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8 Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

8.1 Herr Wellmann: „Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie

8.1.4 Doppeltes Präsentationsinteresse

Ein Beweggrund, Herrn Wellmann als Interviewpartner anzusprechen, ist auf seine Doppel-rolle als Familienvater mit einer beeinträchtigten Tochter einerseits und als langjähriger Vorsit-zender eines Elternverbandes andererseits zurückzuführen. Die vielschichtigen Sichtweisen auf

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das Thema ‚ältere Familien‘, die mit diesen differierenden Zugängen potenziell verbunden sind, machten ihn als Gesprächspartner interessant.

Diese Rollen setzten Herrn Wellmann ungewollt jedoch unter Druck, denn er kann sich der Konfrontation mit ihnen nicht entziehen: Mit dem Einstiegsimpuls verbindet er die Frage nach seiner Familie und damit auch die seiner Rolle als Familienvater. Gleichzeitig entspricht auch seine Rolle als Vorsitzender eines Elternverbandes seinem Präsentationsinteresse (s. u.). Zudem wurde diese Rolle schon im Kontext der Kontaktaufnahme zwischen Herrn Wellmann und den Interviewerinnen offen kommuniziert. Auch unabhängig von seinem Präsentationsinteresse zwingt Herrn Wellmann das geteilte Wissen um seine Doppelrolle geradezu dazu, sich in bei-den Funktionen zu präsentieren, sofern er nicht zu Beginn des Interviews explizit darstellt, aus welcher Perspektive er das Interview geben möchte.

In diesem Zusammenhang lassen sich die Fallstricke der Ko-Produktion eines narrativen Inter-views durch Interviewer*innen illustrieren: Durch seine über 20 Jahre dauernde Rolle als offi-ziell gewählter Vertreter einer Elterninitiative war Herrn Wellmann die langjährige Perspektive des Elternverbandes ‚erwachsene Kinder sollen nicht zu Hause leben, ältere Familie haben die Ablösung verpasst‘, deutlich bewusst. Der normative Inhalt dieser Haltung geht konform mit seinem Handlungsschema, das sich an gesellschaftlichen Normen orientiert, zu denen auch ein klassischer Familienzyklus gehört, wie ihn etwa Duvall & Miller (1985; zit. n. Widmer &

Bodenmann 2008, 168) entwerfen: Auf der sechsten von insgesamt acht Entwicklungsstufen kommt es zur „Familie im Ablösestadium“ (Widmer & Bodenmann 2008, 169), in der sich die Kinder als junge Erwachsene vom Elternhaus lösen. Zudem wurden möglicherweise die Interviewerinnen von Herrn Wellmann als Repräsentantinnen der ‚richtigen‘, vermeintlich wissenschaftlich fundierten Auffassung angesehen, ein lebensgeschichtlich später Auszug sei als Versäumnis der Familie zu bewerten. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenspiels von Orien-tierungen, Präsentationsinteressen und unausgesprochenen Erwartungen wird deutlich, dass Herrn Wellmann gar keine andere Wahl blieb, als sich auch in seiner Rolle als Vorsitzender eines Elternverbandes zu präsentieren und eine narrative Lösung für die Diskrepanz zwischen der gelebten Wirklichkeit (die Tochter lebt bis zu ihrem 46. Lebensjahr im Elternhaus) und der propagierten ‚richtigen‘ Norm („mit 30, Anfang 30“, Wellmann 846f ) zu finden.

Wie sich zeigt, handelt es sich bei Herrn Wellmann tatsächlich um ein doppeltes Präsentations-interesse, bei dem jedoch neben der Verkörperung des Vaters einer beeinträchtigten Tochter weniger die Rolle als Vorsitzender eines Elternverbandes den zweiten Aspekt seiner Motivation, sich zu präsentieren, darstellt. Diese Rolle kann eher als ein Ausdruck seiner Selbstpräsentation als Vertreter einer gehobenen Mittelschicht interpretiert werden. Als solcher gerät er durch die Gleichzeitigkeit als Vater eines beeinträchtigten Kindes an neuralgischen Punkten des Inter-views in Widersprüche, etwa, wenn er sich bemüht, aus einer fachlichen Perspektive die Situ-ation älterer Familien zu analysieren. Es gelingt ihm, die eigene SituSitu-ation in einer Weise nach außen zu kommunizieren, die ihn von den ‚typischen älteren Familien‘ abgrenzt, in denen seiner Ansicht nach zum Beispiel finanzielle Abhängigkeiten ein Festhalten an der Lebenssituation bedingen.

8.1.4.1 Widersprüche im doppelten Präsentationsinteresse

Herr Wellmann präsentiert sich im Interview als gebildeter und sachlicher Mann und Familien-vater mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Implizit drückt er damit seine Zugehörigkeit zur akademisch gebildeten oberen Mittelschicht aus, in der u. a. Bildungs- und Fortschrittsorientie-rung kommuniziert werden. Wie bereits in 8.1.3.4 erläutert, gelingt es ihm mit Hilfe der

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tiellen Verwandlung, sein bisheriges Handlungsschema, das ausschlaggebend für sein Präsenta-tionsinteresse ist, zu erhalten, es jedoch um wesentliche Aspekte so zu erweitern, dass es trotz der ‚Abweichung‘ durch die Beeinträchtigung der Tochter orientierungsgebend bleiben kann.

Zugunsten seines Präsentationsinteresses vermeidet er es, eine Theorie über seine Veränderung zu entwickeln bzw. sie zu explizieren. Er muss also versuchen, die Bedeutung seiner Verwand-lung herunterzuspielen (vgl. Rosenthal 1987, 134), was mit Risiken für die Konsistenz seiner Erzählung verbunden ist. Aus diesem Grund lassen sich im Verlauf des Interviews immer wie-der Textstellen aufweisen, in denen sein Präsentationsinteresse mit seiner erzählten Geschichte konfligiert – sein Präsentationsinteresse lässt sich hier besonders markant herausarbeiten. Statt sich diesen Diskrepanzen kritisch zuzuwenden, vermeidet er es im Interview, diese detaillierter darzustellen, was bei der Auswertung mit Blick auf seine – deutlich präsentierte – Fähigkeit zur Selbstreflexion irritiert hat. Dieser Irritation folgend wird das Präsentationsinteresse analysiert.

Distanzierung von ‚älteren Familien‘

Von besonderem Interesse ist die Frage nach seiner Identifikation mit der Zielgruppe, deren Belange er in seiner Funktion als Vorsitzender vertreten hat: Eine Gruppe, der er also auf der einen Seite zugehörig ist, für die er sich gleichzeitig auf einer anderen Ebene auch engagiert. Sein doppeltes Präsentationsinteresse und die damit einhergehenden Herausforderungen kommen in diesem Zusammenhang besonders deutlich zum Vorschein: In seiner Funktion als Familien-vater ist es sein Bestreben, ein harmonisches Familienleben zu inszenieren. In seiner Funktion als Vertreter eines Elternverbands wird seine Orientierung an Fortschritt und Wissenschaft rele-vant und es ist ihm ein Anliegen, sein Interesse an aktuellen Leitprinzipien und dem vermeint-lich ‚richtigen‘ Handeln in der Behindertenhilfe zu skizzieren. Dies gestaltet sich genau an der Stelle schwierig, an der seine familiale Lebenswirklichkeit den von ihm als ‚richtig‘ verstande-nen Kriterien widerspricht, indem die Tochter bis in ihr mittleres Erwachseverstande-nenalter hinein mit ihren Eltern zusammenlebt. Hierzu muss erwähnt werden, dass das lange Zusammenleben auch seinem Schema widerspricht, das sich stärker an einer gesellschaftlichen Norm orientiert, nach der der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus einen normativen, das heißt, einen erwartbaren und auch relativ terminierten Übergang im Familienzyklus beschreibt (vgl. Fthenakis 1999), der mit Chancen für die Verselbstständigung und Individuierung der ausziehenden jungen Er-wachsenen verbunden wird (vgl. ebd.)102:

„In der Fachliteratur wird die Lebenssituation von Erwachsenen mit geistiger Behinderung im Eltern-haus überwiegend kritisch beurteilt. Es werden Entwicklungshemmnisse konstatiert die auf Überbehü-tung zurückzuführen seien (vgl. Theunissen/Plaute 1995). Die familiären Sozialisationsbedingungen gelten als defizitär, von Fremdbestimmung geprägt, vor allem in den Bereichen, Freizeit, Kontakte, Se-xualität, Zukunftsplanung und Konsumverhalten (vgl. Schatz 1998). Aussagen von jungen Erwachse-nen mit geistiger Behinderung bestätigen die Tendenz (vgl. Badelt 1984; Rock 1997; Elbert/Villinger 1999).“ (Seifert 2003, 49)

Herr Wellmann grenzt sich und seine Familie im Interview, wie bereits erläutert, von anderen älteren Familien ab. Stattdessen bemüht er sich, sich als moderner Vater einer beeinträchtigten Tochter zu präsentieren, indem er betont, dass er selbst den Auszug schon früher verwirklicht hätte. Daneben repräsentiert er auch den langjährigen Vorsitzenden eines Elternvereins, der sich

102 Dabei muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sich seit den 1980er Jahren ein „Phänomen des ver-zögerten Auszugs“ (Schultz 2014, 46) abzeichnet (vgl. Papastefanou 2000) und ein längeres Zusammenleben mit den Eltern häufiger und damit erwartbarer wird.

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mit den Sorgen und Nöten betroffener Eltern auseinandergesetzt hat (vgl. Wellmann 266ff;

781ff ): Finanzielle Abhängigkeiten seien ein „Prellbock“ (Wellmann 804) für Familien, sich für eine Veränderung der Lebenssituation zu entscheiden, emotionale Abhängigkeiten seien ein weiterer Grund, an der Situation festzuhalten. Außerdem scheint er sich an einer Norm darüber zu orientieren, wann ‚nicht beeinträchtigte‘ und beeinträchtigte Kinder aus dem Elternhaus aus-ziehen sollten:

„ich meine, der normale Zeitpunkt sollte früher liegen. Will nicht unbedingt sagen, so wie gesunde Kinder aus dem Haus gehen mit äh 19, 20 oder spätestens nach der Ausbildung, nach dem Studium.

(2) Aber so etwa sollte man sich bei unseren Kindern auch ‚danach orientieren, nicht (.) so mit 30, An-fang 30‘ (.) denn sie soll ja davon profitieren, sollen noch beweglich genug sein, um diesen Wechsel auch wirklich wahrzunehmen und davon zu profitieren“ (Wellmann 843ff )

Herr Wellmann assoziiert ältere Familien mit Problemen und drückt sein Bestreben aus, sie zu unterstützen, thematisiert aber auch seine Hilflosigkeit, nicht zu wissen, wie man helfen könne (vgl. Wellmann 787ff; 821ff ). Sich selbst grenzt er in diesem Zusammenhang so gut es geht von anderen älteren Familien ab, wobei er in den Konflikt gerät, gemessen an den äußeren Zuschrei-bungen eben doch dazuzugehören:

„Nein, ich weiß nicht, wie man da helfen kann. Also ich sehe [verlässt den Raum] diese Situation schon als Problem, dass (.) und wir haben es ja (.) in unserer Familie auch nicht viel besser hingekriegt @(.)@.

Nun, wenn meine Frau nicht (.) krank gewesen wäre [nimmt wieder am Tisch platz] bin ich sicher, dann wär die Nadja schon längst im Wohnheim.“ (Wellmann 823ff )

Das Zitat belegt, dass er den Aufschub des Umzugs mit der erneuten Erkrankung seiner Ehefrau begründet, während er anderen älteren Familien andere, letztlich weniger ‚gute‘, akzeptable Be-weggründe für ein Verharren im Status quo unterstellt, die er stärker strukturell verankert sieht und nicht, wie in seinem Fall, als dem Schicksal geschuldet begründet. Auf diese Weise gelingt es ihm, sich nicht näher mit den eigenen lebensgeschichtlichen Diskontinuitäten auseinander-setzen zu müssen, die mit der partiellen Verwandlung einhergehen (vgl. 8.1.3.4).

Daneben verweist er auf die „emotionale Bindung“ (Wellmann 818), die zwischen Müttern und ihren beeinträchtigten Kindern besonders stark ausgeprägt sei und die zusätzlich eine Verände-rung der Lebenssituation erschwere (vgl. Wellmann 815ff ). Er greift dabei auf den „Mythos Mut-terliebe“ (Schütze 1986; zit. n. Diabaté/Ruckdeschel & Schneider 2014, 24) zurück, nach dem die biologischen Voraussetzungen die emotional enge Beziehung der leiblichen Mutter zu ihrem Kind bedingen, die der Grund dafür ist, dass sie sich zum einen instinktiv stärker für das Kind aufopfert und zum anderen „intuitiv besser weiß, was das Richtige für es ist“ (vgl. Diabaté/Ruckdeschel &

Schneider 2014, 24). Diese emotionale Bindung beschreibt er auch mit Blick auf seine Frau, den-noch scheint er dies im Kontext der Frage des Auszugs ausschließlich auf ihre Erkrankung zu be-ziehen: „Und äh in den letzten Jahren war das eigentlich für meine Frau kein Thema mehr, das war aber emotional begründet. Meine Frau war (2) sechzehn Jahre krank“ (Wellmann 153ff ).

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt interessant: Der Impuls zum Auszug der Tochter scheint in der Familie Wellmann keinesfalls in der Zukunftsplanung der Familie Well-mann verankert gewesen zu sein. Es bedurfte einer Krise, nämlich der lebensbedrohlichen Er-krankung der Ehefrau, um diese Veränderung als wünschenswert zu definieren und zu planen.

Es wird deutlich, wie stark er die Rollenunterschiede zwischen Vater und Mutter generalisiert und damit auf quasi angeborene Geschlechterunterschiede anspielt. Er beschreibt vor allem die Mütter, wie bereits am Beispiel seiner Frau dargestellt, als emotional mit den Kindern

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den und macht sie damit unausgesprochen zu den Problemträgerinnen: „Ich weiß nicht, wie man da den Müttern helfen kann“ (Wellmann 820).

Distanzierung vom Präsentationsinteresse als ‚partnerschaftliche Einheit‘ zugunsten der Identifikation mit der ‚fachlich richtigen Haltung‘

Für Herrn Wellmann ist die Präsentation als Familienvater und auch die Verkörperung einer harmonischen Familie ein wesentliches Handlungsmotiv im Interview. Es ist zunächst auch mit seinem Bestreben vereinbar, sich als gebildeter, reflektierter, kultivierter und an Fortschritt und Zukunft orientierter Mann der gehobenen Mittelschicht zu präsentieren: Eine funktio-nale Familie ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Schemas, das die Glaubwürdigkeit erhöht.

Umso auffälliger sind Interviewpassagen, in denen Herr Wellmann die Inszenierung von part-nerschaftlicher Einheit verlässt und er dem Impuls folgt, sich als ‚sich von seiner Frau unter-scheidend‘ zu präsentieren. Um dies zu verdeutlichen, wird in einem ersten Schritt illustriert, wie wichtig es Herrn Wellmann grundsätzlich ist, das Bild einer harmonischen Ehe zu zeichnen.

In einem zweiten Schritt wird dann aufgezeigt, in welchen Zusammenhängen er sich davon distanziert und wie er versucht, beide Tendenzen wieder miteinander zu vereinbaren.

Darstellung einer harmonischen Ehe

Im Kontext des Schwurs, den seine Ehefrau und er sich gegenseitig geleistet haben, wurde be-reits erläutert, dass das Thema ‚Konflikte‘ kopräsent ist: Die Trennung der Ehepaare muss eine starke Wirkung auf das Ehepaar Wellmann gehabt haben, der Schwur war Ausdruck der Not-wendigkeit, sich des Zusammenbleibens zu versichern – die Fortsetzung der Beziehung scheint also in Anbetracht der damaligen Umstände nicht fraglos gewesen zu sein, sondern erforderte ein bewusstes Versprechen. Diese Ausführungen des latenten Sinngehalts konfligieren aber mit dem Präsentationsinteresse von Herrn Wellmann als Vater einer harmonischen Familie, die eher fraglos zusammengehörte und den Normen entsprach. Entsprechend vermeidet er es, sich der Erinnerung näher zuzuwenden, und reduziert sie auf die oberflächliche Zusammenfassung als

„diese Situation“ (Wellmann 532).

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass er sich nicht ‚freiwillig‘ dem Thema zuwen-det, sondern erst nach einer direkten Frage der Interviewerin:

„Äh, was für Sie das Schlimmste war, was Ihre Vorstellungen waren von der Zukunft, äh, von ihrer Zu-kunft als, Ihrer persönlichen und Ihrer Familie und auch von Nadja und auch vielleicht ein bisschen vergleichen, wie sich das verändert hat. (.) Also, was dann tatsächlich passiert ist.“ (Wellmann 516ff ) Nach einem ersten Zögern, verdeutlicht durch eine dreisekündige Pause (Wellmann 520), wen-det sich Herr Wellmann der Erinnerung an die zwei Trennungen von Mitgliedern der Eltern-selbsthilfegruppe zu, die nach seiner Darstellung umgehend zu dem Schwur führen. Achtet man auf das thematische Feld, das sich in diesem Kontext anbietet, fällt auf, dass er sich explizit nicht den möglicherweise vorhandenen Konflikten mit seiner Frau zuwendet. Gleichzeitig stellt er ebenfalls nicht die gegenteilige Behauptung auf, entsprechende Konflikte habe es nie gegeben.

Stattdessen beleuchtet er, ganz im Sinne seines Präsentationsinteresses, die Aktion, mit der seine Frau und er diese Situation bewältigt haben. Der implizite Gehalt einer Herausforderung oder Belastung kann damit aber nicht verschleiert werden.

Herrn Wellmanns Distinktionsinteresse

Das Suprasegment ‚Gemeinsame Entscheidungen von Mutter und Vater: Gab es Konflikte?‘

(vgl. Wellmann 344ff ) beginnt mit der Frage der Interviewerin, wie in seiner Ehe

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gen getroffen wurden und ob diese eher miteinander entwickelt wurden, oder ob es auch Situ-ationen gab, in denen ein Partner die Entscheidung verantwortet hat, weil der andere sich dazu nicht in der Lage fühlte. Herr Wellmann berichtet in diesem Zusammenhang, durchaus mit-unter anderer Meinung als seine Frau gewesen zu sein. Er beschreibt das Verhalten seiner Frau seiner Tochter gegenüber als ‚überversorgend‘, rechtfertigt dies aber als typisches mütterliches Verhalten. Im Gegensatz dazu beschreibt er sich selbst als den Elternteil, der mehr emotionalen Abstand zur Tochter hat und eher deren Selbstständigkeit im Blick behalten hat.

Während er in der Regel dazu neigt, die Beziehung zu seiner Frau in einer Weise darzustellen, die seiner Vorstellung von Familie entspricht, mit dem er folglich sein Bild von Familie nach außen in-szeniert, verlässt er an dieser Stelle dieses Präsentationsinteresse des ‚Gemeinsamen‘, um stattdessen stärker die Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen, hier verkörpert als Leitprinzip der Unterstützung von Selbstständigkeit, inszenieren zu können. Dies gelingt ihm, indem er das Ver-halten seiner Ehefrau als ein ‚typisch Mütterliches‘ definiert, das stärker von Emotionen gesteuert ist, während es ihm scheinbar aufgrund seiner größeren Objektivität in der Vaterrolle besser ge-lingt, der Tochter mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen. Der Verweis auf typische Geschlechter- bzw. Vater- und Mutterrollen dient hier außerdem der Relativierung des Konfliktpotenzials, das mit den unterschiedlichen Handlungsausrichtungen tendenziell einhergeht.

„Sie war aber auch emotional viel enger mit der Nadja verbunden. Das muss ich auch sagen, das, ähm, es gab so manche Situation, wo ich denn meinte, ach, da wäre doch n anderer Weg der richtige, äh (2) da hätte ich aber mit meiner Frau stundenlang diskutieren können, da hätte ich sie nicht überzeugen können. Und hätte auch kein anderer sie überzeugen können. Wenn das so emotional begründet ist, äh, denn (2) sie hat (2) unsere Tochter, ja, sie hat sie gefördert, aber sie hat sie auch vielleicht so ein bisschen überversorgt, das, beides trifft zu, denke ich mal, nicht. Äh, sie meinte oftmals dann doch, ach, das kann sie nicht, und (.) na ja, während ich sagte, lass sie doch. Und wenn sie eine Viertelstunde gebraucht meine Frau war dann ungeduldiger und sagte komm=komm, ich mach das schon. Nicht? Ich glaube, das geht aber wohl den meisten Müttern so, dass der Mann da mehr Abstand hat und dann vielleicht auch nicht so mitfühlt mit dem ‚behinderten Kind, nicht‘. (2) Ja, äh, wenns um (2), ‚ja, um grundsätzliche Entscheidungen ging‘, ja, was sind da grundsätzliche Entscheidungen=das ist bei uns (.) wenn ich es so betrachte, eigentlich alles (2) ganz normal gelaufen.“ (Wellmann 380ff )

Sein Resümee am Ende des Zitats, in der Familie bzw. in der Ehe sei bei ihnen im Wesentlichen

‚alles (2) ganz normal gelaufen‘, unterstreicht sein Präsentationsinteresse als harmonische Fa-milie und ordnet sein Distinktionsinteresse diesem Streben familialer Selbstdarstellung unter.

Widersprüchliche Wiederherstellung partnerschaftlicher Einheit

Das latente Konfliktpotenzial, das in diesen unterschiedlichen Handlungsansätzen – trotz der Begründung durch unterschiedliche Elternrollen – zum Ausdruck kommt, vertieft er jedoch nicht, sondern lenkt den Fokus eher wieder auf die Übereinstimmungen zwischen den Ehe-leuten und betont, dass sie sich bei grundsätzlichen Entscheidungen stets einig waren. Konflikte in diesem Zusammenhang verneint er ausdrücklich und kommt zurück zur Präsentation des

‚Gemeinsamen‘:

„ich sag mal so (.) meine Frau hat (.) hat da die Federführung gehabt und es hat aber auch keinen Streit gegeben, äh dass wir jetzt meinten, hier grundsätzliche Probleme unterschiedlich handhaben zu wollen,

‚nein, das, das gabs nicht. Da‘ (.) da waren wir (.) eigentlich immer einer Meinung.“ (Wellmann 403ff ) Latent enthalten bleibt jedoch die Frage, wie mit weniger grundsätzlichen, täglichen Entschei-dungen umgegangen wurde, auf die Herr Wellmann ja durchaus hinweist.

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„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

Vermeiden der Zuwendung zu Theorien über die Herausforderungen des Lebens mit einem beeinträchtigten Kind

Im Kontext der Erzählung über den geleisteten Schwur kommt er auch auf die Trennung der Ehepaare zu sprechen und macht „diese Situation“ (Wellmann 532) dafür verantwortlich. Er erläutert aber nicht eingehender, wie sich diese Situation genau darstellt. Eine detailliertere klärung würde konkretere Aussagen über seine Theorien zu den Herausforderungen und Er-fahrungen, hier insbesondere für die Paarbeziehung, erlauben, die relevant werden, wenn ein beeinträchtigtes Kind geboren wird. Einer solchen Erklärung entzieht er sich aber. Hier kann vermutet werden, dass er befürchtet, dass seine Theorien über das, was Paare nach der ersten Konfrontation mit einer Beeinträchtigung des eigenen Kindes bewegt, mit seinem Interesse, sich als reflektierter und aufgeklärter Vater und Berater zu präsentieren, kollidieren.

Darauf weist die folgende Textstelle hin. Hier berichtet Herr Wellmann von seiner Frau, die ihre Berufstätigkeit wieder aufgenommen hat. Im Segment „Berufliche Tätigkeiten von Herrn und Frau Wellmann“ berichtet er über den beruflichen Wiedereinstieg seiner Frau und argumentiert:

„Später hat meine Frau ne Berufstätigkeit aufgenommen, das hat ihr sehr geholfen, hat sie immer wieder betont, (2) und, ja, sie hat, im Grunde genommen, sie hat ständig gearbeitet. Äh, nur so in den ersten Monaten oder in den ein, zwei Jahren äh nach der Entbindung, sonst war sie immer berufstätig, das hat ihr sehr geholfen, das (.) mit den ganzen Problemen fertig zu werden, das hat sie immer wieder bestätigt.“

(Wellmann 66ff )

Dieser Aussage ist zum einen inhärent, dass Frau Wellmann durchaus belasteter war, als er das im Interview dargestellt hat, indem er sie vor allem als engagierte Mutter charakterisiert, die umgehend handlungsfähig ist und deren Handlungen, auffallend überhöht formuliert, „hun‑

dertprozentig“ (Wellmann 357) sind. Die damit implizierten Herausforderungen, Probleme oder Belastungen konkretisiert er nicht. Gedrängt durch den Detaillierungszwang fasst er sie lediglich oberflächlich als ‚die ganzen Probleme‘ zusammen. Auch hier scheint es, als wolle Herr Wellmann der näheren Darstellung der erfahrenen Herausforderungen entgehen, indem er seine erzählerische Aufmerksamkeit bewusst ausgewählten Erinnerungen zukommen lässt.

Die Probleme, wie sie sich für ihn dargestellt haben und die möglicherweise immer noch viru-lent sind, stehen unter Umständen seinem Präsentationsinteresse als aufgeklärter Vertreter der Interessen beeinträchtigter Menschen und ihrer Familien entgegen, als der er sich an aktuellen Leitprinzipien der Behindertenhilfe orientiert. Die erfahrenen Belastungen der Vergangenheit hält er möglicherweise für nicht vereinbar mit dem modernen und aufgeklärten Bild, das er präsentieren möchte.

8.1.4.2 Sprachliche Strategien zur Sicherung des Präsentationsinteresses

Bemerkenswert ist, dass er sogar sprachliche Strategien entwickelt hat, mit denen er gewähr-leisten kann, seinem Präsentationsinteresse zu folgen und sich nicht durch Erzählzwänge zu Darstellungen und Erzählungen verleiten zu lassen, die ihn in einem anderen Licht darstellen.

So verweist er an zwei Stellen auf die Umstände der damaligen Zeit, die zu verletzenden Erfah-rungen geführt haben: bei der Diagnosemitteilung bzw. in Bezug auf Reaktionen der weiteren Familie (vgl. Wellmann 18ff; 52ff ). Um sich dem Schmerz, der immer noch von diesen Verlet-zungen ausgeht (gerade die Passage über die Schwiegereltern ist auffallend emotional), zu ent-ziehen, relativiert er die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus und schützt sich so vor einem zu tiefen Eintauchen in Erinnerungen. Diese Strategie hat dabei noch einen weiteren Effekt: Sie erlaubt es ihm, sich als aufgeklärter Informant zu präsentieren, und unterstützt so zugleich sein

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Darstellung der Ergebnisse auf der Ebene des Einzelfalls

Präsentationsinteresse. Sehr deutlich wird das auch an dem folgenden längeren Zitat, mit dem Herr Wellmann das Interview beendet und mit dem sich ihm zum letzten Mal im Interview die Gelegenheit bietet, sich zu präsentieren:

„Äh, wenn ich die Arbeit äh von damals heute betrachte, ja, dann muss ich sagen (.) das war nicht pro-fessionell und (2) ‚nein, das, das‘ machten Mütter äh machten das besser, äh hätten das besser gemacht, sage ich mal. Aber das kann man heute nicht vorwerfen. Es war damals noch nicht die Zeit. Es, ich den-ke mal, es gab äh noch gar nicht die Ausbildung äh für entsprechende Sozialpädagogen, ‚Sozialarbeiter und Helferinnen und Helfer‘. Es es war ‚noch nicht professionell angegangen damals, nicht.‘ (2) […] Das muss man einfach hinnehmen, das war damals die Zeit. Es konnte damals nicht viel besser laufen. Es (2) ja, ich sagte ja schon, in, in F-Stadt, da haben wir das noch so miterlebt wie von dieser Bewahranstalt, in der Hausfrauen sich um die Kinder kümmerten, frühere Kindergärtnerinnen oder, ja, Kindergärt-nerinnen waren es teilweise oder, ich weiß eine Dame war ne Krankenschwester, die, nach- ähm dem ihre Kinder so aus dem Gröbsten raus waren, da in in der Sonderschule anfing als, da waren gar keine Fachkräfte. Und erst, wie gesagt, die Frau Meyer, die dann dort auch promoviert hat (.) die hat dann da Qualität reingebracht und auch Ziele gesetzt (.) und Projekte gestartet (.) Aber das können wir nicht äh als Vorwurf, auch jetzt im Nachhinein können wir das nicht als Vorwurf sehen, das war einfach die Zeit.

Nicht, wenn in 20 Jahren jemand äh unsere heutigen Gedanken äh reflektiert, dann wird er auch sagen (.) die waren doch noch hinterm Mond, ne. (.)@(.).“ (Wellmann 914ff )

Die Auseinandersetzung mit Herrn Wellmanns doppeltem Präsentationsinteresse, das sich als Familienvater mit einer beeinträchtigten Tochter und als reflektierter Repräsentant einer ge-hobenen Mittelschicht mit Fortschrittsorientierung skizzieren lässt, verweist auf ein tieferge-hendes Motiv: Es geht ihm darum zu belegen, dass seine Familie sich (gemessen an fachlichen Standards) ‚richtig‘ verhält. Widersprüche, die in seinen Darstellungen mitunter enthalten sind, löst er mit dem Verweis auf scheinbar typische Geschlechterrollen im elterlichen Verhalten auf und scheint damit das fachlich gebotene Verhalten und die ‚Normalität‘ seiner Familie noch un-terstreichen zu wollen. Gerade mit Blick auf seine Zuordnung der Interviewerinnen als Vertre-terinnen der wissenschaftlichen Perspektive lässt dies die Vermutung zu, dass es ihm mit seiner Darstellung auch um die Anerkennung als Familie geht, die ihr Leben mit ihrer beeinträchtigten Tochter erfolgreich gemeistert hat.