• Keine Ergebnisse gefunden

7 Methodische und methodologische Fragen

7.6 Kritische Gedanken zur Biografieforschung

| 139

Kritische Gedanken zur Biografieforschung

• Subsegmente

Ein Subsegment ist ein Bestandteil eines Segments, dessen Anfang oder Ende sich durch Glie-derungsmarkierer innerhalb eines Segments gesondert ausweisen lässt.

Wie lang Supra-, Sub- und Segmente jeweils sind und welche Einteilung vorgenommen wird, kann in verschiedenen Interviews sehr unterschiedlich sein, abhängig davon, wie zusammen-hängend und komplex Biografieträger*innen ihre Geschichten erzählen. Forscher*innen sind aufgefordert, sich bei der Analyse nicht nur auf äußere Merkmale zu verlassen, sondern dabei auch die inhaltlichen Aspekte einer Geschichte im Zusammenhang entsprechend zu inter-pretieren.

Wichtig ist, dass dabei die Vorgehensweise der Analyse und der Interpretation vorliegt und so eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewährleistet ist.

• Haupt- und Nebenerzähllinien

Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenerzähllinien kann sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, verschachtelte Erzählungen, in denen Biografieträger*innen häufiger den Fokus wechseln, zu sortieren und die einzelnen Bestandteile zuzuordnen.

• Drehscheibensätze

Als ‚Drehscheibensätze‘ werden Formulierungen bezeichnet, mit denen gleichzeitig Segmen-te aus- und eingeleiSegmen-tet werden. Mit dem Satz „Aber ich freue mich, dass ich meine TochSegmen-ter noch habe, das ist n gro:ßes Glück auch. (Fischer 1869f ) schließt Frau Fischer ein Supraseg-ment ab und führt gleichzeitig in ein neues ein.

140 |

Methodische und methodologische Fragen

Interviewpartner*innen haben demgegenüber ein „monologisches Rederecht“ (Deppermann 2013) in Bezug auf die vorgegebenen Themenbereiche, das sie jedoch in eine sozial unbekannte Welt katapultiert: Äußerungen in Bezug auf Verständlichkeit und Verstehen, auf Zustimmung und Widerspruch bleiben ihnen vorenthalten, auf Ergänzungen im Sinne eines ‚etwas Ähnli-ches habe ich auch erlebt‘, mit dem ein sozialer Vergleich und eine Annäherung aneinander stattfindet, wird verzichtet, und so kommt es zu einem „Bruch der Alltagsgepflogenheiten [in Bezug auf die, L. O.] … Herstellung von Intersubjektivität“ (Deppermann 2013). Dies kann er-zählfördernd sein, falls Interviewpartner*innen es als Entlastung empfinden, nicht auf ein Ver-ständnis hinarbeiten zu müssen (etwa im Sinne des freien Assoziierens in der Psychotherapie), es kann „aber auch verunsichern und dazu führen, dass expressive Fähigkeiten der Befragten nicht zum Tragen kommen, da sie an andere, vertrautere Routinen von Interaktionspraxis ge-bunden sind“ (Deppermann 2013).

Dies kann in Bezug auf das Interview mit Herrn Köhne vermutet werden, der sich über weite Strecken des Interviews aus seiner Rolle des Befragten befreit, indem er mich als Interviewerin in meiner Rolle als Mitarbeiterin der WfbM80 zu langjährigen Mitarbeiter*innen und Akteur*in-nen der WfbM befragt. Mit Hilfe der Rolle des informiert Fragenden und Führenden scheint sich Herr Köhne seine Souveränität zurück zu erarbeiten (vgl. dazu auch Siouti 2018). Dieser Aspekt wird einge-hend in der Falldarstellung des Interviews in Kapitel 8.2.5 diskutiert. Zugleich wird die Beziehung zwischen Interviewer*innen und Interviewten auch von gegen-seitigen Zuschreibungsprozessen beeinflusst, die ihrerseits Einfluss nehmen auf die Konstruk-tion der Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal 1987, 141). Damit ist nicht nur die Orientierung der Interviewten am Forschungsinteresse der Interviewer*innen gemeint, sondern auch ein Agieren, das auf den jeweils „vermuteten Wissensstand, … Interessen, Identität und Emotionen“ (Dep-permann 2013), Haltungen, Alter oder Reife des jeweils Anderen abgestimmt ist81.

Mit Blick auf die vorliegenden Interviews handelt es sich hier möglicherweise um Zuschreibun-gen in Bezug auf das Alter (hochaltrige Interviewpartner*innen und ich als eine kinderlose Inter-viewerin Anfang 30), auf Rollenbilder von Vater und Mutter, auf Annahmen das Leben mit ei-nem erwachsenen beeinträchtigten Kind betreffend (möglicherweise auch, da mir die erwachsenen Kinder bekannt waren, in Bezug auf ihr Kind im Besonderen), auf Familienleitbilder, auf Karriereabsichten, auf die Zugehörigkeit zum System ‚Werkstatt‘ mit seiner mitunter ambivalenten Bedeutung etc. Hinweise auf Zuschreibungsprozesse auf beiden Seiten werden in der jeweiligen Auswertung expliziert.

Ko-Produktion des Interviews durch Interviewer*innen

Ganz gleich, ob Interviewer*innen am Ende auch die auswertenden Forscher*innen sind oder

‚nur‘ an der Erhebung der Daten beteiligt waren: Sie repräsentieren für die Biografieträger*in-nen das Erkenntnisinteresse, an dem sich diese mit ihrer Erzählung zumindest zu Beginn un-weigerlich orientieren. Andersrum betrachtet könnte man auch sagen: Interviewpartner*innen

„werden von vornherein in Bezug auf eine Identität angesprochen, die bestimmte Relevanzen und Erwartungen setzt“ (Deppermann 2013), unabhängig davon, ob diese im Alltag tatsächlich

80 Die Autorin arbeite zum Zeitpunkt der Erhebung jeweils in Teilzeit in zwei Projekten – einem wissenschaftlichen Projekt an einer Hochschule und einem praxisorientierten Projekt an einer Werkstatt für behinderte Menschen.

81 Die vorgenommene Abstimmung enthält ihrerseits wiederum vielfältige Hinweise über Stereotype und Bilder vom ‚Anderen‘ und von sich selbst und wäre selbst ein ideales Forschungsobjekt, quasi eine ‚Forschung in der Forschung‘.

| 141

Kritische Gedanken zur Biografieforschung

relevant sind. Diese Erwartung ist ein Aspekt, durch die Interviewer*innen bzw. Forscher*innen das Material beeinflussen.

Gleichzeitig sind Interviewer*innen mit ihrer ganzen Subjekthaftigkeit im Interview präsent, sie sind nicht „alterslos, geschlechtslos, geruchslos, farblos, ohne sozial-differenten Habitus etc.“

(Breuer 2003) und damit nicht austauschbar in dem Sinne, dass andere Interviewer*innen mit derselben Einstiegsfrage dieselben Geschichten evoziert hätten.

Die vorliegenden Daten sind unter Ko-Produktion einer deutlich jüngeren Interviewerin ent-standen, die selbst weder kognitiv beeinträchtigte Angehörigen hatte noch die Rolle „Eltern-teil“ mit den Erzähler*innen teilte. Zusätzlich war sie zu diesem Zeitpunkt mit einer weiteren Teilzeitbeschäftigung in den WfbM-Standorten aktiv, in denen die erwachsenen beeinträchtig-ten Kinder der befragbeeinträchtig-ten Elternteile beschäftigt waren.

„Haben Sie Kinder?“ und „Haben Sie denn selbst einen ‚Behinderten‘ in der Familie?“ waren zwei Fragen, die mir im Vorgespräch mehrerer Interviews von den Elternteilen gestellt wurden.

Meine verneinende Antwort habe ich mit dem Verweis ergänzt, viel Verständnis für das lange Zusammenleben der Familien zu haben, das vermutlich, wäre meine Herkunftsfamilie in einer vergleich-baren Situation, auch den eigenen familiären Lebensentwurf darstellen würde. Auf diese Weise habe ich explizit eine Identifikation mit den Familien hergestellt in der Hoffnung, dass sie diese als anerkennend und respektierend erleben, ein Vertrauensverhältnis zu mir aufbauen können und einer weiteren Zusam-menarbeit zustimmen. Gleichzeitig habe ich damit natürlich auch Einfluss auf die Ausrichtung der Erzäh-lung genommen, sie in gewissem Sinne manipuliert bzw. ko-produziert82. Gleichzeitig kann die Ko-Produktion auch einer Ko-Verschleierung entsprechen. Dies ist z. B.

dann der Fall, wenn Erzählungen auf Erzählwiderstände hinweisen, die eine mehr oder weniger akute Bedrohung für Biografieträger*innen darstellen (zum Beispiel im Kontext von trauma-tischen Erfahrungen). Interviewer*innen, die diesen Erzählwiderstand bemerken und intuitiv deuten (das heißt mit Blick auf angstauslösende Inhalte etc.), neigen in der Regel dazu, diesen Widerständen nachzugeben und nicht nachzufragen83.

Möglicherweise berühren die Erzählungen aber auch Verletzungen oder Verwundungen auf Seiten der Interviewer*innen (vgl. Siouti 2018), was ebenso bewirken kann, dass diese nicht zu Vertiefungen dieser thematischen Aspekte motivieren. Auch dadurch wird ein Interview ko-produziert, hier nur mit Blick auf die Produktion von Leerstellen, die aber, wie bereits erwähnt, stets auf eine besondere Funktion hinweisen (vgl. dazu auch Mannheim 1928).

Zum methodischen Umgang mit ‚Wahrheiten‘ in erzählten Lebensgeschichten

Ganz gleich, im Kontext welchen Themas ein narratives Interview stattfindet, Biografieträ-ger*innen stehen in der Erzählsituation unter einem gewissen „Legitimationsdruck“ (Rosenthal 1987, 141), denn sie sehen sich aufgrund der stattfindenden Zuschreibungsprozesse (‚als Inter-viewpartner*in wird mir zugeschrieben, mit dem interessierenden Thema in irgendeiner Weise

82 Und noch ein weiterer Aspekt darf nicht unerwähnt bleiben: Die vorliegende Arbeit hat einige Jahre in Anspruch genommen – Jahre, in denen sich auch die Autorin weiterentwickelt hat. Die biografischen Erfahrungen haben auch immer wieder zu veränderten Sichtweisen auf die Interviews geführt. Auch dies ist Teil der Ko-Produktion der Ergebnisse durch die Forscher*innen.

83 Loch (2008) und Rosenthal (2002a) verweisen auf qualifizierte Interviewschulungen, auf fundierte Ausbildungen, in denen der Umgang mit Situationen wie diesen geschult wird. Sie betonen, dass es durchaus wichtig ist, zu signalisieren, dass ‚sozial konstituierte Schweigegebote‘ in Bezug auf die erlittenen Traumata gebrochen werden dürfen (vgl. Loch 2008), selbstverständlich ohne diese Inhalte vorsätzlich zu explizieren. Das Recht, über die eigene Geschichte zu erzählen, bleibt bei den Biografieträger*innen und muss von den Interviewer*innen in jedem Fall geachtet werden.

142 |

Methodische und methodologische Fragen

in Verbindung zu stehen‘) aufgefordert, sich zum Thema zu positionieren. Entsprechend stehen Erzählungen, die eng mit diesem Thema, dem im Vorgespräch kommunizierten Erkenntnisin-teresse, verknüpft sind, häufig zu Beginn der Haupterzählung (vgl. Rosenthal 1987, 121). Wenn es gelingt, größere autobiografische Erzählungen hervorzulocken, bewegen sich die Gesprächs-partner*innen jedoch mit der Zeit weg von diesen Fokussierungen und legen den Schwerpunkt auf die für sie relevanten Bereiche, hier greifen die bereits erwähnten Zugzwänge des Erzählens (vgl. Schütze 1976).

Gleichzeitig ist es das natürliche Bestreben der Erzähler*innen, sich in einem für sie möglichst positiven Licht darzustellen, schambesetzte Themen so gut es geht zu vermeiden, sie auszulas-sen oder zu retuschieren (vgl. u. a. Roauszulas-senthal 1987, 120). Mit Blick auf die vorliegende Studie könnte sich dies möglicherweise auf Erzählungen beziehen, die herausfordernde Situationen des häuslichen Zusammenlebens betreffen (zwischenmenschliche Konflikte zwischen Part-ner*innen, zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, der erwachsenen Kinder untereinander, Belastungen durch Pflege oder eigenes Älterwerden etc.), finanzielle Nöte, Enttäuschungen etc.

In narrativen Interviews ist also immer von Reinterpretationen der Lebensgeschichte und be-wussten Verfälschungen auszugehen, die bei entsprechender Aufmerksamkeit mitunter schon im Interview bemerkt werden können und auf die mit Hilfe entsprechender Fragetechniken reagiert werden kann. Rosenthal rät jedoch ausdrücklich zur Vorsicht bei der Konfrontation mit potenziellen Verfälschungen: Zu deutliche Hinweise auf wahrgenommene Widersprüche beeinflussen die Vertrauensbasis und können im weiteren Verlauf des Interviews zu mehr Legiti-mationen führen, das Kontrollbedürfnis vergrößern und damit den Erzählfluss nachhaltig hem-men (vgl. Rosenthal 1987, 126). Zudem können nachträglich Archivauskünfte eingeholt und mit den Selbstaussagen der Interviewer*innen verglichen werden (vgl. Rosenthal 2002b, 217).

Hier befinden sich Forscher*innen allerdings auf einem schmalen Grat, der schnell zu einem

„gravierenden methodischen Irrtum“ (ebd., 219) führt, nämlich dem Versuch, die Wahrheit in den Aussagen zu überprüfen, also der (‚objektiven‘) Wahrheit auf den Grund zu gehen. Dies ist jedoch ausdrücklich nicht das Ansinnen und das Ziel von Biografieforschung: Stattdessen ist es in Bezug auf biografische Widersprüche ihre Aufgabe, die Bedeutung und die Funktion der Inkonsistenzen für die Biografieträger*innen selbst zu rekonstruieren (vgl. ebd., 223), was eng mit der Rekonstruktion der Regeln der Genese des Falls zusammenhängt (vgl. Rosenthal 2014). Rosenthal geht damit von der potenziellen Gleichzeitigkeit mehrerer Wahrheiten aus:

der erlebten und der erzählten Wahrheit bzw. besser: Wirklichkeit (vgl. Rosenthal 2002b, 233).

Mit dem narrativen Interview sind folglich besondere zwischenmenschliche Spannungsfelder in der Erhebungsstruktur verbunden, die es zu beachten und zu reflektieren gilt. Dennoch kann es nicht die methodische Vision sein, Spannungsfelder durch eine ‚neutrale‘ Beziehung aufzu-heben: Erzähler*innen dürfen nicht auf eine Funktion als „Datenträger“ (Loch 2008) reduziert werden, im Gegenteil: Für eine autobiografische Großerzählung ist ein Mindestmaß an Ver-trauen und Vertrautheit notwendig, das auf Interaktion und damit auf Beziehungsgestaltung angewiesen ist.

„‚Fälle sind eben nicht nur ‚Fälle‘, sondern auch Personen und Personengruppen mit je eigenen Ge-schichten. Bei aller wissenschaftlichen Distanz schiebt sich vor den Fall die personale Beziehung, ohne die ein lebensgeschichtliches Interview […] nicht zu haben ist.“ (Hildenbrand 1999, 274f )

| 143