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2 Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

2.3 Die Generierung von Biografien

Bislang wurde das ‚Was‘ und das ‚Wie‘ der Biografie diskutiert: Der Begriff der Biografie wurde erläutert (Definition, vgl. 2.1) und es wurde dargelegt, wie sich Biografien im gleichzeitigen Wechselspiel aus Struktur und Handlung, Individuum und Gesellschaft entwickeln (Genese, vgl. 2.2). Dieser Abschnitt vertieft nun die Frage nach der (Re-)Konstruktion von Biografien durch das Subjekt selbst, also die Aneignung von Biografie und ihre Weitergabe. Im Zentrum steht hier nun folglich die Frage nach der Generierung von Biografien.

Vordergründig mag die Generierung von Biografien lediglich als eine Variante ihrer Genese erscheinen, immerhin handelt es sich hier wie dort um (Re-)Konstruktionen in einem dia-lektischen Kontext, in denen auch die Frage nach der beabsichtigten Darstellung der eigenen Person, der Selbstpräsentation, von erheblichem Einfluss ist. Und doch ist bei der Frage nach der Generierung von Biografien von besonderen Umständen auszugehen, die es erforderlich

Detaillierte Darstellung der Prozesse während Gegenwartsmoment X

Zeitachse

Struktur (Ausschnitt aus

gesamt- gesellschaftlicher

Struktur)

Handlung

biografische Erfahrung (biografisches

Wissen) Gegenwartsmoment X, in der die biografische Prozessstruktur aktiviert wird

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Die Generierung von Biografien

machen, zwischen diesen beiden Ebenen der (Re-)Konstruktion zu unterscheiden, denn in Zu-sammenhang mit der Generierung einer Lebensgeschichte muss zwingend der Bezug zu den Adressat*innen gleichermaßen als die Lebensgeschichte ko-konstruierend mitgedacht werden, ebenso wie der Kontext, in dem die Aufforderung zur Explikation (in der Regel mündlich oder schriftlich) der Biografie erfolgt. Eine Unterscheidung zwischen Genese und Generierung von Lebensgeschichten dient mit Blick auf den späteren Forschungsprozess auch der Unterschei-dung zwischen erlebter und erzählter Geschichte.

Der Aspekt der Generierung von Lebensgeschichten wirft die Frage auf, wie es möglich ist, aus einem ganzen Menschenleben zusammenhängend zu erzählen und aus der Fülle der Ereignisse auszuwählen. Diese Herausforderung stellt sich nicht erst mit Blick auf die hier interviewte Gruppe der hochaltrigen Elternteile:

„Liegt vor … [ihnen, L. O.] denn nicht ein Chaos vieler einzelner, unzusammenhängender Erlebnisse und Erfahrungen, ein ungeordnetes Reservoir, das nur durch Assoziationen so etwas wie einen Zusam-menhang erbringen kann?“ (Rosenthal 1995, 131)

Bourdieu (2000) widerspricht der Möglichkeit, aus der Vielfalt und der Widersprüchlichkeit der Erfahrungen eines ganzen Lebens eine Lebensgeschichte zu entwickeln und narrativ wei-terzugeben und sich dabei korrekt an die Chronologie und die Inhalte der Vorkommnisse zu halten. Stattdessen neige das erzählende Subjekt dazu, „sich in nach einsehbaren Beziehungen geordneten Sequenzen zu organisieren“ (52)14. Dadurch wird die Biografie für ihn zur „Konst-ruktion des perfekten sozialen Artefakts“ (ebd.), das „gegen den Willen und doch mit der Kom-plizenschaft des Forschers“ (ebd.) hergestellt wird. Für die Diskussion der Frage nach der Ord-nung der mannigfaltigen Erlebnisse eines Menschenlebens ist es notwendig, sich der Beziehung zwischen den Dimensionen des Ereignisses, des Erlebens, des Erinnerns und des Erzählens zu widmen.

Rosenthal leistet in diesem Zusammenhang mit ihren theoretischen Ausarbeitungen zur „Ge-stalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen“ (Rosenthal 1995) einen herausragen-den Beitrag – nicht nur zur Biografieforschung selbst (vgl. Kap. 7), sondern auch zur Biogra-fietheorie. Ihre Überlegungen fußen auf der Grundannahme, dass die erlebte und die erzählte Lebensgeschichte in einem sich wechselseitig bedingenden Verhältnis stehen. Wesentlich für das Verstehen ihrer These ist zum einen der Gedanke von der Gestalthaftigkeit sowohl der ein-zelnen Ereignisse als auch des jeweiligen Erlebens und zum anderen die Trennung zwischen dem sich in der jeweiligen Situation des Erlebens oder des Erinnerns Darbietenden (Noema) und dem zugehörigen Akt der Wahrnehmung (Noesis):

„Die erzählte Lebensgeschichte konstituiert sich wechselseitig aus dem sich dem Bewußtsein in der Erlebnissituation Darbietenden (Wahrnehmungsnoema) und dem Akt der Wahrnehmung (Noesis), aus den aus dem Gedächtnis vorstellig werdenden und gestalthaft sedimentierten Erlebnissen (Erinne-rungsnoemata) und dem Akt der Zuwendung in der Gegenwart des Erzählens.“ (Rosenthal 1995, 20) Was sich hinter dieser komplexen Aussage verbirgt, lässt sich mit Hilfe von Rosenthals Unter-scheidung der Beziehung zwischen Ereignis und Erleben (2.3.1), Erleben und Erinnern (2.3.2) und Erinnern und Erzählen (2.3.3) erläutern.

14 Bei diesem Aufsatz von Pierre Bourdieu handelt es sich um einen Nachdruck seines 1990 erstmalig in deutscher Sprache erschienenen Aufsatzes „Die biographische Illusion“ in: BIOS 3 (1), S. 75–81. Seine frühere Kritik am Biografiekonzept und der Biografieforschung ist also bereits mindestens 10 Jahre älter, wie auch die Reaktionen anderer Autoren aus den Jahren vor 2000 belegen.

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Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

2.3.1 Ereignis und Erleben

Eine Situation, die sich ereignet, kann, in aufsteigender Reihenfolge der Komplexität, eine Dar-bietung der Dingwelt, eine DarDar-bietung von Prozessen oder von sozialen Prozessen sein. Dabei geht Rosenthal nicht von einer Konstanz, von einer Objektivität oder einer ‚Wahrheit‘ der wahr-genommenen Einheiten aus (egal ob Dingwelt, Prozess oder sozialer Prozess) (vgl. Rosenthal 1995, 27). Gleichwohl geht von dem, was sich darbietet (dem Noema), eine Struktur aus, die untrennbar und dialektisch verbunden ist mit dem jeweiligen Akt der Zuwendung (Noesis) durch das Subjekt.

Noema

Husserl prägte den Begriff des Noemas, womit das „sich dem Bewußtsein Darbietende – ob nun in der unmittelbaren Wahrnehmung, in der Erinnerung oder der Vorstellung“ (Rosenthal 1995, 27) gemeint ist. Das Noema beschreibt also die sich darbietende Struktur, wie sie sich in dem Moment präsentiert, in dem sich ein Subjekt ihr zuwendet:

„Unter dem Noema versteht Husserl nicht den Gegenstand schlechthin, wie er tatsächlich an sich selber ist, sondern den Gegenstand im Wie seines Vermeintseins, den Gegenstand so – genau so, aber auch nur so – wie er in dem in Rede stehenden Akt des Bewußtseins sich darstellt, wie er in diesem Akt aufgefaßt und intendiert ist, den Gegenstand in genau der Perspektive, Orientierung, Beleuchtung und Rolle, in der er sich darbietet.“ (Gurwitsch 1959, 426; Herv. i. O.)

Dennoch ist das Noema nicht beliebig, sondern gebunden an die Gestalthaftigkeit des Gegen-standes, der sich darbietet. Dieser ist in einer bestimmten Weise strukturiert, die nicht jedes denkbare Noema ermöglicht, aber doch eine Fülle an möglichen Darbietungsformen enthält (Abb. 3). Grafisch ist dies unten durch die Wahl der Form (Explosion), die Wahl der Farbe (Blau) und die Wahl des Musters (gepunktete Rauten) angedeutet. Die Kombination dieser

‚Wahrnehmungseindrücke‘ exemplifiziert das mögliche Noema.

Noesis

Ergänzend dazu beschreibt Noesis den Akt der Zuwendung zu dem sich Darbietenden.

„Welches Noema in welchem noematischen System sich mir darbietet, hängt auch von der Art mei-ner Zuwendung ab. Doch andererseits konstituiert sich die Zuwendung durch das Noema.“ (Rosenthal 1995, 39, Herv. i. O.)

Es ist das thematische Feld, in dem sich das Subjekt im Moment der Zuwendung befindet, das ausschlaggebend ist für die Art der Zuwendung (2.3.2). Noema und Noesis bedingen sich also wechselseitig, eine Zuwendung zum Thema entsteht nie einfach willkürlich, sondern muss sich auch an den Strukturen des Noemas orientieren. Die Gleichzeitigkeit der Strukturiertheit des sich Darbietenden einerseits und des strukturierenden Wahrnehmens andererseits und die so gelingende wechselseitige Konstitution weist auf die besondere Gestalthaftigkeit hin, die sich auch im Verhältnis von Erinnerung und Erzählung fortsetzt (2.3.3).

Innerhalb der Struktur einer Situation gibt es folglich eine Fülle an Bedeutungen, die damit ver-bunden sein können, abhängig von der subjektiven Zuwendung und Bedeutungszuschreibung.

Diese Zuschreibung ist jedoch keinesfalls beliebig, sondern auch geleitet von der ereignisinhä-renten Struktur.

Zur Verdeutlichung des Zusammenhangs dienen die folgenden Abbildungen.

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Die Generierung von Biografien

Abbildung 2 illustriert die Lage der jeweiligen Gegenwartsmomente des Ereignisses und des Er-lebens einerseits (Gegenwartsmoment 1) und des Erinnerns und Erzählens andererseits (Gegen-wartsmoment 2) auf der Achse der Lebenszeit. Die Gegen(Gegen-wartsmomente 1 und 2 sind dabei aus Gründen der Übersichtlichkeit lediglich benannt. Ihre innere Ausgestaltung wird in weiteren Abbildungen illustriert. Dabei ist zu betonen, dass sich in Gegenwartsmoment 2 die Dialektik zwar nach dem gleichen Muster wie in Gegenwartsmoment 1 vollzieht, sie aber insofern neu und einzigartig ist, als dass in ihr alle Erfahrungen bis zu diesem Zeitpunkt, gepaart mit den Umständen der aktuellen Situation und den jeweiligen Zukunftsperspektiven, enthalten sind.

Abb. 2: Lage der verschiedenen Gegenwartsmomente des Ereignisses und des Erlebens sowie des Erinnerns und Erzäh-lens auf der Zeitachse

Abbildung 3 stellt in einem nächsten Schritt mit Verweis auf Abbildung 1 (Biografische Prozess-struktur, vgl. 2.1) den Gegenwartsmoment 1 detailliert dar, also den Zusammenhang zwischen Ereignis und Erleben.

Abb. 3: Detaillierte Darstellung von Gegenwartsmoment 1: Verhältnis von Ereignis und Erleben unter Berücksichti-gung von Noema und Noesis

Zeitachse Gegenwartsmoment 1:

Ereignis und Erleben

Gegenwartsmoment 2:

Erinnern und Erzählen

Ereignis Struktur

Handlung biografische

Erfahrung

Noesis/ Zuwendung Noema/ Darbietung

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Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

2.3.2 Erleben und Erinnern

Die Verbindung der beiden Ebenen der (aktuell erinnerten) Vergangenheit (Ereignis und Erle-ben) und der Gegenwart (Erinnern und Erzählen) vollzieht sich im Verhältnis zwischen Erleben und Erinnern: Rosenthal widerspricht der Konstanzannahme, nach der Erinnerungen fest im Ge-dächtnis gespeichert sind. Sie interpretiert das Erinnern als einen rekonstruierenden Vorgang, bei dem das, was das Subjekt erinnert, sich entsprechend der jeweiligen Gegenwart des Erinnerns und der antizipierten Zukunft verändert. Hier wiederholt sich ihre Vorstellung von der Gestalthaftig-keit, der Struktur von Ereignissen: Erinnert werden nicht einzelne Elemente, sondern Gestalten:

„Im Unterschied zur assoziationistischen Argumentation geht man hier nicht von der Erinnerung von Einheiten aufgrund eines in der Gegenwart auftauchenden Elements aus. Statt dessen [sic!] geht man von organisierten Prozessen oder Einheiten aus, die in ihrer Ganzeigenschaft an die Ganzeigenschaften von Erinnerungseinheiten erinnern (vgl. Köhler 1947).“ (Rosenthal 1995, 73)

Am konkreten Beispiel der Beobachtung eines Kindes, das eine Fensterscheibe zerschlägt, verdeut-licht sie dies: Interpretiert das zuschauende Subjekt diese Situation als den verweifelten Versuch, in das verschlossene Elternhaus zu gelangen, wird diese Situation die Zuwendung zur Vergangen-heit und damit zur Erinnerung in einer Weise strukturieren, in der Situationen vorstellig werden, in denen man selbst hilflos oder ausgeschlossen war. Anders würde es sich verhalten, würde man ein Kind beobachten, dessen Verhalten man als wütend interpretiert: Dies könnte eher die Er-innerung an eine selbst eingeschlagene Fensterscheibe hervorrufen, vorausgesetzt, man hat diese aus Wut zerschlagen. Eine aktuelle Situation erinnert also nur dann an etwas Vergangenes, wenn die aktuelle Situation Spuren des Gesamten (Spuren des thematischen Feldes, s. u.) in sich trägt:

„Entsprechend einer gestalttheroetischen Konzeption ging die zerbrochene Glasscheibe nicht als ein Ele-ment in die Erinnerung ein, sondern in ihrer Verbindung zur erlebten Situation, d. h. in ihrer Bedeutung.

Ob gegenwärtige Erlebnisse mit vergangenen verknüpft werden, hängt also keineswegs von der Identität ihrer Elemente ab, sondern von der gemeinsamen Bedeutung, die sie beide verbindet.“ (Rosenthal 1995, 73) Dies impliziert, dass geordnet erlebte Situationen ungleich einfacher vorstellig werden können als unstrukturiert und chaotisch erlebte Ereignisse. Ein unstrukturiertes Erleben kann bedingt sein durch fehlende relevante Veränderungen in Raum und Zeit sowie fehlende Handlungs-alternativen: Rosenthal verweist hier auf das Erleben von Soldaten in den Schützengräben im Ersten Weltkrieg, die während der oft monatelangen Zeit dort keine anderen äußeren Eindrü-cke erleben konnten als die unmittelbare Umgebung, gepaart mit einem Alltag, der nur von den außergewöhnlichen, bedrohlichen und chaotischen Phasen des Schützenfeuers unterbrochen wurde. Ebenfalls wenig Struktur bieten Situationen, die als sehr routiniert wahrgenommen wer-den: Als Beispiel nennt Rosenthal hier das Erleben der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg, eine dramatische Situation, die wieder und wieder erlebt wurde und die keine wesentlichen Handlungsspielräume erlaubte. Auf diese Weise (nicht) strukturierte Situationen verfügen über wenig Gestalthaftigkeit, sie werden entsprechend seltener in der Erinnerung vorstellig, eine Er-zählung darüber ist somit herausfordernder. Vor dem Hintergrund, nicht verbalisiert werden zu können, laufen sie auch Gefahr, ‚vergessen‘ zu werden (vgl. Rosenthal 1995, 78).

Die folgende Grafik fasst diese Ausführungen zusammen, indem sie die Abbildungen 1, 2 und 3 wieder aufgreift und sie entsprechend der Achse der Lebenszeit in eine Reihenfolge bringt.

Die dialektischen Elemente der biografischen Prozessstruktur in Gegenwartsmoment 2 sind mit einfachen Anführungszeichen markiert, um zu verdeutlichen, dass es sich keinesfalls um dieselbe Prozessstruktur handelt, sondern um eine, die durch die zwischenzeitlich erworbenen

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Die Generierung von Biografien

biografischen Erfahrungen verändert ist. Auf diese Weise illustriert Abbildung 4 das komplexe Wechselverhältnis von Ereignis, Erleben und Erinnern.

Abb. 4: Das Wechselverhältnis von Ereignis, Erleben und Erinnern

Rosenthal beschreibt die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, von Erlebtem und Erin-nertem als dialektisch: Die Vergangenheit wird von der Gegenwart her rekonstruiert, gleichzeitig ist die Gegenwart nur als eine zu verstehen, die mit Hilfe der Vergangenheit existieren kann: Sie ist von dieser geprägt, geordnet und konstituiert (vgl. Rosenthal 1995, 81). Das Verhältnis, also die schon mehrfach erwähnte Interaktion von Erinnerungseinheit und gestalteter Gegenwartseinheit, beschreibt Rosenthal mit Hilfe der Begriffe Thema, thematisches Feld und Rand:

Thema, thematisches Feld und Rand

Damit sich das Subjekt mit Blick auf die Fülle des Möglichen, das wahrgenommen werden kann, auch auf einen Aspekt konzentrieren kann, ist es notwendig, diesen auszuwählen, ihn zum Thema zu machen. „Ein Feld ohne Differenzierung gibt keinen Ansatzpunkt für einen

Noema: Darbietung des Erinnerten

Noesis: Zuwendung zum Erinnerten Kontinuum: erworbene biografische Erfahrung

Gegenwartsmoment 1:

Ereignis und Erleben

Gegenwartsmoment 2:

Erinnern und (Erzählen noch ausgelassen) Ereignis

Struktur

Handlung biografische

Erfahrung

Noesis/ Zuwendung Noema/ Darbietung

Ereignis

(Interview-situation) Struktur

Handlung biografische

Erfahrung

Noesis/ Zuwendung Noema/ Darbietung

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Biografie: Genese, Generierung und Bedeutung

Wahrnehmungsakt“ (Rosenthal 1995, 49). Dieser Aspekt muss sich für das Subjekt in einer bestimmten Weise auszeichnen, er muss sich abheben vom Gesamt des sich Darbietenden (vi-sualisiert durch die jeweiligen Muster). Gewählt wird, was einen „Verweisungshorizont zum Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen“ (Rosenthal 1995, 49) aufweist (in der Grafik verdeutlicht durch die unterschiedliche Schraffierung von Rauten, die gleiche Farbe oder die vergleichbaren Formen, mit denen die Ereignisse der Gegenwartsmomente 1 und 2 abheben).

Rosenthal verweist auf Kippbilder, in denen unterschiedliche optische Gebilde je nach Rich-tung der Aufmerksamkeit erkannt werden können: „Das Thema ist das, womit wir uns in einem gegebenen Augenblick beschäftigen, das, was im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht und jeweils in ein thematisches Feld eingebettet ist“ (Rosenthal 1995, 50). Das thematische Feld beschreibt die mit dem Thema sachlich kopräsenten Gegebenheiten, nicht die Gesamtheit der kopräsenten Umstände. Um beim Beispiel der zerschlagenen Fensterscheibe zu bleiben (s. o.):

Sachlich sind eigene Erfahrungen mit zerschlagenen Fensterscheiben im Moment des Beobach-tens kopräsent, aber ob sie in der Folge auch zu einer Erinnerung an diese Momente führen, ist abhängig von der Struktur des thematischen Feldes, das, wie im oben genannten Beispiel dar-gestellt, einen anderen Fokus einnehmen kann. Als Rand beschreibt Rosenthal die zeitlich ko-präsenten Gegebenheiten (also beispielsweise andere Kinder, die an der Situation beteiligt sind, oder die eigene Situation, in der man sich zum Zeitpunkt des Erlebens einer Situation befindet).

2.3.3 Erinnern und Erzählen

Die Beziehung zwischen Erinnerung und Erzählung ist u. a. geprägt von der Anwesenheit von Zuhörenden, für die Erinnerung verbalisiert oder verschriftlicht werden muss: Eine Erzählung enthält dabei immer zugleich weniger und mehr als die Erinnerung. Vagheiten oder Widersprü-che, die im Rahmen einer Erinnerung ausgehalten werden können (bzw. die emotional koprä-sent sind und damit keiner weiteren ‚kognitiven Verbalisierung‘ bedürfen), werden in Erzählun-gen erklärungsbedürftig. Hier greifen die von Schütze erläuterten Zugzwänge des Erzählens, der Gestaltschließungs-, der Detaillierungs- und der Kondensierungszwang (vgl. Schütze 1976):

• Der Gestaltschließungszwang führt dazu, dass Erinnerungen für einen Zuhörer integriert werden in eine Gestalt, in einen formalen Anfang und ein formales Ende, um ein Einordnen der Erzählung und ein Verstehen zu ermöglichen.

• Einzelheiten des Erlebten müssen in der Erzählung mitunter detailliert erläutert werden, nicht nur in Bezug auf die Ereignisse, sondern auch mit Blick auf kausale oder motivationale Über-gänge zwischen „Ereignisknotenpunkten“ (Rosenthal & Loch 2002, 4) (Detaillierungszwang).

• Situationen, geschweige denn ein ganzes Leben, können unmöglich detailgetreu nacherzählt werden, es würde jeglichen zeitlichen Rahmen sprengen. Vor diesem Hintergrund ist das erzäh-lende Subjekt gezwungen, seine Ausführungen auf das für den Kontext der Erzählung Wesent-liche zu reduzieren, zu kondensieren (Kondensierungszwang). Die Konzentration auf die als wichtig erachteten Aspekte liefert Hinweise auf die Relevanzsysteme der Erzähler*innen.

Hinzu kommt mitunter das Vermeiden von beispielsweise Widersprüchen oder Unklarheiten, die in Erinnerungen stecken. Diese werden möglicherweise gar nicht erst angesprochen und es kann passieren, dass eine Erzählung am Erinnerungsnoema vorbeigeführt wird15.

Abschließend wird das Verhältnis von Erinnern und Erzählen grafisch abgebildet. Der ‚Hand-lung‘ werden dabei idealtypisch die Elemente ‚Erinnern‘ und ‚Erzählen‘ zugeordnet und die be-schriebenen Zusammenhänge damit bildlich vereinfacht. Die (soziale) Situation des Erinnerns und Erzählens ist also bei Weitem komplexer als hier grafisch dargestellt.

15 Die Frage, wie methodisch auf diese Auslassungen reagiert wird, wird ausführlich in Kapitel 7.6 diskutiert.

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Biografizität als Schlüsselkompetenz in der reflexiven Modernisierung

Abb. 5: Detaillierte Darstellung des Verhältnisses von Ereignis – Erleben – Erinnern – Erzählen

Das anspruchsvolle Verhältnis von Ereignis, Erleben, Erinnern und Erzählen ist gleichzeitig we-sentlich für die Anlage der Forschungsmethode, weshalb darauf später erneut Bezug genommen wird (vgl. 7.1).