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7 Methodische und methodologische Fragen

7.3 Das narrative Interview

7.3.2 Interviewstruktur

Das narrative Interview gliedert sich in drei Phasen:

1. die Aufforderung zur biografischen Großerzählung, 2. den Nachfrageteil und

3. den Interviewabschluss.

Darüber hinaus ist es eingebettet in eine Phase der vorangehenden Kommunikation (Kontakt-aufnahme und persönliches Vorgespräch) und einer Nachlese. Mit dem Ende des Interviews sollte also nicht auch das Ende des Kontakts impliziert sein. Dies ist zum einen der Qualität und der Intimität der Daten geschuldet, mit denen die Biografieträger*innen den Interviewer*innen tiefe Einblicke in ihre Lebensgeschichte und ihre inneren Konflikte erlauben. Zum anderen las-sen sich aus Vorgesprächen und Gesprächen nach dem Interview weitere wichtige Hinweise zur Interpretation der Daten ableiten (vgl. Rosenthal 2014, 157ff; Küsters 20009, 54ff ).

Die hohe Komplexität der Inhalte des Interviews legt es nahe, das Interview zu zweit zu führen (vgl. Rosenthal 1987, 131). Eine Person kann sich auf diese Weise vollkommen auf das Erzählte konzentrieren, während die andere für die technischen Details der Audioaufnahme verantwort-lich ist. Gleichzeitig ist es der für die Technik verantwortverantwort-lichen Person mögverantwort-lich, das Gespräch

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aus einer Metaperspektive heraus zu betrachten und so empfänglicher zu sein für Auslassungen oder Brüche, die dann im Nachfrageteil (s. u.) thematisiert werden können.

Das Vorgespräch

Dem Interview sollte ein Vorgespräch vorausgehen, das nicht nur zum Aufbau einer für das Interview tragfähigen Vertrauensbasis dient, sondern auch dazu, das Forschungsvorhaben zu präsentieren und darüber zu informieren. Erst auf der Basis dieser Grundlagen, sowohl der the-matisch-inhaltlichen als auch der persönlichen, für die auch die ‚Verbindung‘, der ‚Draht‘, die Sympathie zu den Interviewer*innen von größter Bedeutung ist, ist forschungsethisch71 von ei-ner wirklich informierten und selbstbestimmten Entscheidung der Biografieträger*innen auszu-gehen, für ein Interview bereitzustehen. Im Vorgespräch wird dann ein Termin für ein längeres, üblicherweise zwei bis vier Stunden umfassendes Interview verabredet (vgl. Küsters 2009, 54f ).

Forschungsethisch zwiespältig gestaltet sich der Umgang mit der Forschungsfrage bzw. dem Er-kenntnisinteresse: Einerseits ist es von großer Bedeutung, Biografieträger*innen am Ende des Vorgesprächs nicht mit dem Gefühl zurückzulassen, über ein wesentliches Detail des bevor-stehenden Interviews nicht informiert worden zu sein.

„Dennoch sollte das Vorgespräch die Thematik und insbesondere die Eingangsfrage des Interviews nicht vorwegnehmen, um den Stegreifcharakter der Befragung zu erhalten. Vorherige themenbezogene Äußerungen des Interviewers wirken sich oft auch als Filter für den Befragten aus, unter dem dieser seine spätere Erzählung gestaltet.“ (Küsters 2009, 54)

Im hier vorliegenden Forschungsvorhaben wurde der Hintergrund der Erhebung, also das Ziel, Lebenswirklichkeiten sogenannter älterer Familien zu erheben, schon in der Anbahnung des Vorgesprächs offen mit den Biografieträger*innen kommuniziert. Das Dokument zur Einwil-ligung in die anonymisierte Weiterverarbeitung der erhobenen Daten wurde gemeinsam mit einer Information über das gesamte Forschungsprojekt herausgegeben, in dessen Rahmen die Daten erhoben wurden (vgl. Lindmeier et al. 2012) und auch über diesen Forschungsschwer-punkt im Speziellen.

Ein Beispiel aus der eigenen Erhebung verdeutlicht die Herausforderungen, die sich im Detail im Kontext des Vorgesprächs und der Kommunikation der Forschungsabsicht ergeben können:

Telefonisch ist ein Vorgespräch mit Frau Dammann vereinbart worden. Frau Dammann lebt zu diesem Zeitpunkt seit etwa zwei Jahren in einem Senioren- und Pflegeheim. Am Vorgespräch nimmt außerdem der Teamleiter des Wohnheims teil, in dem ihr Sohn lebt. Er ist als eine wich-tige Vertrauensperson von Frau Dammann ausschlaggebend gewesen für das Zustandekommen des Erst-kontaktes. Das Gespräch mit Frau Dammann umfasst knapp zwei Stunden und enthält bereits wesentliche Erzählungen ihrer Lebensgeschichte, die später in ganz ähnlicher Weise im Interview erzählt werden. Vor allem wiederholt sie mehrfach ihre Enttäuschung und Frustration darüber, dass ihr Sohn nun in einem Wohnheim leben müsse, ganz anders, als das ihr Leben lang von ihrem Mann und ihr beabsichtigt gewesen sei. Auch ihre eigene körperliche Abhängigkeit und ihr Leben in einem institutionalisierten Umfeld mar-kieren einen herben Einschnitt ihrer Lebensqualität und waren von ihr biografisch vor ihrer Erkrankung schlicht nicht vorgesehen.

Ich habe den Eindruck, dass Frau Dammann trotz der schwierigen und belastenden Themen, über die wir (auch) sprechen, das Treffen und die Gelegenheit genießt, aus ihrem Leben zu erzählen und dass sich zwi-schen uns eine gegenseitige Sympathie entwickelt hat. Insofern kommt es für mich überrazwi-schend, dass sie 71 Für umfassendere Details zur Forschungsethik in der Biografieforschung vgl. Siouti 2018.

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Das narrative Interview

zum Abschluss des Vorgesprächs nicht gleich einen Termin für ein Interview mit mir vereinbart, sondern sich noch zwei Tage Bedenkzeit bezüglich eines Interviews nimmt.

Nach zwei Tagen argumentiert Frau Dammann am Telefon, dass sie nicht die richtige Interviewpartnerin für mich sei, da sie ja nicht mehr mit ihrem Sohn zusammenlebe. Stattdessen empfiehlt sie mir eine Be-kannte, die Schwester eines Freundes ihres Sohnes, die seit dem Tod der Eltern die Begleitung ihres Bruders im Elternhaus übernommen hat. Ich argumentiere ihr gegenüber mit meinem Verständnis von Familie, dass Familie nicht an einen gemeinsamen Haushalt gebunden sein muss, sondern dass man auch in ihrer Lebenssituation eine Familie darstellt und ein Familienleben pflegen kann. Dazu verweise ich auf die vie-len täglichen Anrufe, die ihr Sohn bei ihr macht, um mit ihr zu plaudern, wie es sonst im gemeinsamen Haushalt ‚nebenbei‘ möglich war. Frau Dammann willigt schließlich in das Interview ein.

Mit meiner Argumentation in Bezug auf mein Verständnis von Familien habe ich viel von meiner Sichtweise, meinem Relevanzsystem preisgegeben und bewirke damit möglicherweise, dass sie sich – bewusst oder

un-bewusst – an diesem zumindest versucht zu orientieren72.

Es besteht also das Risiko der Beeinflussung der Erzählungen durch ein intensives Vorgespräch, in dem das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Arbeit diskutiert wird. Dennoch ist davon auszugehen, dass diese Tendenz nicht lange aufrechterhalten werden kann: Die oben aufgeführ-ten Zugzwänge des Erzählens führen dazu, dass trotz anderer Absichaufgeführ-ten doch die für die Bio-grafieträger*innen relevanten Inhalte der Lebensgeschichte in den Mittelpunkt der Erzählung geraten.

Interviewphase 1: die autobiografische Stegreiferzählung

Mit Hilfe eines entsprechend gewählten Impulses ermutigen Interviewer*innen die Bio-grafieträger*innen dazu, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Es ist dabei auch möglich, Erzählungen beispielsweise im Kontext eines bestimmten Zeitabschnitts, in Zusammen-hang mit Erfahrungen in einem bestimmten institutionellen Kontext oder mit einer be-stimmten Thematik anzuregen, indem die Frage sich konkret darauf bezieht (vgl. Rosenthal 2014, 157). Einerseits wird damit die Herausforderung auf Seiten der Biografieträger*in-nen reduziert, aus der Fülle der Ereignisse und Erlebnisse auszuwählen. Andererseits muss kritisch angemerkt werden, dass die Offenheit für die subjektiv relevanten Erlebnisse auf diese Weise eingeschränkt wird und es von der Souveränität der Interviewpartner*innen in der Situation abhängig ist, sich von dieser Frage zu entfernen, wenn Erlebnisse in ande-ren (beispielsweise) zeitlichen oder strukturellen Kontexten biografisch prägend waande-ren.

Die vorliegende Studie hat den Impuls auf die Geschichte der Familie der Biografieträger*innen gesetzt, dabei jedoch bewusst die potenzielle Doppelbedeutung des Begriffs genutzt, um auch Erzählungen aus der Zeit mit der eigenen Herkunftsfamilie zu evozieren.

Erzählgenerierender Impuls:

„Wir bitten Sie, uns die Geschichte Ihrer Familie und Ihres Zusammenlebens miteinander zu erzählen, all die Erlebnisse, die Ihnen einfallen.“

Dieser Impuls lag in ausgedruckter Form gut sichtbar für die Biografieträger*innen während des Interviews vor.

72 Zur Verdeutlichung bzw. Exemplifizierung werden in diesem Kapitel Beispiele aus dem eigenen Forschungsprozess eingeführt. Diese sind durch die kursive Schreibweise und einen einfachen Zeilenabstand markiert. Zudem schreibt die Autorin hier von sich in der Ich-Form. Damit soll die Subjektgebundenheit der Erhebung bzw. Auswertung hervorgehoben werden. Die Beispiele unterscheiden sich von längeren Zitaten dadurch, dass sie nicht eingerückt sind.

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Methodische und methodologische Fragen

Ergänzt wird dieser Einstiegsimpuls um Regieanweisungen:

„Sie können all die Erlebnisse erzählen, die Ihnen dazu einfallen. Sie können sich dazu so viel Zeit neh-men, wie Sie möchten. Ich werde Sie erst einmal nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen machen und später noch darauf zurückkommen.“ (Rosenthal 2014, 158)

Hiermit wird den Biografieträger*innen verdeutlicht, dass es tatsächlich um Großerzählungen geht und sie den Raum selbstständig füllen dürfen und sollen.

Nachfragen von Seiten der Interviewer*innen sind in dieser Phase des Interviews nicht zulässig, um den Redefluss der Biografieträger*innen nicht zu unterbrechen. Die Notizen ermöglichen es, bei Unklarheiten später nachzufragen. Sie sollten möglichst im Wortlaut der Erzähler*innen formuliert sein und so weit wie möglich keine Interpretationen der Interviewer*innen enthal-ten73 (vgl. Rosenthal 2014, 161).

Um dennoch eine Atmosphäre zu kreieren, die so weit wie möglich an eine ‚normale‘ Erzählsi-tuation erinnert, werden von Seiten der Interviewer*innen parasprachliche Elemente eingesetzt, die die Erzählung im Fluss halten: zustimmende Laute, jeweils entsprechend der Stimmung der Erzählung konnotiert, lachen, wenn die Erzähler*innen lachen, sich verständnisvoll und teil-nehmend äußern, Blickkontakt halten (vgl. Rosenthal 1995, 200ff ). Wenn die Erzähler*innen ins Stocken geraten, ist die Frage „Wie ging es dann weiter?“ zulässig. Zu beachten ist dabei, möglichst keine Bewertungen einfließen zu lassen, die zu einer „Tendenzausrichtung“ (Küsters 2009, 58) der Erzähler*innen führen.

Dass diese Aspekte im konkreten Fall durchaus anspruchsvoll umzusetzen sind, zeigt u. a. die folgende Erfahrung aus dem Interview mit Herrn Köhne:

Nach knapp drei Minuten Interviewzeit und nach einer Pause von elf Sekunden zeigt Herr Köh-ne auf das Aufnahmegerät und sagt: „Einmal aus- (zeigt auf das Diktiergerät) (ich kann nich-?) muss ich mal überlegen (2) wie es …“ (Köhne 32f ). Die zweite, für die Technik verantwortliche Interviewerin folgt seiner Anweisung und stellt das Gerät aus, bis er sich gesammelt hat und seine Erzäh-lung ‚fortsetzt‘. Nach weiteren fünf Minuten bittet er erneut um das Stoppen der Aufnahme:

HK: „Ja, dann stell’n Sie erstmal ab, ich muss (.) @ers überlegen@ @(.)@ wat’se noch so wissen wollen I1: (…) Ist überhaupt nicht schlimm, wenn’s weiterläuft, ähm, wenn Sie das nicht stört?

HK: Äh (2) Was woll’n se noch so wissen? (3) Ja: (pustet aus) (2) I1: Wenn Ihnen noch was einfällt (.) was wichtig-

HK: Ja: was fällt mir ein? Joa:? (9)“ (Köhne 137ff ).

Mir als Interviewerin war es wichtig, das Aufnahmegerät nicht auszuschalten. Zum einen, um die Länge der Pausen zwischen den erzählten Segmenten dokumentieren zu können. Zum anderen, weil sich Herr Köhne mit seiner Aufforderung immer wieder aus der Interviewsituation heraus auf eine Metaebene be-geben muss und so verhindert, sich auf seine Erinnerungen einzulassen74. Mit meiner Formulierung, „Ist überhaupt nicht schlimm, wenn’s weiterläuft, ähm, wenn Sie das nicht stört?“ versuche ich einerseits, ihm die bestimmende Position im Interview zuzusichern (ich überlasse ihm die Entscheidung, es doch auszu-schalten), und verdeutliche gleichzeitig, dass es kein Problem darstellt, es laufen zu lassen. Herr Köhne lässt sich schließlich darauf ein, das Gerät eingeschaltet zu lassen.

73 Wobei natürlich darauf hingewiesen werden muss, dass bereits die Notiz selbst eine Interpretation dessen bedeutet, was von Seiten der Interviewer*innen als „nachfragewürdig“ bewertet wird.

74 Dies kann natürlich auch unbewusst genau die Absicht seiner Aufforderung gewesen sein, beispielsweise kann es sein, dass ihn ein solches Interview emotional belastet. Diese Möglichkeit wird in der Auswertung kritisch diskutiert.

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Das narrative Interview

Die erste Phase der selbststrukturierten Eingangserzählung ist beendet, wenn die Erzählung zu einem Ende kommt. Mitunter wird dies sehr explizit formuliert, wie im Interview mit Herrn Wellmann:

„Ja, vielleicht so ein erster Rundumschlag, äh (2) ich weiß nicht, welche (.) Schwerpunkte Sie (.) in Ihrem Projekt noch setzen, (.) das war ja nur von meiner Seite erst mal so n erster Einblick für Sie, damit Sie wissen, wie die Familie Wellmann @(.)@ sich entwickelt hat.“ (Wellmann 169ff )

In anderen Interviews wird das Ende der Haupterzählung dadurch deutlich, dass Erzähler*in-nen einfach nicht mehr wissen, was sie noch erzählen könErzähler*in-nen, wie im Beispiel von Herrn Köh-ne: „Ja. (5) Ja, im Moment ist Schluss, weiß ich nicht’s @mehr@ @(.)@“ (Köhne 192f ). In jedem Fall geschieht auf Seiten der Biografieträger*innen ein deutliches ‚Aussteigen‘ aus dem Erinnerungsprozess, bei dem „die Rederolle (oft ausdrücklich, bisweilen unausgesprochen) dem Interviewer [zurückgegeben wird; L. O.]“ (Küsters 2009, 60).

Diese erste, durch den offenen Erzählstimulus hervorgerufene Erzählung wird auch als Haupt-erzählung oder „autonom strukturierte Selbstpräsentation“ (Rosenthal 2014, 160) bezeichnet.

Interviewphase 2: Erzählgenerierendes Nachfragen

Die Phase des erzählgenerierenden Nachfragens gliedert sich in zwei Teile: das erzählimmanen-te und erzählexmanenerzählimmanen-te Nachfragen (vgl. Rosenthal 2014, 157ff ).

Erzählimmanentes Nachfragen: Um zu bestätigen, dass die erste Phase des Interviews beendet ist und die Interviewer*innen nun direktere Fragen stellen werden als zu Beginn, ist es hilfreich, sich zunächst für die Erzählungen bis hierher zu bedanken und dann auf die Notizen zu verwei-sen, zu denen man nun noch weitere Fragen stellen möchte. Diese Nachfragen sollten sowohl der Reihenfolge der Notizen nach gestellt werden, sich also an der Chronologie der Erzählung orientieren, und zudem erneut zu Erzählungen anregen, ohne einen Hinweis darauf zu geben, was genau in diesem Kontext für die Interviewer*innen von Interesse ist. Dies gelingt durch möglichst offene Formulierungen, bei denen der notierte Wortlaut der Erzähler*innen zitiert wird. Mitunter reicht ein sehr offener Hinweis zum Beispiel auf eine bestimmte Zeit, aus der etwas erzählt wurde, und die Erzähler*innen beginnen, selbstständig eine entsprechende Erzäh-lung zu konstruieren. Mitunter sind weiterführende Nachfragen notwendig.

Erzählexmanentes Nachfragen: Erst wenn die eigenen Notizen abgearbeitet sind, führen die Interviewer*innen in den Nachfrageteil ein, in dem die forschungsbezogenen Themen ange-sprochen werden, sofern diese noch nicht Eingang in die Erzählung gefunden haben.

In jedem Fall geht es darum, zu Erzählungen anzuregen und Meinungs- und Begründungsfra-gen zu vermeiden. Rosenthal hat sich intensiv damit beschäftigt, entsprechende erzählBegründungsfra-generie- erzählgenerie-rende Fragekonstrukte zu entwickeln, die dazu beitragen können, Erzählungen auch in sonst eher argumentativ oder beschreibend dargestellten Zusammenhängen zu generieren (vgl. u. a.

Loch & Rosenthal 2002, 10f ). Es ist sehr hilfreich, diese vorformulierten Fragegerüste mit ins Interview zu nehmen, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können.

Interviewphase 3: Interviewabschluss

Lebensgeschichtliche Interviews enthalten in der Regel Erzählungen über schwierige Erfahrungen und Krisen, in die sich Erzähler*innen in unterschiedlicher Tiefe während des Interviews erneut hineinbegeben. Interviewer*innen haben am Ende des Interviews die Aufgabe, Erzähler*innen zurück in die Gegenwart zu helfen bzw. sie nicht mit einem belastenden Gefühl aus der Vergan-genheit zurückzulassen (vgl. Loch & Rosenthal 2002, 11f ). Die vorliegende Arbeit hat dazu die abschließende Frage nach ‚der schönsten Zeit im Leben‘ gewählt. Um eine Kontrastierung zu evo-zieren, wurde dieser Frage noch die nach den ‚schwierigsten Zeiten‘ vorangestellt.

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Methodische und methodologische Fragen

Abschließend ist es wichtig, das letzte Wort den Erzähler*innen zu überlassen und zu fragen, ob es noch etwas gibt, was diese dem Erzählten noch hinzufügen müssen, ob es noch etwas gibt, das ‚unbedingt gesagt werden muss‘ (vgl. ebd.). Dies ‚befreit‘ die Biografieträger*innen aus ihrer Rolle der ‚untersuchten Person‘ und ermöglicht ihnen nachträglich eine eigene Priorisierung des Themas, das für sie nach dem Interview möglicherweise noch stärker als nach dem Vorgespräch an Kontur gewonnen hat. Zusätzlich liefert es möglicherweise wichtige Hinweise für die Inter-pretation der erhobenen Daten.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein gutes Zeitmanagement. Denn auch wenn die Biografieträger*innen mitunter mehrere Stunden am Stück erzählen, ohne den Eindruck zu er-wecken, müde zu werden, sollte nach mindestens vier Stunden das Interview beendet werden und ein Termin für eine Fortsetzung vereinbart werden, um alle Beteiligten nicht zu überfor-dern. Dem Gesprächsabschluss muss in diesem Zusammenhang genügend Zeit zukommen, um ein abruptes Ende des Interviews zu vermeiden: Biografieträger*innen müssen dabei begleitet werden, ihre Geschichte abschließend zu sortieren und so zu schließen, dass sie wieder gut in der Gegenwart ankommen (vgl. Rosenthal 2014, 165).

Die Nachlese:

Noch einmal soll abschließend auf die Intimität der Daten verwiesen werden: Biografieträ-ger*innen vertrauen sich während des Zeitpunkts des Interviews mit Elementen ihrer gesamten Lebensgeschichte den Interviewer*innen an. Um ihnen den Respekt und die Achtung vor ihrer Geschichte zuzusichern, ist es geboten, sich einige Tage nach dem Interview noch einmal telefo-nisch bei den Interviewpartner*innen zu melden und sich über die nachträglichen Gefühle zum Interview auszutauschen (Loch & Rosenthal 2002, 12). Mit Blick auf die vorliegende Studie ist dies in Einzelfällen von ganz besonderer Bedeutung, da das Interview hier möglicherweise auch noch offene Fragen der Lebensgestaltung und Lücken in der Zukunftsplanung für das beein-trächtigte Kind verdeutlicht hat. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte, wie sie sich im Interview vollzieht, stellt ihrerseits selbst eine Rekonstruktion dar, die eine Wir-kung entfaltet, die mit dem vorhandenen biografischen Wissen abgestimmt werden muss und die das Potenzial besitzt, auf notwendige Anpassungen im Kontext von Erfahrung, Handlung und Struktur hinzuweisen. Die Folgen eines narrativen Interviews sind daher im Vorfeld nicht einzuschätzen (vgl. Rosenthal 2002a; Loch & Rosenthal 2002, 12; Siouti 2018).

Gleiches gilt für die Kommunikation der Ergebnisse: Eine einfache, schriftliche ‚Rückgabe‘ des ausgewerteten Materials an die Biografieträger*innen würde nicht nur die Chance einer kom-munikativen Validierung vergeben, sondern möglicherweise auch zu Belastungen oder gar Kri-sen auf Seiten der Erzähler*innen führen, gerade dann, wenn die Interpretationen stark von den Selbstdeutungen abweichen (vgl. Siouti 2018). Auf der anderen Seite reproduziert jedoch eine

„Haltung der De-Thematisierung…die privilegierte Forschungs- und Methodenposition der Forschen-den gegenüber Forschen-den beforschten Subjekten. Vieles spricht dafür, das Dialogische stärker in Forschen-den Mittel-punkt zu rücken und jeweils projektbezogen abzuwägen, welches Vorgehen methodisch sinnvoll und ethisch angemessen erscheint.“ (Siouti 2018)

Diesem Ansatz folgend hat die vorliegende Studie von den Möglichkeiten einer dialogischen Rückmeldung Gebrauch gemacht und neben Veröffentlichungen in der einrichtungsinternen und kostenlosen Zeitschrift „Neue Hilfe“ auch zu Fachtagungen und (deutlich niedrigschwel-ligeren) Informationsveranstaltungen in den einzelnen Werkstattstandorten eingeladen, bei denen die Ergebnisse präsentiert wurden und zu Diskussionen eingeladen wurde.

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Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal