleme wurde in einer Anbindung der Fürsorge an die Arbeitsvermittlung gesehen.

Die Versuche des Reiches, eine finanzpolitische Entlastung zu erreichen, fanden mit der Verordnung vom 15. Oktober 192375 ihren vorläufigen Höhepunkt: Das Reich führte eine Beitragsfinanzierung der Erwerbslosenfürsorge ein. Durch diese Neuord-nung hatten die Arbeitsmarktpartner zwar die Kosten der Arbeitslosenunterstützung zu tragen, aber keinerlei Einfluß auf die Kontrolle. Die zentrale Rolle der Gemeinden in der Arbeitsmarktpolitik wurde dadurch gestärkt, daß sie als Vorsitzende der kom-munalen Nachweise zugleich auch über die Anträge zur Erwerbslosenfürsorge ent-scheiden sollten. Daneben wurden die Fürsorgeausschüsse, in denen die Gewerk-schaften und Arbeitgeber vertreten waren, aufgelöst.

Die öffentliche Arbeitsmarktpolitik hing fortan im wesentlichen vom kommunalen Eigeninteresse ab.76 Arbeitsmarktpolitik wurde eine „Domäne der Gemeindepolitik“

(Führer 1990: 251). Die Arbeitgeber, Gewerkschaften, die Länder und das Reich warfen den Gemeinden Mißbrauch vor (vgl. Führer 1990: 251). Die Gemeinden nutzten die Arbeitsvermittlung und die Erwerbslosenfürsorge als „substitutive Mög-lichkeiten ... , sich der herkömmlichen kommunalen Fürsorgepflichten zu entledigen“

(Hentschel 1983: 109). Die Länder warfen den Gemeinden vor, sich mit der Erwerbslosenfürsorge von den Kosten der Wohlfahrtsunterstützung zu entlasten (vgl.

Führer 1990: 251). Weil die kommunalen Nachweise die Beiträge zur Erwerbslosen-fürsorge festsetzten, gab es im System der ErwerbslosenErwerbslosen-fürsorge lokal höchst unter-schiedliche Verfahrensweisen (vgl. Führer 1990: 261).

Faßt man nun die ersten Interventionen des Reiches auf dem Gebiet der Arbeitsver-mittlung und Arbeitslosenunterstützung zusammen, so zeigt sich, daß die Arbeits-marktpolitik in Weimar zunächst auf kommunaler Ebene, d.h. als Teil der Kommu-nalverwaltung, unter Mitverwaltung der Gewerkschaften und Arbeitgeber institutio-nalisiert wurde. Zudem schuf das Reich Anfang der 1920er Jahre auf kommunaler Ebene eine institutionelle Verbindung zwischen der Arbeitsvermittlung und der öf-fentlichen Arbeitslosenfürsorge und es beteiligte mit der Verordnung aus dem Jahre 1923 die Arbeitnehmer und Arbeitgeber an den Kosten.

75 Zu den Regelungen der Verordnung vom 15.10.1923 vgl. Weller 1969: 51-52.

76 Faust (1982a: 267) kommt zu der Einschätzung, daß sich eine „einheitliche Arbeitsmarktorgani-sation schwerlich durchzusetzen“ war, solange die Kommunen sich in einer derart hervorgehobe-nen Position befanden.

Diese kommunaler Vorherrschaft wurde zum wichtigen Resonanzboden für die Ein-führung der Arbeitslosenversicherung. Sie führte zu einer Allianz der Gewerkschaf-ten und Arbeitgeber in der Trägerfrage. Diese Allianz spricht den Konsens der Ge-werkschaften und Arbeitgeber an, erstens die Erwerbslosenfürsorge durch eine Ver-sicherung zu ersetzen, zweitens die VerVer-sicherung mit der Vermittlung institutionell zu verbinden und drittens beide Aufgaben zusammen einer öffentlichen Körperschaft mit Selbstverwaltung zu übertragen. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber stimmten also darin überein, die Kommunen aus der Verwaltung der Arbeitsmarktpolitik zu drängen.

Im folgenden soll nun anhand der Diskussionen über die Erwerbslosenfürsorge und über die drei Gesetzentwürfe zur Arbeitslosenversicherung (1919, 1922, 1925) dar-gestellt werden, wie es zu dieser Allianz der Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Trägerfrage kam. Dabei wird sich zeigen, daß bereits vor der Umstellung der Er-werbslosenfürsorge auf eine Beitragsfinanzierung die Arbeitgeber und Gewerkschaf-ten die kommunale Trägerschaft in der Arbeitsmarktpolitik kritisierGewerkschaf-ten. Die Erwerbs-losenfürsorge trug zum grundsätzlichen Stimmungsumschwung der Arbeitgeber in der Frage der Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung bei.

6.5 Die Allianz der Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Trägerfrage