• Keine Ergebnisse gefunden

8 Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

8.1 Herr Wellmann: „Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie

8.1.2 Rekonstruktion der Fallgeschichte von Herrn Wellmann

Herr Wellmann wird 1935 geboren. Wann genau sein Vater stirbt, ist unklar, aber es ist davon auszugehen, dass Herr Wellmann ab seinem vierten Lebensjahr mehr oder weniger ohne Vater auf-wächst. Unklar ist ebenfalls, ob seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes erneut heiratet oder ver-witwet bleibt. Das Einkommen der Familie wird folglich entweder allein von Herrn Wellmanns Mutter oder durch einen neuen Partner (potenziell mit ihrer Unterstützung) generiert.

Herr Wellmann erlebt als kleines Kind die Bedrohung des Krieges und die Jahre der Nachkriegs-zeit. Aussagen über ein familiäres Netzwerk aus Geschwistern, Großeltern und weiteren Ver-wandten sowie Freunden der Familie können jedoch nicht getroffen werden. Vor dem Hinter-grund dieser Entwicklung scheint es, als müsse Herr Wellmann als Kind früh über eine gewisse Selbstständigkeit verfügen.

| 145

„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

Herr Wellmann besucht eine weiterführende Schule und studiert nach dem Abitur, was etwa um das Jahr 1955 herum zu datieren ist. Dies ist zur damaligen Zeit aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht der Regelfall: Die zunehmende Wirtschaftskraft in Deutschland nach dem Krieg und der Nachkriegszeit führen zu einer Vollbeschäftigung, und ein gutes Einkommen im nicht-akademischen Sektor ist möglich. Dass Herr Wellmann dennoch studiert und damit auf Jahre fi-nanzieller Einnahmen verzichtet und er bzw. seine Familie sogar entsprechende Ausgaben in Kauf nehmen, weist auf eine gewisse Bildungsnähe oder Aufstiegsorientierung seiner Herkunftsfamilie hin, ebenso auf entsprechende finanzielle Ressourcen. Dies umso mehr, als dass Herr Wellmann ohne leiblichen Vater aufwächst und die Kosten für das Studium einem potenziell guten Einkom-men, das mit einem Lehrberuf erzielt werden könnte, entgegenstehen. Dennoch bleibt ungewiss, wie Herr Wellmann sein Studium finanziert: Erst mit dem 1957 eingeführten Honnefer-Modell bekommen Student*innen die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung, auf die es jedoch kei-nen Rechtsanspruch gibt und die bis zur Ablösung durch das BAföG 1971 jährlich nur wenige Student*innen erhalten (vgl. Deutschlandfunk 2006). Es ist also eher wahrscheinlich, dass finan-zielle Ressourcen 10 Jahre nach dem Krieg bereitstanden oder dass Herr Wellmann selbst sein Studium finanziert. Informationen dazu liegen aber nicht vor.

8.1.2.2 Familiengründung

Herr Wellmann heiratet 1961 in A-Stadt seine 24–jährige Partnerin. Sie arbeitet im Finanz-dienstleistungssektor. Unklar ist, ob auch sie über eine akademische Ausbildung verfügt. Eine Lehre im Finanzdienstleistungssektor ist allerdings zu dieser Zeit gesellschaftlich hoch aner-kannt und stellt insbesondere für Frauen eine gehobene Ausbildung dar (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1960, 27)84.

Ein Jahr später, 1962, wird ihr gemeinsamer Sohn geboren, dessen Vornamen er, wie den sei-ner Frau, weder im Interviewverlauf noch im Vor- oder Nachgespräch nennt. Drei Jahre später kommt im Jahr 1965 die gemeinsame Tochter Nadja zur Welt.

Drei Monate nach der Geburt der Tochter zieht die Familie nach B-Stadt um, ca. 200 km ent-fernt von A-Stadt. Ausschlaggebend dafür sind berufliche Gründe auf Seiten von Herrn Well-mann, vermutlich kommen hier „gesellschaftliche Normen [zum Tragen; L. O.]…, die eine In-tensivierung der Erwerbsarbeit im Zuge der Familiengründung vorgeben, also eine Bewertung väterlicher und mütterlicher Zeit bezüglich ihres bevorzugten Einsatzes beinhalten“ (Lange 2014, 132). Es kann davon ausgegangen werden, dass diese „residenzielle Mobilität“ (Schnei-der 2014, 209) kurz- und mittelfristig mit einigen Herausfor(Schnei-derungen einhergeht, zum einen müssen die Kontakte zum Herkunftsort gepflegt werden, zum anderen sind sie mit der Aufgabe der Integration am neuen Wohnort konfrontiert: Obgleich ein Umzug natürlich auch Chancen bereithält, bedeutet er auch „den Verlust ortsgebundenen sozialen, kulturellen und ökonomi-schen Kapitals“ (ebd., 217).

Herr Wellmann befindet sich zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1965 in einer gesellschaftlich sehr anerkannten und akzeptierten Lebenssituation, beruflich wie privat: Er ist 30 Jahre alt, gut aus-gebildet in einem akademischen Beruf, der seine Anerkennung auch aus der großen Nähe zum Alltag zieht: Ein Ingenieur ist zu dieser Zeit ein typischer Männerberuf, der eng mit Wohlstand verknüpft ist und dessen Berechtigung nicht in Frage gestellt wird. Der Wechsel seines Arbeits-ortes, der vermutlich mit einem Wechsel der Arbeitsstelle einhergeht, verspricht aller

Wahr-84 Der Wunsch ‚im Büro‘ zu arbeiten, wurde 1958/1959 von den meisten jungen Frauen im Rahmen der Berufsberatung geäußert, ¼ der Berufswünsche entfielen auf einen solchen Arbeitsplatz (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1960, 3).

146 |

Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

scheinlichkeit nach verbesserte Karrierechancen. Finanziell ist er gut abgesichert und kann eine eigene Immobilie am neuen Wohnort finanzieren. Er hat eine gebildete Ehefrau, die in einem weiteren gesellschaftlich anerkannten und ‚lebensnahen‘ Beruf ausgebildet ist. Er ist mittler-weile Vater zweier Kinder: eines dreijährigen Sohnes und einer drei Monate alten Tochter. Die Familie, aufgrund des jungen Alters der Kinder hier repräsentiert durch seine Ehefrau, folgt seiner Karriereorientierung, sie unterstützt ihn möglicherweise sogar aktiv darin.

Es ist davon auszugehen, dass er zu diesem Zeitpunkt den Status eines beruflich und privat sehr erfolgreichen Mannes verkörpert, der optimistisch in die Zukunft blickt. Zwar ist er sicherlich auch mit einem erheblichen beruflichen Erwartungsdruck konfrontiert, aber es scheint, als sei seine Frau bereit, ihm in Bezug auf die Familie den Rücken freizuhalten. Insgesamt scheint sich die Familie zu diesem Zeitpunkt in einer – deutschlandweit betrachtet in diesen Jahren – ver-gleichsweise privilegierten Ausgangsposition zu befinden. Unklar ist, inwieweit diese von Herrn Wellmann und seiner Frau hart erkämpft werden musste, denn Herr Wellmann macht keine Aussagen über seine Herkunftsfamilie.

Der Umzug scheint sich für die Familie unproblematisch darzustellen, obwohl er mit Blick auf die neugeborene Tochter in eine Lebensphase fällt, in der ein solcher nicht ganz einfach zu be-werkstelligen ist. Von Frau Wellmann erfordert die neue Umgebung ein Zurechtfinden in einer neuen Umgebung und den Aufbau neuer sozialer Kontakte in einem ihr unbekannten sozialen Umfeld85. Vermutlich sind mit dem Umzug Karrierechancen für Herrn Wellmann verbunden, weshalb die Notwendigkeit des Umzugs zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage gestellt wird und die Familie dieser Entscheidung folgt bzw. die Eltern auch im Sinne der Zukunftsperspektiven der Kinder die Veränderung positiv bewerten.

Herr Wellmann fasst diese Zeit in einem drei Zeilen umfassenden Bericht zusammen. Auf De-tails über die Hochzeit, über die Zeit vor der Hochzeit, über die ersten Jahre mit dem Sohn geht er nicht ein. Auch Anforderungen seine Frau betreffend, die mit zwei kleinen Kindern in eine neue Stadt zieht und dort noch keinen sozialen Anschluss hat, thematisiert er nicht. Stattdessen geht er gleich auf den nächsten zeitlichen Markierer in der Geschichte seiner Familie ein. Hier bestätigt sich die oben geäußerte Vermutung, dass Herr Wellmann mit seiner Eingangserzäh-lung schnell dem Fokus der Studie entsprechen will und auf das Leben mit der beeinträchtigten Tochter zu sprechen kommen will, auch die Vermutungen 10 bis 12 aus Abschnitt 7.4.2.2 tref-fen zu.

8.1.2.3 Diagnosemitteilung „Down‑Syndrom“

Nadja ist in den ersten Wochen ihres Lebens häufig krank und die Eltern (vermutlich vertreten durch Frau Wellmann) suchen aufgrund des erfolgten Umzugs nach B-Stadt einen neuen Kin-derarzt auf. Dieser „staunte nur und sagte, ja, wissen Sie denn gar nicht, was mit @ Ihrem Kind ist@?“ (Wellmann 26f ). Erst drei Monate nach Geburt der Tochter und eher zufällig werden die Eltern auf diese Weise von einem ihnen noch unbekannten Kinderarzt über die Trisomie 21 ihrer Tochter informiert.

Die ‚Erfolgsgeschichte‘ der Familie Wellmann, die sich bis zu diesem Zeitpunkt auf einer schein-bar immer weiter steigenden Kurve befindet, wird damit jäh unterbrochen. Ihre Zukunftsper-spektiven werden brüchig, sie sind unter Umständen auch gar nicht mehr antizipierbar oder können ausschließlich im Licht der Beeinträchtigung gesehen werden:

85 Natürlich gilt dies auch für die Kinder, aber diese sind zum Zeitpunkt des Umzugs noch so jung, dass man davon ausgehen kann, dass das wesentliche soziale Umfeld noch alleine durch die Eltern repräsentiert ist und sie deswegen noch nicht vor so große Herausforderungen gestellt sind wie ihre Mutter bzw. ihre Eltern.

| 147

„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

„‘Die Mitteilung der Diagnose‘, schreibt er [Johannes Elbert; L. O.], stellt ‚die Schlüsselstelle für die Formation der ‚geistigen Behinderung‘ dar […] Sie zerstört schlagartig die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter [, Vater; L. O.] und Kind. Dieses Trümmerfeld wird nun Ausgangspunkt für die spe-zifische, von der Prognose beherrschte Sozialisation des ‚Geistigbehinderten‘ [Elbert 1986, 77; zit. n.

Niedecken 2003, 33; L. O.].

In einer Leistungsgesellschaft wie der unsrigen kann es gar nicht anders sein, als daß die Aussicht, ‚mein Kind wird nicht voll leistungsfähig sein‘, den Eltern eine Kränkung, ein Trauma bedeutet, das Hoffnun-gen und Wünsche grausam zerstört.“ (Niedecken 2003, 33)

Unter seinen Kolleg*innen und Vorgesetzten repräsentiert Herr Wellmann bis dahin vermutlich den unauffälligen, anerkannten zweifachen Familienvater, dessen Ehefrau seine Karriere unter-stützt und sich um die gemeinsamen kleinen Kinder kümmert. Durch die Diagnose wird dieses Bild von Herrn Wellmann möglicherweise mit einem Schlag reduziert auf das des Vaters eines beeinträchtigten Kindes.

Vermutlich fordert der Kinderarzt in B-Stadt im Zuge der Diagnostik den Entlassungsbericht aus dem Geburtskrankenhaus an. In diesem ist zwar die Rede von einem „leicht=mongoloiden=Ein-druck“ (Wellmann 22), dieser habe sich jedoch verflüchtigt. Die Eltern haben diesen Bericht vor-her nicht zu Gesicht bekommen und sind auch nicht über den Verdacht informiert worden. Herr Wellmann kann die Worte des Entlassungsberichts zitieren, er wiederholt diese sehr flüssig und schnell, betont sogar „das haben wir auch heute noch schriftlich im Entlassungsbericht“ (Well-mann 20f ). Er wird an dieser Stelle zum ersten Mal im Interview lebhaft bzw. emotional. Auch wenn Herr Wellmann hier explizit keine Aussagen über seine Gefühlswelt und/oder die seiner Frau in Zusammenhang mit der Diagnosemitteilung macht, wird implizit an der Art der Erzählung und den gewählten Worten deutlich, wie massiv verletzend und verunsichernd diese Erfahrung ist.

Die Herkunftsfamilien, insbesondere die seiner Frau, reagieren verunsichert und ausgrenzend auf die Diagnose: „(3) Die Eltern (3) die hatten [schluchzend] Abst-, Abstand (2) insbesondere die Schwiegereltern. Da hieß es dann so das=hats=in=unserer=Familie=nicht=gegeben“ (Wellmann 45ff ). Für Herrn Wellmann ist dies mit einer weiteren Verletzung und mit dem Gefühl der Aus-grenzung verbunden. Das Zitat impliziert, dass auch Fragen der Schuld an der Beeinträchtigung damit aufgeworfen werden. Die Wellmanns nehmen in der Folge Kontakt zur Abteilung einer Universität mit dem Forschungsschwerpunkt Down-Syndrom auf, möglicherweise, um Herrn Wellmanns Schwiegereltern über die Ursachen von Trisomie 21 aufzuklären und sich von Schuld-zuweisungen zu entlasten (vgl. Wellmann 47ff ) (vgl. auch Niedecken 2003, 44).

Bis hierher lässt sich festhalten, dass sich Herr Wellmann in einer Situation befindet, in der er sich verzweifelt und allein gelassen fühlt. Da sind zum einen die Ärzte im Geburtskranken-haus, die sie nicht über ihren Verdacht einer manifesten (und – in Abgrenzung zu vielen ande-ren Beeinträchtigungen – durchaus sichtbaande-ren) Beeinträchtigung informiert haben, die dann später zufällig und ohne aufwendige Testungen diagnostiziert wurde. Zum anderen reagieren die Herkunftsfamilien ablehnend, suggerieren eine Schuld von Herrn Wellmann und grenzen die Enkelin aus. Es besteht die Gefahr, dass bisherige verlässliche Bezugsgrößen im Leben von Herrn Wellmann – die Herkunftsfamilie und die Wissenschaft bzw. der Fortschritt, hier ver-treten durch Mediziner*innen – im Zuge dieser Situation erheblich an Kraft und Vertrauen verlieren, obgleich es gerade diese Elemente sind, die für eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Herausforderungen von erheblicher Bedeutung wären (vgl. Hellermann 2018, 236)86.

86 Hellermann arbeitet heraus, dass es vor allem Therapeut*innen und Frühförder*innen sind, die einen stärkenden Einfluss auf die Eltern haben.

148 |

Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

Möglicherweise ziehen sich auch im beruflichen Kontext Kolleg*innen von ihm zurück, wo-durch auch in diesem bislang verlässlichen Kontext Unsicherheiten für Herrn Wellmann ent-stehen könnten87.

Herrn Wellmann und seiner Familie begegnen also „zumeist negativ konnotierte manifestierte Bilder und Vorstellungen“ (Ziemen 2004, 53) von Behinderung, „die historisch, sozial und ge-sellschaftlich produziert und reproduziert werden und die den Anschein der Selbstverständ-lichkeit und NatürSelbstverständ-lichkeit haben und aus dem Grund nicht hinterfragt werden“ (ebd.). Diese erscheinen

„gleichzeitig nicht nur individualisiert …, sondern als kollektive Manifestationen, insofern diese die Fa-milien bei unterschiedlichen FaFa-milienmitgliedern, Freunden, Bekannten, Kollegen etc. zwar differen-ziert wahrnehmen, die jedoch im Konsens negativer Konnotation hervortreten und etwas ‚Anders-ar-tiges‘, ‚Fremdes‘, ‚Von- einem- selbst- Getrenntes‘. ‚Neues‘, ‚Unvorstellbares‘ skizzieren.“ (ebd.)

8.1.2.4 Herausforderungen nach der Diagnose Down‑Syndrom

Nach der Diagnosemitteilung etablieren sich bei den Eltern unterschiedliche Bewältigungsstra-tegien: Herr Wellmann konzentriert sich zunehmend auf seine berufliche Karriere (vgl. Well-mann 63ff ), er versucht, die „erfahrene Frustration durch stärkeres berufliches Engagement zu kompensieren“ (Cloerkes 2007, 291). Die besonderen Anforderungen, die mit der Beeinträch-tigung seiner Tochter einhergehen, kann er zunächst nicht voll erfassen und zeigt eine eher „pas‑

sive Verhaltensweise“ (Wellmann 116), ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die „jede Möglichkeit zur Förderung“ (Wellmann 31) nutzt und entsprechend über Maßnahmen entscheidet. Seine Darstellung ihrer Aktivitäten für die Tochter lassen auch den damit verbundenen Stress erah-nen, „das Kind nun so weit wie möglich normalisieren zu wollen“ (Schulz 2012, 27, Herv. L. O.).

Mit Hilfe der sogenannten Frischzellentherapie, einem kostspieligen und zu diesem Zeitpunkt bereits kritisch beurteilten Ansatz zur Stärkung körpereigener Abwehrkräfte, soll Nadjas kör-perlicher Gesundheitszustand gebessert werden. Ein chirurgischer Eingriff dient der Korrektur von Gesichtszügen, die typisch für das Down-Syndrom sind. Diese Maßnahmen sind kostspie-lig, zeit-, betreuungs- und organisationsaufwendig (so muss ja beispielsweise auch der Sohn in dieser Zeit versorgt werden) und vor allem auch schmerzhaft für Nadja. Sie erfordern eine Ab-stimmung unter den Eltern, ein gemeinsames Handeln, und so ist es unwahrscheinlich, dass ein Elternteil sie gegen den Willen des anderen durchführt bzw. durchführen lässt. Insofern lässt sich Herrn Wellmanns Verhalten, das er selbst als eine ‚Passivität‘ beschreibt (vgl. Wellmann 116), möglicherweise besser beschreiben als ein bereitwilliges und unkritisches Folgen der Ent-scheidungen seiner Frau. Sie weist den Weg durch die damaligen Angebote zur ‚Förderung‘88 von Menschen mit Down-Syndrom und er stärkt sie darin – finanziell und möglicherweise auch durch die Betreuung des Sohnes während der Maßnahmen. Eigene Impulse zur Unterstützung seiner Tochter oder seiner Frau entwickelt er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.

Dennoch ist auffällig, dass Herr Wellmann, der sich im Interview durchgehend als ein kommuni-kativ sehr starker und sich sehr gewählt ausdrückender Gesprächspartner präsentiert, sich trotz-dem als ‚passiv‘ beschreibt. Dieser Charakterisierung ist im Vergleich zur als sehr aktiv dargestell-ten Ehefrau eine negative Konnotation inne. Dabei ist er gleichzeitig bemüht, eine zu negative Note zu vermeiden, indem er die Passivität von anderen möglichen Sinngehalten abgrenzt:

87 Dies lässt sich in Bezug auf den weiteren Kontext annehmen: Herr Wellmann konzentriert sich in den folgenden Jahren stark auf seine berufliche Karriere (s. u.).

88 Herr Wellmann selbst benutzt den Begriff „Förderung“ in diesem Kontext. Die Autorin distanziet sich deutlich davon, einen chirurgischen Eingriff als ‚Förderung‘ eines beeinträchtigten Kindes zu beschreiben.

| 149

„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

• „ich habe erst so nach (2) vier, fünf Jahren, da habe ich äh, hat sich meine negative, nein, ne-gativ, das, aber meine passive Verhaltensweise hat sich dann (2) ja, ich weiß nicht, wodurch, aber plötzlich ins Gegenteil auch umgekehrt“ (Wellmann 115ff )

• „ich hab, äh, ich hab Jahre gebraucht, um (.) nicht um unsere Tochter anzunehmen, aber (.) um das Problem so weit zu erfassen, dass ich (.) da Hand anlegen konnte, dass ich aktiv wer-den konnte“ (Wellmann 32ff )

Dennoch nimmt er den immer noch vorhandenen eher negativen Beigeschmack der Passivität – gerade auch in seiner gleichzeitigen und expliziten Abgrenzung zur Aktivität seiner Ehefrau (vgl. z. B. Wellmann 30ff ) – in Kauf89.

Eine weitere große Herausforderung stellt für Herrn Wellmann die Konfrontation mit Re-aktionen auf ihn als Vater mit beeinträchtigter Tochter außerhalb des geschützten familiären Rahmens dar. Er beschreibt es als ein „in der Öffentlichkeit begafft [werden, L. O.]“ (Wellmann 128), was Cloerkes (2007) als ‚typische Reaktionsform‘ (106) einstuft, welche Herr Wellmann als eine „massive sozial-emotionale Belastung“ (ebd., 291) erlebt, mit der er in den ersten Jahren mit seiner Tochter nicht zurechtkommt:

„Auffällige Behinderungen rufen beim Nichtbehinderten in der Regel psycho-physische Reaktionen wie Angstgefühle, affektive Erregtheit und Unbehagen hervor. Auf dieser Grundlage entwickeln sich

‚pathologische‘ Formen der Interaktion“ (ebd., 107),

insbesondere ästhetische Beeinträchtigungen, zu denen auch die äußeren Merkmale des Down-Syndroms gezählt werden können, sind „Auslöser heftiger affektiver Reaktionen“ (ebd.)90. Für Herrn Wellmann wiederholt sich damit möglicherweise das Gefühl der Aussonderung, das ihm von Seiten der Herkunftsfamilien vermittelt wird. Dafür spricht auch, dass er die Auseinander-setzung mit dem Gefühl, ‚begafft‘ zu werden, im gleichen thematischen Feld (‚Verhalten des so-zialen Umfeldes‘) beschreibt wie die veränderte Haltung der Herkunftsfamilie (vgl. Wellmann 126ff ) und das Zugehörigkeitsgefühl, das seiner Familie und ihm in der Nachbarschaft ver-mittelt wird. Wie stark ihn die Sichtbarkeit der Beeinträchtigung, die dadurch hervorgerufenen Reaktionen der Öffentlichkeit und sein eigener Umgang damit belasten, wird auch an seiner Belegerzählung dazu deutlich: Er erinnert sich nicht etwa an seine eigenen Reaktionen auf die feindselig wahrgenommene Öffentlichkeit, sondern an seinen Sohn, der

„sich schützend vor seine Tochter stellt, um sie vor Blicken zu schützen. (3) Da war er (.) vielleicht zehn, ja=oder nee, war noch nicht mal, acht, acht, neun, acht, neun Jahre (2) der hat aber heute ein wunder-bares Verhältnis zu unserer Tochter“ (Wellmann 58ff ).

Dieses Zitat belegt, dass er sich nur außerhalb seiner eigenen Erfahrung der Erinnerung an die ausgrenzenden Situationen zuwendet. Zudem suggeriert sein Nachsatz, in dem er auf das heute

‚wunderbare‘ Verhältnis seines Sohnes zu dessen Schwester verweist, auf potenzielle Konflikte, in denen Nadjas Beeinträchtigung die ‚Schuld‘ für Ausgrenzungserfahrungen zugeschrieben wird. Die Formulierung wirkt nicht zuletzt etwas überhöhend, bezogen auf den Kontext einer

89 Der Auswertung vorgreifend sei hier angemerkt: Herr Wellmann folgt an dieser Stelle sehr stark seinem Präsentationsinteresse der Familie, die er als harmonisch darstellen möchte. Die Differenz zwischen der Harmonie und seinem Verhalten zu dieser Zeit schließt er durch die Begründung, dass ihm ein anderes Verhalten zu dieser Zeit emotional nicht möglich war. An dieser ‚Familienerzählung‘ hält er fest, sie zieht sich durch die gesamte Präsentation seiner Geschichte und ermöglicht auch in anderen konflikthaften Kontexten eine Harmonisierung.

90 Dies ist insbesondere mit Blick auf die damalige Zeit zu bewerten, in der beeinträchtigte Menschen noch weniger in den öffentlichen Raum integriert waren als heute.

150 |

Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

Geschwisterbeziehung, und verstärkt so einmal mehr die Vermutung, auf diese Weise frühere und möglicherweise auch aktuelle Konflikte zu harmonisieren91.

8.1.2.5 Veränderungen rund um das Jahr 1970

Der Kinderarzt in B-Stadt, der die Wellmanns mit der Diagnose konfrontiert hat, wird zu einer wichtigen fachlichen Bezugsperson für das Ehepaar: Er informiert sie fortlaufend über Förder-möglichkeiten, Forschungsergebnisse etc. und vermittelt darüber hinaus den Kontakt zu einem Gesprächskreis für Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom (vgl. Wellmann 544ff ). Der Ge-sprächskreis ist privat organisiert und besteht aus etwa sieben Familien. Neben dem Kinderarzt wird auch dieser Gesprächskreis zu einem stabilisierenden Faktor der Familie:

„Innerhalb der sozialen Gemeinschaft Gleich- oder Ähnlichbetroffener ist das Machtgefälle zwischen den Akteuren äußerst gering. Die bedingungslose Anerkennung der Situation des anderen wird zum Ausgangspunkt dieser Gruppen und verändert die soziale Position der Eltern i. d. Regel nicht. Die Ar-beitsweise ist von solidarischem Mit- und Füreinander geprägt, welches äußerst stabilisierend wirkt und die Eltern bestärkt und aufmuntert.“ (Ziemen 2004, 55)

Das Ehepaar Wellmann erlebt in den ersten Jahren im „Elternkreis“ (Wellmann 547), dass sich zwei Paare trennen. Herr Wellmann führt die Trennungen darauf zurück, dass die Partner*in-nen „mit der Situation nicht fertig wurde[n]“ (Wellmann 537). Was genau er mit ‚der Situation‘

meint, expliziert er nicht, aber es ist davon auszugehen, dass er damit in einer durchaus beab-sichtigten Vagheit die Herausforderungen beschreibt, mit denen Eltern beeinträchtigter Kinder konfrontiert sind92.

„Familien mit einem behinderten oder chronisch erkrankten Familienmitglied stellen hierbei eine be-sonders vulnerable Gruppe dar, die häufig Erfahrungen von Stigmatisierungen und sozialer Ausgren-zung ausgesetzt ist, oftmals im Gesundheits- und Versorgungssystem Benachteiligungen oder unzurei-chende Unterstützung erfährt, zusätzliche finanzielle Belastungen zu tragen hat und mit vielfältigen Barrieren zur gesellschaftlichen Teilhabe konfrontiert ist (Teilhabebericht 2013). Dies wirkt sich auf die Binnenstruktur des Familiensystems und jedes ihrer Mitglieder aus: zusätzlich zur persönlichen Aus-einandersetzung mit der Sorge um das betroffene Familienmitglied, der Suche nach einer sinnhaften Einordnung der neuen und besonderen Lebenssituation in die Lebens- und Zukunftsgestaltung der Fa-milie, den erforderlichen Umstellungen des Familienalltags, der individuellen Bilanzierung von Verlust- und Verzichterfahrungen usw. kommt die Auseinandersetzung mit dem Angewiesensein auf professio-nelle Hilfen und damit einhergehenden Abhängigkeiten und Bedrohungen der familiären Autonomie hinzu.“ (von Kardorff & Ohlbrecht 2014, 14)

Das Ehepaar Wellmann setzt sich intensiv mit den Trennungen auseinander und kommt zu dem Ergebnis: „Wir haben …uns geschworen, [jetzt weinend] das darf uns nie passieren. (3)“

(Wellmann 530f ), er spricht sogar von einer „Trotzhaltung“ (Wellmann 530). Diese Ausein-andersetzung der Eheleute, die in dem Versprechen, zusammenzubleiben, endet, impliziert die Möglichkeit einer Krise, die sie mit dieser Entscheidung erfolgreich kanalisieren. Der gesam-te Abschnitt über diese Erfahrung wird von Herrn Wellmann mitungesam-ter ungesam-ter Tränen in Form einer Erzählung wiedergegeben. Dies verweist auf die hohe emotionale Bedeutsamkeit dieser Erinnerung. Herr Wellmann geht aus dieser emotionalen Erfahrung biografisch gestärkt hervor:

Seine Beziehung ist durch eine konkrete Vereinbarung über die Zukunft gefestigt: Das Paar

91 Auch dies ist ein weiterer wichtiger Hinweis für die bereits erwähnte Ausrichtung der Familienerzählung.

92 Diese Herausforderungen benennt Herr Wellmann allerdings nicht, da sie sein Präsentationsinteresse als intakte Familie bedrohen.

| 151

„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

schwört sich, jede Situation als Paar gemeinsam durchzustehen, es findet ein bewusstes „doing couple“ (Lenz 2014, 115; Herv. i. O.) im Sinne eines ‚Displaying Family‘ statt93. Das beeinflusst gleichzeitig seine Handlungsoptionen, denn diese orientieren sich jetzt vorrangig an der Be-ziehung zur Ehefrau, müssen also auf eine Fortsetzung der BeBe-ziehung hin ausgelegt sein. Diese Beziehung scheint zuvor bedroht gewesen zu sein, was das Paar zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Lebensbewältigung geführt hat, mit der sie (beide!) ihre biografische Handlungsfähig-keit aufrechterhalten können. Auf diese Weise gelingt es Herrn Wellmann, seine Handlungs-orientierung fortzusetzen, die an einer ZielHandlungs-orientierung und an einem Fortschrittsglauben aus-gerichtet ist: Nicht nur sein Lebenslauf, in dem Studium, Berufstätigkeit und eine aufsteigende Karriere aufeinander aufbauen, ist Ausdruck dafür, auch die Haltung, dass Probleme lösbar sind – hier ausgedrückt durch den Schwur, der eine Beziehungskrise beendet und ihm ganz persönlich Handlungsoptionen zurückgibt –, ist Bestandteil seiner biografischen Orientierung.

Auffallend ist, dass chronologisch betrachtet im gleichen Zeitfenster rund um das Jahr 1970 weitere Dinge im Leben von Herrn Wellmann passieren bzw. er diese forciert, es also zu einer Kumulation von Ereignissen kommt, was durchaus typisch für krisenhafte Zeiten ist. Schütze (1983a) erläutert dies im Kontext seines Konzepts der Verlaufskurven differenzierter und be-schreibt, dass sich ein Subjekt in einer Krise selbst fremd wird. „Der Betroffene reagiert auf eine Art, die er an sich selbst bisher nicht gekannt hat“ (89). Hierdurch verstärkt sich der Eindruck, sich in der eigenen „Existenzsituation“ (ebd.) nicht mehr zurechtzufinden, Ereignisse erschei-nen unerwartet, unberechenbar und nicht zu bewältigen:

„Gerade bei Prozessen des Erleidens ist mithin ein beschleunigter Identitätswandel beobachtbar, der sich durch ‚Entfremdung‘ vom bisherigen, lebensgeschichtlich gewachsenen Subjekts ankündigt.“ (ebd.) Auf diese Weise verfestigt sich der Eindruck einer Kumulation herausfordernder, die Krise ver-stärkender Ereignisse.

Frau Wellmann nimmt in geringfügigem Umfang eine neue Berufstätigkeit bei einem Finanz-dienstleister auf. Das Jahr kann nicht genau datiert werden, laut Herrn Wellmann fängt sie aber etwa zwei Jahre nach der Entbindung wieder zu arbeiten an. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Zeitpunkt noch etwas später liegt, vermutlich zeitgleich mit der Aufnahme von Nadja im Sonderkindergarten in F-Stadt, denn die Betreuung der Kinder während ihrer Arbeitszeit muss gewährleistet sein und es ist unwahrscheinlich, dass Herr Wellmann die Ar-beitszeiten seiner Frau zu Hause überbrückt. Frau Wellmann scheint die Rückkehr in den Beruf gutzutun, Herr Wellmann beschreibt, „das hat ihr sehr geholfen, das (.) mit den ganzen Proble-men fertig zu werden“ (Wellmann 70f ). Die Zuwendung zum Beruf beschreibt er also auch in Bezug auf seine Frau als eine konstruktive Bewältigungsstrategie im oben dargestellten Kontext.

Offenbar entsteht hier weniger eine Doppelbelastung für Frau Wellmann, die Erwerbstätigkeit entwickelt sich stattdessen zu einer wichtigen Ressource im Bewältigungsprozess:

„…das Erfahren eigener Lebensbereiche, der Abstand zur Familie, das Erleben persönlicher Wertschät-zung und Anerkennung neben der Funktion als Hausfrau und Mutter wirkt besonders bei jüngeren Frauen einer Generalisierung des Belastungsgefühls entgegen.“ (Bremer-Hübler 1990, 291; zit. n. Seifert 2003, 45)

Gleichzeitig legitimiert Herr Wellmann rückblickend damit auch sein eigenes Verhalten, das sich nach der Geburt der Tochter auffallend stark auf den Beruf fokussierte.

93 „Doing couple umfasst als Teil des Doing Family jene Herstellungsleistungen, die ausschließlich auf die Paargemeinschaft bezogen sind“ (Lenz 2014, 115, Herv. i. O.).

152 |

Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

Frau Wellmanns Berufstätigkeit muss als gemeinsame Entscheidung der Eheleute gewertet werden, die – anders als in heutigen Zeiten – als erklärungsbedürftig gelten kann: Noch bis 1977 durfte eine Frau in Westdeutschland nur dann berufstätig sein, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Fa-milie vereinbar war (vgl. Gleichberechtigungsgesetz 1958)94. Die Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Eheleuten war damit eindeutig festgeschrieben. Da das Einkommen, das Herr Wellmann mit seiner Berufstätigkeit generiert, für den Lebensstil der Familie vollkommen auskömmlich ist, ist es zu dieser Zeit erst recht ungewöhnlich, dass Frau Wellmann auch eine Berufstätigkeit aufnimmt.

Hinzu kommt die ‚besondere‘ Familiensituation mit einem beeinträchtigten Kind: „[A]ndere Rol-len (insbesondere die Erwerbstätigenrolle) [wurden, L. O.] nur um den Preis einer enorm hohen Belastung sowie mit einem ‚schlechten Gewissen‘ übernommen“ (Engelbert 1999, 30f ).

Dass eine Frau in den späten 1960er Jahren in einer solchen Lebenssituation eine Berufstätig-keit aufnimmt, ist damit keinesfalls erwartbar und selbstverständlich (vgl. Cloerkes 2007, 290).

Die Wellmanns nehmen dafür also vermutlich irritierte Reaktionen in Kauf, beispielsweise von Familie, Freund*innen, Nachbar*innen oder auch Arbeitskolleg*innen des Paares. Da diese Auf-fälligkeit mit Herrn Wellmanns Präsentationsinteresse einer harmonischen Familie nicht pro-blemlos vereinbar ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung zur Aufnahme einer Berufstätigkeit einen bestimmten Zweck erfüllt. Betrachtet man die bereits erwähnte auf-fällige Kumulation von Ereignissen in dieser Zeitspanne, kann Frau Wellmanns Wunsch nach der Rückkehr in ihren Beruf im Kontext der Krise zwischen den Eheleuten als der Versuch ge-wertet werden, die zunächst deutliche Rollentrennung, in der Herr Wellmann eine bezogen auf die Unterstützung seiner Tochter passive Haltung einnimmt, zu lockern und Frau Wellmann im Sinne eines Balancemanagements (vgl. 3.5.2) Alternativen zum familiären Milieu zu ermög-lichen. In diesem Kontext ist dann auch das Verhalten von Herrn Wellmann bei den wöchent-lichen Ausflügen auf den Markt mit seiner Tochter zu sehen (s. u.).

Eine weitere Veränderung vollzieht sich durch einen erneuten beruflich bedingten Umzug der Familie Anfang der 1970er Jahre. Der Umzug erfolgt nach F-Stadt, was knapp eine Autostunde von B-Stadt entfernt liegt. Der Sohn besucht zu diesem Zeitpunkt bereits die Schule und ist vor die Herausforderung eines Schulwechsels gestellt. Durch die erneute residenzielle Mobilität sind alle Familienmitglieder damit konfrontiert, sich eine neue Umgebung anzueignen und in einem neuen sozialen Umfeld Kontakte aufzubauen. Dies kann sowohl mit Herausforderun-gen, Komplikationen und Konflikten verbunden sein, kann aber gleichzeitig auch dazu führen, dass der innerfamiliäre Zusammenhalt gestärkt wird und/oder dass die Chancen, die in einem Umzug und einem entsprechenden Neuanfang stecken, genutzt werden.

Neben diesen ‚äußeren‘ Veränderungen beschreibt Herr Wellmann, dass sich ebenfalls um das Jahr 1970 herum sein eigenes Verhalten in Bezug auf die Beeinträchtigung der Tochter verän-dert, er eine „T-Trotzhaltung…gegenüber der Öffentlichkeit“ (Wellmann 119) an den Tag legt und „in F-Stadt jeden Samstag mit ihr auf den Markt …[geht, L. O.], [schluchzend] ‚um sie zu zeigen‘“ (Wellmann 118f ). Hier verwendet er die Bezeichnung ‚Trotzhaltung‘, die er auch im Kontext der Erzählung über den Schwur mit seiner Frau nutzt, um zu verdeutlichen, dass ihre Beziehung allen äußeren Widerständen trotzen wird (vgl. Wellmann 530).

Trotz ist ein bei jungen Kindern bis etwa zum sechsten Lebensjahr verbreitetes Verhaltens-muster, in dem sich die Diskrepanz zwischen der angestrebten Autonomie und den noch be-grenzten Kompetenzen dokumentiert. Übertragen auf den Fall von Herrn Wellmann lässt sich Ähnliches vermuten: Sein als ‚Trotz‘ beschriebenes Verhalten dient dazu, ein vorhandenes und

94 Erst mit der Reform des Ehe- und Familiengesetzes wurde die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe aufgelöst.