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2 Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

2.4 Biografizität als Schlüsselkompetenz in der reflexiven Modernisierung

2.4.1 Reflexive Modernisierung als neues Vergesellschaftungsmodell

Die „reflexive Modernisierung“ (u. a. Beck 1986, 14) ist Ausdruck eines veränderten Vergesell-schaftungsmodells (vgl. Kade 1994, 17); historisch betrachtet kommt es von der Tradition über

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Biografizität als Schlüsselkompetenz in der reflexiven Modernisierung

die „Modernisierung der Tradition“ (Beck 1986, 14; 254; Herv. i. O.) zur „Modernisierung der Industriegesellschaft“ (ebd.; Herv. i. O.)16.

Ein sichtbarer Erfolg dieses Prozesses ist die grundlegende Existenzsicherung der Bevölkerung Europas, jedenfalls „verglichen mit der materiellen Versorgung bis in die erste Hälfte des 20.

Jahrhunderts hinein und mit der vom Hunger bedrohten Dritten Welt“ (Beck 1986, 27). Doch die Kehrseite dieses Entwicklungsprozesses sind „die ‚Probleme‘ der ‚dicken Bäuche‘“ (ebd.).

Mit anderen Worten: Der „Modernisierungsprozeß wird ‚reflexiv‘, sich selbst zum Thema und Problem“ (ebd., 26). Beck spricht auch von der Risikogesellschaft und verdeutlicht damit den Wechsel von der Industrie- oder Klassengesellschaft, in der es um die Verteilung von ge-sellschaftlich produziertem Reichtum ging, hin zu einer Gesellschaft sozialer Milieus, in der die Risiken, die untrennbar mit der Produktion von Reichtum verbunden sind, verteilt werden müssen. Zu diesen Risiken zählen naturwissenschaftliche Gefährdungen ebenso wie soziale, die aus diesen wachsen:

„Industrielle Umweltbelastungen und Naturzerstörungen mit ihren vielfältigen Auswirkungen auf Ge-sundheit und Zusammenleben der Menschen, die erst in hochentwickelten Gesellschaften entstehen, sind durch einen Verlust des gesellschaftlichen Denkens gekennzeichnet.“ (Beck 1986, 33; Herv. i. O.) Die komplexen Risikolagen setzen sich über die Klassenzugehörigkeit hinweg, da beispielsweise Wasser oder insbesondere Luft von allen geatmet werden müssen. Beck bringt dies auf die For-meln zusammen „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“ (Beck 1986, 48; Herv. i. O.).

Diese Dimension, die sich auf die Verteilungslogik von Modernisierungsrisiken bezieht, ist ein Aspekt der reflexiven Modernisierung. Der zweite Aspekt, der dazugehört, besteht in einer Veränderung – Ausdünnung – der „Basisselbstverständlichkeiten der Lebensführung“ (Beck 1986, 115). Zentrale Begriffe in diesem Zusammenhang sind Enttraditionalisierung bzw. Frei-setzungsprozesse, Individualisierung, Institutionalisierung und Biografisierung. „Beide Seiten zusammen, die Summe der Risiken und Verunsicherungen, ihre wechselseitige Verschärfung oder Neutralisierung, machen die soziale und politische Dynamik der Risikogesellschaft aus“

(ebd.). Im zweiten Aspekt konkretisiert sich die individuelle Handlungsebene der reflexiven Modernisierung. Diese Ebene ist in Zusammenhang mit der vorliegenden Studie von besonde-rem Interesse und wird im Folgenden näher erläutert.

Enttraditionalisierung, Freisetzung und Individualisierung

„Der Übergang in die Moderne kann als Individualisierungsprozeß im Sinn einer Freisetzung der Menschen aus ständischen und lokalen Bindungen, einer Pluralisierung der Lebensverhält-nisse und eines Geltungsverlusts traditionaler Orientierungen verstanden werden“ (Kohli 1988, 33). So kommt es unweigerlich zu einem Gesellschaftswandel, in dem der Mensch aus seinen traditionellen Bezügen und Sicherheiten entlassen wird. Versorgungsstrukturen, die zu Be-ginn der Industrialisierung stark familiär geprägt waren, werden nun vom Staat übernommen.

Gleichzeitig wird dafür aber auch die Erwerbstätigkeit, also die Beteiligung an der Schaffung und Vermehrung von Reichtum, gefordert. Dieser Beteiligung müssen sich weitere Aspekte des Lebens unterordnen (vgl. u. a. Beck & Beck-Gernsheim 1994).

16 Zur Beschreibung dieses neuen Vergesellschaftungsmodells kursieren verschiedene Begrifflichkeiten. Beck verwendet den Ausdruck „reflexive Modernisierung“ (Beck 1986, 14), um zu verdeutlichen, dass sich die Moderne mit sich selbst, den von ihr selbst hervorgerufenen Herausforderungen und Veränderungen beschäftigt. Giddens spricht von einer „Radikalisierung der Moderne“ (Giddens 1996, 114f ), auch die Begriffe Postmoderne und Spätmoderne werden häufig synonym verwendet. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die Thesen von Ulrich Beck und verwendet daher seine Begrifflichkeiten. Sofern andere Autor*innen zitiert werden, werden deren Ausdrücke genutzt.

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Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

Gerade die Familie wird in diesem Zusammenhang intensiv diskutiert, Beck spricht von einer

„Verhandlungsfamilie auf Zeit“ (Beck 1986, 118), um zu verdeutlichen, dass der Anspruch der Individualisierung beide Geschlechter betrifft, die im Kontext von Familie verschiedene sich überlagernde Interessen in Einklang bringen müssen – den Beruf, die Pflege und Bildung der Kinder, die Hausarbeit, nicht zuletzt auch die Unterstützung und/oder Pflege der eigenen älter werdenden Eltern. Diese hochanspruchsvolle Aufgabe, in der sich gesellschaftliche Strukturen spiegeln, wird privatisiert, individualisiert. Die Verantwortung für das Gelingen trägt das Sub-jekt selbst, und damit auch das Risiko des Scheiterns (vgl. Beck 1986)17.

Beck beschreibt die hier angedeuteten Tendenzen als ‚dreifache Individualisierung‘ (vgl. Beck 1986, 206) mit den Dimensionen:

„Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen im Sinne traditionaler Herr-schafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicher-heiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitenden Normen (‚Entzauberungsdimension‘) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‘).“ (Beck 1986, 206; Herv. i. O.) Institutionalisierung

Mit der hier angesprochenen neuen „Art der sozialen Einbindung“ (Beck 1986, 206; Herv. i. O.) ist die Institutionalisierung gemeint: Der Arbeitsmarkt und die „Konsumexistenz“ (ebd., 211) sind derart dominant, dass sie „sekundäre Instanzen und Institutionen“ (ebd., 211; Herv. i. O.) hervorbringen, die in Form von „Vorgaben, Regelungen, Zwängen und Bestimmungen… die Folie [bilden, L. O.], auf der individualisiertes Leben gestaltet werden muß“ (Schweppe 2000, 39). Zu den hier gemeinten Institutionen gehören u. a.

„der Sozialstaat [, der, L. O.] durch seine Sozialsicherungssysteme oder altersrechtlichen Vorgaben [steuert, L. O.], der Arbeitsmarkt mit konjunkturellen Schwankungen und Qualifikationsanforderun-gen, das Bildungssystem, das über Abschlüsse und Ausbildungsniveaus entscheidet, die Regelungen über die Abfolge bestimmter Lebensphasen bzw. -ereignisse (z. B. Verrentung erst nach Abschluß des Arbeitslebens), vorgegebene Geschäftszeiten, strikt vorgeschriebene Müllsortierungsverfahren, ja selbst das Feiern eines Festes wird durch die genaue Festlegung von Lärmpegeln zu bestimmten Zeiten strikten Verregelungen ausgesetzt.“ (Schweppe 2000, 40)

Diese sekundären Instanzen unterscheiden sich von ehemals prägenden, primären Instanzen, zu denen zum Beispiel die Familie, Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit oder die Dorfgemein-schaft zählten: Primäre Instanzen steuerten das Handeln der Individuen vergleichsweise direkt, Giddens spricht von einer engen Dimension der Raum-Zeit-Einbindung (vgl. Müller 2002, 171). Anders ist dies bei den sekundären Instanzen: Sie steuern eher indirekt, aber deswegen nicht weniger wirksam. Der größte Unterschied ist, dass die sekundären Instanzen ein aktives Subjekt voraussetzen, das heißt, das Individuum ist aufgefordert, innerhalb der Institutionen und Instanzen selbst aktiv zu werden, auszuwählen und zu entscheiden, welche Angebote der Institutionen für das eigene Leben genutzt und verwendet werden sollen bzw. wie es sich inner-halb einer Institution bzw. gegenüber einem Angebot verhält. Besonders zu betonen ist in die-sem Zusammenhang, dass die Institutionen selbst nicht frei von Werten und Normen sind. Das

17 Die Bedeutung der Familie könnte an dieser Stelle intensiver diskutiert werden (vgl. dazu u. a. Schweppe 2000, 31ff; Beck 1986, 161ff; Beck-Gernsheim 1994). Da dieser facettenreiche Aspekt gesondert in Kapitel 3 diskutiert wird, wird an dieser Stelle im gesamten Kontext des Themas der reflexiven Modernisierung nicht näher darauf eingegangen.

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heißt, die Zielgruppe, an die sie sich richten, das Thema, für das sie stehen, geht stets mit einer eigenen Normativität einher, die „Leitbilder und Muster der Lebensführung“ (Schweppe 2000, 43) transportiert, mit denen die Individuen konfrontiert werden, denen sie sich unterwerfen müssen, wollen sie die Institutionen in Anspruch nehmen, oder denen sie sich widersetzen.

Erneut wird deutlich, wie sehr in der reflexiven Modernisierung die Aufgabe der Lebensgestal-tung an die Individuen abgegeben wird und die Risiken des Scheiterns individualisiert werden (vgl. Schweppe 2000, 41).

Es darf an dieser Stelle jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch kritische Stimmen zum Konstrukt der reflexiven Modernisierung gibt. Alheit verweist beispielsweise unter anderem auf die „konzeptionellen Problemzonen jenes modernen Deutungsmusters ‚Individualisierung‘“

(Alheit 1992, 18):

• Der Gedanke der ‚Enttraditionalisierung‘ fußt auf der Vorstellung ehemals ‚intakter sozialer Institutionen‘ (vgl. Alheit 1992, 19). Historisch muss dies relativiert werden, was u. a. am Beispiel von Familienmythen wiederholt aufgezeigt wurde (vgl. exemplarisch Fuhs 2007).

• Untersuchungen im Kontext von ‚Familie‘ weisen auf Retraditionalisierungsprozesse parallel zu den Enttraditionalisierungsprozessen hin (vgl. Alheit 1992, 19ff ): „Wir beobachten, daß Indi-vidualisierungsprozesse in neue, sozusagen ‚vertikale‘ Formen familialer Vernetzung eingebaut werden“ (Alheit 1992, 23). Diese Entwicklung überrascht nicht, sofern man bedenkt, dass „jede neue Struktur … auf eine vorangegangene [Struktur, L. O.] auf[baut, L. O.]“ (Hoerning 1989, 161), neue Strukturen also nicht zwangsläufig radikal neue Erfindungen sind, sondern viel-fach Ausdruck der „Entfaltung verdeckter Möglichkeiten“ (ebd.)18.

Diese Hinweise gilt es insbesondere vor dem Hintergrund des folgenden Abschnitts über die Bedeutung der Biografisierung im Kontext der reflexiven Modernisierung zu beachten: Es ist wahrscheinlich, dass Individuen auch zu früheren Zeiten in unterschiedlichen, möglicherweise auch widersprüchlichen Strukturen gleichzeitig handlungsfähig sein mussten und vor der Her-ausforderung standen, kontroverse Erfahrungen in ihr biografisches Wissen zu integrieren. Im Unterschied zu damals scheinen aber die strukturgebenden Institutionen an Einfluss zu ver-lieren und das Individuum wird in immer größerem Umfang selbst für den Erfolg seiner Hand-lungen verantwortlich gemacht, ohne dass dabei der Einfluss begünstigender bzw. behindernder Strukturen beachtet würde (vgl. Alheit 2000). Diese Zusammenhänge werden im folgenden Abschnitt intensiv beleuchtet.

2.4.2 Biografie, Biografisierung und Biografizität in der reflexiven Modernisierung