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8.1 Herr Wellmann: „Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie

8.1.3 Biografisches Handlungsschema, Krisen und partielle Verwandlung

Die Auswertung des narrativen Interviews mit Herrn Wellmann verweist auf eine partielle Ver-wandlung, der eine Auslösungskrise vorausgeht. Diese wiederum gewinnt ihr Potenzial durch die vorher wirksame Orientierung an einem Handlungsschema, das auf Erfolg, Bildung, Fort-schritt und Sachlichkeit ausgerichtet ist.

Handlungsschema

Das handlungsleitende Schema, das für Herrn Wellmann bis zur Auslösungskrise orientierungs-gebend wirkt, richtet sich aus an einem Ideal der akademisch gebildeten oberen Mittelschicht der frühen 1960er Jahre, für das Bildung und der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt eben-so beispielhaft sind wie der Anspruch an ein gepflegtes Äußeres und ein kultivierter Umgang:

„Der konsumbewusste, ansonsten angepasste und unpolitische ‚Teenager‘ bestimmte weitge-hend das öffentliche Bild von Jugendkultur“, so Schmidt (2005) über die jungen Erwachsenen der frühen 1960er Jahre, und verweist weiter auf deren

„hohes Maß an Verhaltensstabilität im Alltag … Ein unerwartet starker Teil tendiert in ‚konservativem‘

Widerspiel gegen alle Veränderungen zur Stabilität, Kontinuität, Normalität gleichsam zeitlos bürger-licher Verhältnisse sowohl in der Politik wie in der Religion, im Lebensstil wie in der Auffassung von Beruf, Familie und Freizeit‘“ (Schmidt 2005, o. S.)

Herr Wellmann expliziert seine Orientierung nicht direkt, aber sie lässt sich an der Aufschich-tung und den Inhalten seiner Geschichte ablesen:

• Aufnahme und Beendigung eines Ingenieurstudiums in einer Zeit, in der aufgrund der wirt-schaftlichen Lage Vollbeschäftigung vorlag und die Aufnahme eines Studiums für das Gros der Gesellschaft noch keine realistische Option darstellte

• Berufseinstieg nach dem Studium

• Eheschließung mit einer Frau, die bei einem Finanzdienstleister arbeitet – mit anderen Wor-ten einer Frau, die nicht ungelernt im produzierenden Sektor arbeitet, eine Sekretärinnen-schule besucht hat oder im Familienunternehmen bzw. in der familiären Landwirtschaft hilft

• Zwei ehelich geborene Kinder, ein und drei Jahre nach der Eheschließung

• Beruflich bedingter Umzug in den ersten Wochen nach der Geburt des zweiten Kindes – auch daran lässt sich sein berufliches Karrierestreben und das Handlungsschema ablesen, das nicht nur für ihn orientierungswirksam war, sondern auch für seine Ehefrau, die sich mit die-sem Entwurf identifizieren konnte (und deren Ausbildung, die sie vor der Ehe, möglicherwei-se auch vor der Beziehung mit ihrem Mann begonnen hat, nahelegt, dass auch sie an einem vergleichbaren Schema orientiert ist).

Die Jahre zwischen 1955 und 1965 gelten als Blütezeit von Ehe und Familie (golden age of marriage).

Die moderne Kleinfamilie – teilweise in Form der „bürgerlichen Kleinfamilie“ mit komplementärer Rollenteilung zwischen den Geschlechtern, dem Mann als Alleinversorger und der Frau als Hausfrau und Mutter – war eine kulturelle Selbstverständlichkeit und wurde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch unhinterfragt gelebt (so genannte Normalfamilie).“ (Peuckert 2007, 36)98 Die Orientierung an Bildung, Fortschritt und Moderne wird nun gerade daran deutlich, dass Herr und Frau Wellmann insofern von dem hier beschriebenen Familienmodell abrücken,

98 Offen lässt Peuckert, wie beispielsweise Arbeiter- oder Bauernfamilien sowie Kriegswitwen in dieser von ihm proklamierten ‚Normalität‘ Eingang finden.

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als dass Frau Wellmann vermutlich ab dem Zeitpunkt, ab dem die Kinder den Kindergarten bzw. die Schule besuchen, in geringfügigem Umfang ihre Berufstätigkeit wieder aufnimmt.

Finanziell ist die Familie nicht auf ihr zusätzliches Einkommen angewiesen. Ihre Berufstätig-keit kann daher als Ausdruck ihrer Handlungs- und Werteorientierung verstanden werden.

Auslösungskrise

Als Krise wurde in Kapitel 2.2.3 der Ort beschrieben, „an dem Ereignisse und Strukturen auf-einandertreffen und für Bewegung sorgen“ (Hildenbrand 2011, 93). Die hier ausgelöste Be-wegung, die von einem zunehmenden Verlust der Handlungsorientierung geprägt ist, entsteht drei Monate nach Geburt der Tochter Nadja, als das Ereignis der Diagnosemitteilung auf die biografischen Strukturen von Herrn Wellmann trifft. Die Diagnosemitteilung wird im Kon-text von Familien mit beeinträchtigten Kindern in der Regel als ein ‚kritisches Lebensereignis‘

(vgl. Filipp 1995) gewertet, das mit „Enttäuschung und Orientierungslosigkeit, gleichzeitig aber auch mit Abwehrmechanismen, wie Leugnung der Diagnose und Rationalisierung“ (Heck-mann 2004, 23) einhergeht: „Auch trauern die Eltern, da sich mit der Diagnose ‚Behinderung‘

der Wunsch nach einem gesunden Kind und die antizipierte glückliche Lebensperspektive nicht erfüllen“ (ebd., 23f )99.

„Einige Untersuchungen ergaben, dass Eltern durch die Art und Weise der Diagnosemitteilung Ver-änderungen im sozialen Kontext erfahren müssen, insofern als das [sic!, L. O.] soziale Regeln des menschlichen Miteinanders, der Kommunikation und Kooperation verletzt werden (Ziemen 2002).

So sind soziale Regelverletzungen vor allem in der Beziehung von Ärzten und Eltern (behinderter Kin-der) wahrzunehmen, die sich in äußerst verkürzten Diagnosemitteilungen ohne Beratung der Eltern, in wenig sensiblen und abweisenden Diagnosemitteilungen, in Diagnosen, die an Dritte weitergege-ben werden, unter Verzicht auf die Mitteilung unmittelbar Betroffener (zumeist der Mutter) zeigen (vgl. Ziemen 2002, 170ff ). Insofern ist davon auszugehen, dass die emotionale Situation der Eltern sich durch erfahrene Regelverletzungen verändert und Stress, Schock, Depression und Aggression nicht aus-schließlich durch die individuelle Ebene der Persönlichkeit bzw. im familialen Kontext zu erklären ist, sondern den unmittelbaren Bezug zum Sozialen und Gesellschaftlichen zu suchen hat. So ist die Situ-ation der Eltern unter Berücksichtigung sozialer Felder (bspw. medizinisches Feld, pädagogisches oder psychologisches Feld, Feld der Öffentlichkeit) zu verstehen und zu erklären. Nicht die Behinderung des Kindes irritiert und schockiert die Eltern prinzipiell, sondern die damit einhergehenden sozialen Verän-derungen, so bspw. aus einer weitgehend unabhängigen Position heraus in eine Abhängige, Unterlegene wechseln zu müssen.“ (Ziemen 2004, 54)

Um das volle Potenzial der Auslösungskrise zu verstehen, muss man sich zunächst noch einmal die Lebenssituation von Herrn Wellmann vor dieser Zäsur vor Augen führen (vgl. 8.1.2), die als durchaus privilegiert beschrieben werden kann. Diese Erfolgskurve, die beruflich wie privat mit positiven Zukunftsperspektiven verbunden ist, wird jäh unterbrochen, als der neue Kinderarzt die Eltern mit der Beeinträchtigung der Tochter konfrontiert. Bisherige gemeinsame Planungen in Bezug auf die Familie, die Bildung der Kinder, die Entwicklung als Eltern, der Traum von der zukünftigen Generativität als Großeltern etc. werden durch die Beeinträchtigung brüchig, mehr noch: Es fällt Herrn Wellmann und seiner Frau schwer, überhaupt gemeinsam Perspektiven für konkrete Herausforderungen zu entwickeln:

99 Heckmann (2004) verweist in diesem Zusammenhang auf das Spiralphasenmodell von Schuchardt (2003), von dem in dieser Arbeit jedoch aufgrund der Individuumzentrierung und der fehlenden Beachtung des Kontextes, der linear konzipierten Abfolge mit einem statischen Ende und der sich dadurch abzeichnenden argumentativen Nähe zum Annahme-Postulat (vgl. Hellermann 2018, 105) kritisch Abstand genommen wird.

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„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

„Mütter und Väter erleben die Behinderung ihres Kindes manchmal wie eine Blockade für ihr eigenes Leben. […] Das Handeln orientiert sich an äußeren Notwendigkeiten; das Gefühl, die Freiheit verloren zu haben, wird dominierend.“ (Schulz 2005, 26)

An dieser Stelle muss auch auf das Mitte der 1960er Jahre noch kaum ausgebaute Netz der Be-hindertenhilfe und der Beratung hingewiesen werden, durch die Eltern mit beeinträchtigten Kindern mit ihren Fragen und Handlungsunsicherheiten weitestgehend auf sich selbst gestellt sind (vgl. Engelbert 1999, 31).

Nicht nur die Zukunftsperspektiven des Paares werden brüchig, auch das Selbstbild von Herrn Wellmann wird herausgefordert: Vor der Auslösungskrise hat er sich scheinbar an einem – mit Schütze ausgedrückt – institutionellen Ablaufschema orientiert und in diesem sehr erfolgreich agiert. Nach der Diagnose Down-Syndrom scheint er dieses Schema nicht mehr für sich bean-spruchen zu können, denn ein beeinträchtigtes Kind ist in seiner biografischen Orientierung, die sich auf ein institutionelles Ablaufschema bezieht, nicht vorgesehen: Er erlebt eine „bittere Enttäuschung, weil die ‚Zukunftslosigkeit‘ des behinderten Kindes keine Gelegenheit bietet, die Erfüllung der väterlichen Rolle zu erleben“ (Cloerkes 2007, 291). Sein Bekenntnis, mit den Bli-cken der Öffentlichkeit nicht zurechtgekommen zu sein, bekräftigt dies (vgl. Wellmann 127ff ).

Auf diese Weise führt die Diagnose Down-Syndrom für Herrn Wellmann zu einer Auslösungs-krise, die ihn in unterschiedlichen Kontexten mit Erleidensprozessen konfrontiert, die wieder-um unterschiedliches Bewältigungshandeln hervorrufen.

8.1.3.2 Erleidensprozesse und Handlungsstrategien im Umgang mit der Krise

Krisen dieser Art gehen einher mit Prozessen des Erleidens und mit Handlungen, mit denen eben dieses Leiden vermieden werden soll. Betroffene Subjekte handeln laut Rosenthal so viel wie möglich, um so wenig wie möglich zu erleiden (vgl. Rosenthal 1987, 49f ). Wie stellt sich dies bei Herrn Wellmann dar? Welchen Prozessen des Erleidens sieht er sich ausgesetzt und auf welche Handlungsstrategien greift er zurück, um diesen zu entgehen?

In seinem engeren privaten Umfeld, den jeweiligen Herkunftsfamilien, schlagen ihm und seiner Familie heftige ablehnende Reaktionen und implizite Schuldzuweisungen entgegen (vgl. Well-mann 45ff ). Nach der Freude über die Geburt der Enkeltochter wenden sich die Großeltern nach der Mitteilung darüber, dass sie beeinträchtigt ist – mit anderen Worten: dass sie von einer Norm negativ abweicht –, von ihr ab und schließen sie (zunächst) aus der Familie aufgrund ihres Andersseins aus. Hier drückt sich die große Verunsicherung der Angehörigen aus (vgl. Engel-bert 1999, 30):

„Großeltern [sehen sich, L. O.] vor eine dreifache Herausforderung gestellt: Sie müssen mit ihrem eige-nen Schmerz nach der Diagnosestellung lereige-nen umzugehen, sie müssen lereige-nen, mit den Sorgen bzw.

Ängsten ihre Kinder umzugehen und sie müssen ebenso damit zurechtkommen, dass die Entwicklung ihres Enkelkinds möglicherweise einen anderen Verlauf nimmt als sie es sich gewünscht haben.“ (Guhl-mann/Herlan & Sarimski 2020, 24)

„Für die Eltern des behinderten Kindes sind ablehnende Reaktionen durch die eigenen Eltern und Schwiegereltern, Verleugnungstendenzen und Bagatellisieren (‚das wächst sich bestimmt raus!‘) eine erhebliche Belastung. Wenn sich Großeltern aus eigenem Gram zurückziehen, kann dies für ihre er-wachsenen Kinder als große Zurückweisung erlebt werden.“ (Retzlaff 2019, 55)

Mit ihrer von Herrn Wellmann zitierten Formulierung suggerieren sie außerdem  – bewusst oder unbewusst – eine Schuldzuweisung für die genetisch bedingte Beeinträchtigung, die in den 1960er Jahren noch im Kontext der NS-Lebenswertideologie gesehen werden kann.

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Ein weiterer Aspekt, der die Krise befeuert, liegt in der Sichtbarkeit der Beeinträchtigung und den Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Sichtbarkeit. Herr Wellmann hat große Schwierigkeiten damit, „in der Öffentlichkeit begafft“ (Wellmann 128) zu werden. Er beschreibt dies aus seiner per-sönlichen Wahrnehmung heraus allerdings nur in einer rückblickend evaluierenden Perspektive und in Form der Beschreibung seiner Handlungen nach der Verwandlung, die dadurch charakterisiert sind, die Tochter „immer nur mitzunehmen“ (Wellmann 131) und „sie zu zeigen“ (Wellmann 119).

Eine konkrete Erinnerung rekonstruiert er lediglich stellvertretend am Beispiel seines Sohnes, was auch als ein weiterer Hinweis dafür gewertet werden kann, sich selbst nicht als ‚Betroffener‘

zu präsentieren, mehr noch, keine konkreten Erinnerungen darüber preisgeben zu müssen, sich in der Öffentlichkeit mit der beeinträchtigten Tochter bedroht gefühlt zu haben: „(5) ich hab da so eine S-Szene in Erinnerung (2) in der Stadt, wie er sich schützend vor seine Tochter stellt, um sie vor Blicken zu schützen. (3)“ (Wellmann 57ff ). In Zusammenhang mit dem Wissen um sein eigenes Leiden unter den Blicken der Öffentlichkeit kann diese sehr emotional erinnerte Szene als ein stellvertretendes Beispiel für sein eigenes Erleben gewertet werden. Dafür spricht auch der auffallende Versprecher, als er von der Tochter und nicht von der Schwester spricht, um die es in dieser Perspektive geht. Es gelingt ihm jedoch nicht, seine eigenen Erfahrungen auch als solche zu benennen und näher auf sie einzugehen.

Die hier zitierte Erinnerung endet auffallend abrupt mit einem Sprung in die erzählende Gegen-wart durch den Hinweis, „der [Sohn, L. O.] hat aber heute ein wunderbares Verhältnis zu unse-rer Tochter“ (Wellmann 60f ). Diese Evaluation ist in mehrfacher Hinsicht interessant:

• Zum einen verweist sie auf die bereits erwähnte Strategie, sich einer emotional berührenden Erinnerung mit einer Evaluation aus der Gegenwartsperspektive zu entziehen (vgl. 8.1.5).

• Zum anderen, und dies ist im Kontext der Analyse der Krise von Bedeutung, verweist Herr Wellmann damit latent auf einen Zusammenhang zwischen den Blicken der Öffentlichkeit, die ihm (im Beispiel vertreten durch seinen Sohn) Schwierigkeiten bereiten, und einem Kon-flikt, der sich daraus entwickelt. Dieser Konflikt ist zunächst innerpsychisch als eine Wut da-rüber zu interpretieren, aufgrund der (sichtbaren) Beeinträchtigung der Tochter mit einer veränderten Haltung der Umwelt und einem ‚Wahrgenommen-Werden‘ konfrontiert zu sein.

Dieser Aspekt wird im Kontext des Präsentationsinteresses weiter ausgeführt (vgl. 8.1.4).

• Die Bezeichnung „wunderbare Beziehung“ schließlich erscheint überhöht für eine Geschwis-terbeziehung zweier nicht mehr junger Erwachsener. Die Bezeichnung „unsere Tochter“ an-stelle „seiner Schwester“ verrät versehentlich genau die Distanz, die die Geschwisterbezie-hung oder seine eigene damalige BezieGeschwisterbezie-hung zur Tochter kennzeichnet.

Das Leiden unter der Ausgrenzung und der Sichtbarkeit der Beeinträchtigung sowie der inner-psychische Konflikt sind vor dem Hintergrund der beschriebenen Ausgangsposition, der Orien-tierung am institutionellen Ablaufschema, plausibel herzuleiten: Die berufliche Karriere und auch die Paarbeziehung von Herrn Wellmann scheinen – so legt es jedenfalls die Rekonstruktion nahe – vergleichsweise problemlos und vor allem erfolgreich verlaufen zu sein. Die Beeinträchti-gung der Tochter bedeutet einen Bruch mit diesem unproblematischen Verhältnis zur Welt.

„Väter erleben die Behinderung als Gefährdung ihres Selbstbilds, das sich vor allem an gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen orientiert. Die ‚Mängel‘ des behinderten Kindes bedrohen ihre gesell-schaftliche Anerkennung, sie haben Angst vor Diskriminierung. Häufig fällt es ihnen anfangs schwer, sich mit dem behinderten Kind in der Öffentlichkeit zu zeigen.“ (Seifert 2003, 47)

Das Down-Syndrom als eine Beeinträchtigung, die einen – individuell sehr unterschiedlich aus-geprägten – lebenslangen Unterstützungsbedarf mit sich bringt, verhindert ein Fortsetzen der

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„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

bisherigen Orientierung. Die Sichtbarkeit der Beeinträchtigung verhindert zudem eine Anony-mität in der Öffentlichkeit, ein ‚so tun, als ob nichts wäre‘ in einer unbekannten Umgebung: Wo sie auch sind, ob in vertrauten oder fremden Umgebungen, die Wellmanns, sofern sie gemein-sam als Familie auftreten, fallen auf als Familie mit einem beeinträchtigten Familienmitglied, da die Beeinträchtigung schon vor einer potenziellen Kontaktaufnahme sichtbar ist. Niedecken beschreibt die damit verbundene Dramatik und Abwertung als „‚tötende[.]‘ Blicke[.] der Um-welt“ (2003, 97). Dies führt bei Herrn Wellmann zunächst zu einer „prophylaktische[n] Inter-aktionsvermeidung“ (Cloerkes 2007, 107). Die Wellmanns sind damit geradezu gezwungen, auf diese Wahrnehmung zu reagieren und sich – in welcher Weise auch immer – im Sinne eines Displaying Family zu inszenieren. Die Frage, wie sie sich als Familie präsentieren wollen, was für sie Familie ausmacht, steht so unweigerlich im Raum und fordert zu einer Auseinandersetzung auf. Diese wird zunächst jedoch durch Herrn Wellmanns ‚Passivität‘, durch seine Strategie, die Öffentlichkeit mit seiner Tochter zu vermeiden, hinausgezögert und später zunächst ‚im Al-leingang‘ von ihm als Individuum beantwortet, indem er beispielsweise wöchentlich mit seiner Tochter auf dem Markt einkaufen geht.

Aufgrund der Tatsache, dass Herr Wellmann im Interview keine Aussagen über seine Erfahrun-gen als Kind und JuErfahrun-gendlicher in seiner Herkunftsfamilie macht, ist es nicht möglich, biografi-sche Bezüge zu dieser Zeit herzustellen. Es würde jedoch vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen nicht verwundern, wenn im Wertesystem seiner Herkunftsfamilie, in der er trotz einer schwierigen Ausgangsposition nach dem Krieg ohne leiblichen Vater eine erfolgreiche schuli-sche, akademische und berufliche Laufbahn absolviert hat, ein gewisses Maß an Angepasstheit und Erfolg wesentlich verankert waren.

Seine Handlungsstrategien im Umgang mit den Erleidensprozessen weisen ebenfalls deutlich auf eine Orientierung am bisherigen Handlungsschema hin, das sich an Aufstiegsorientierung, Fortschrittsglaube und einer elterlichen Rollentrennung orientiert. In gewisser Weise scheint er also durch ein ‚mehr desselben‘ zu versuchen, die Situation zu bewältigen:

• Herr Wellmann baut seine Rolle als berufstätiger Vater aus, der die Verantwortung für die finanzielle Absicherung seiner Familie trägt, und überlässt seiner Frau die Verantwortung für Kinder: „Wenn Sie so wollen, habe ich das so als Entschuldigung genommen, dass ich mich in den ersten Jahren nicht son bisschen äh so engagiert habe, nicht“ (Wellmann 64ff ). Auf diese Weise gelingt es ihm einerseits, eine in Bezug auf den Beruf wirksame Handlungsorientierung aufrechtzuerhalten, andererseits kann er so die für ihn schmerzhaften Erfahrungen mit der Öffentlichkeit im Alltag vermeiden und sich in beruflichen Kontexten weiterhin als erfolg-reich und ‚normal‘ präsentieren.

• Auch der chirurgische Eingriff bei Nadja, bei dem die für das Down-Syndrom typischen Ge-sichtszüge angeglichen werden und den Herr Wellmann unzutreffend als eine ‚Fördermög-lichkeit‘ beschreibt, kann als der Versuch gewertet werden, die in der Öffentlichkeit ausge-lösten Leidensprozesse zu reduzieren und die abwertenden Blicke auf die Tochter und die Familie zu verhindern. Die sichtbaren Zeichen einer Beeinträchtigung werden

„nach therapeutisch-kosmetischen Eingriffen nicht mehr so leicht zum Ausgangspunkt für Interakti-onsvermeidung und Stigmatisierung, die Akzeptanz durch Nichtbehinderte nimmt zu, das Selbstwert-gefühl der Betroffenen wird verbessert (Shushan 1981; Straßmeier 1983). Auch die viel weitergehenden plastischen Operationen beurteilen die Eltern überwiegend positiv, obwohl der Eingriff selbst recht um-fangreich ist und Komplikationen chirurgische Nachbesserungen nötig machen können. Neben eher medizinischen Verbesserungen (reduzierte Infektanfälligkeit durch Mundschluß) werden positivere Umweltreaktionen und Entwicklungsfortschritte berichtet.“ (Cloerkes 2007, 301f )

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Niedecken sieht in der Frühförderung eine Strategie zur Entwicklung von Handlungskom-petenz in der Krise und zur Beherrschung vorhandener Ängste in Bezug auf die Behinderung (vgl. Niedecken 2003, 141ff ). Wenn Herr Wellmann hier also einen plastischen Eingriff als Fördermöglichkeit bezeichnet, kann dies durchaus im Sinne des Versuchs gewertet werden, die mit dem Down-Syndrom einhergehenden Sorgen und Schuldgefühle zu bewältigen.

Die Sichtbarkeit von Behinderung und den Versuch, sie chirurgisch unauffällig zu machen, beschreibt Preiß (2006, 68) aus psychoanalytischer Perspektive drastisch als den Versuch, den

‚Behinderten‘ zum Menschen zu machen100.

• Neben den Strategien zur Vermeidung von Erleiden (durch den Rückzug ins Berufsleben, durch den Versuch, äußere Zeichen der Beeinträchtigung unsichtbar zu machen) nehmen die Well-manns auch an einem Gesprächskreis für Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom teil. Sie wenden sich damit, angeregt durch den sie begleitenden Kinderarzt, offensiv einer neuen Be-zugsgruppe zu. Grundsätzlich kann diese BeBe-zugsgruppe als eine Hilfestellung gewertet werden, die neue Situation zu bewältigen, wie sie auch bei institutionell produzierten Phasenmarkierern (vgl. 2.2.3) bereitgestellt werden. Allerdings sind Selbsthilfegruppen dieser Art zu der damali-gen Zeit erst noch im Begriff, sich zu formieren, sie sind damals noch eher selten. Zudem kon-kurriert die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe vermutlich mit dem bisherigen Handlungs-schema von Herrn Wellmann, das sich daran misst, ohne Hilfe von außen erfolgreich zu sein.

Dass er dennoch an diesem Elterngesprächskreis teilnimmt, ist möglicherweise dem Einfluss des Kinderarztes zu verdanken, der in den Augen des Ehepaars Wellmann hohe Anerkennung genießt, da er „immer auf dem Laufenden war, wenn irgendwo in der Fachliteratur etwas Neues, für ihn Neues war, dann hat er uns informiert“ (Wellmann 545f ). In dieser Hinsicht gelingt es Herrn Wellmann, weiterhin orientiert an einem institutionellen Schema, innerhalb dessen die Expertise von Fachkräften handlungsleitend wirken kann, seine gewohnten Handlungsräume zu verlassen und sich auf ein selbsthilfeorientiertes Hilfeangebot einzulassen. Gleichzeitig bietet ihm diese Gesprächsrunde einen geschützten Rahmen, in der keine Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit droht, obgleich sie doch ausdrücklich durch das beeinträchtigte Kind definiert ist. Die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe verkörpert damit einen für die folgende Verwand-lung wesentlichen ‚signifikanten Dritten‘ (vgl. Rosenthal 1987, 30).

8.1.3.3 Wendepunkt

Rund um das Jahr 1970 kommt es im Rahmen der Krise zu einem Wendepunkt. Nach Rosen-thal verfügt ein Wendepunkt, auch Interpretationspunkt oder Gegenwartsschwelle genannt, über das Potenzial, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu zu ordnen, sie neu zu inter-pretieren. Wie konkretisiert sich dies im Leben von Herrn Wellmann?

Die Bestimmung des Wendepunktes in der Lebensgeschichte von Herrn Wellmann gestaltet sich zunächst insofern schwierig, als dass es sich in seinem Fall nicht um eine totale, sondern um eine partielle Verwandlung handelt. Hier fehlt die

„theoretische Konstruktion seiner Verwandlung, die das ‚vorher und nachher‘ wieder in einen konsis-tenten Zusammenhang stellt, in der das Vorher in Übereinstimmung mit dem Nachher reinterpretiert wird.“ (Rosenthal 1987, 31)

100 Er bedient sich dazu der Bezeichnung ‚Monster‘ und beruft sich dabei auf Grim (1999; zit. n. Preiß 2006), der beeinträchtigte Menschen nicht mit diesen gleichsetzen will, sondern den Begriff lediglich als Bild verwenden möchte (vgl. Preiß 2006, 68). Diese Begrifflichkeit wird bei Preiß bzw. bei Grim dazu verwendet, über eine Grund-angst gegenüber kognitiv beeinträchtigten Menschen zu sprechen und im psychoanalytischen Diskurs einen Be-griff für ein „uraltes, ‚verschleiertes Phantasma‘ aus Bösem und Transzendenz“ (Preiß 2006, 68) zu finden.

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„Im Grunde genommen ist es, ja, ist es in unserer Familie sehr gut gelaufen“

Herr Wellmann präsentiert sich zwar als jemand, der sein Verhalten verändert hat, er vermeidet es aber geschickt, sich bezüglich der Krise und des Wendepunkts, die ihn zu einer Verhaltens-änderung bewogen haben, näher zu äußern oder gar eine Theorie über diese VerVerhaltens-änderung zu formulieren. Ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, wird an späterer Stelle noch genauer herauszuarbeiten sein (vgl. 8.1.4).

Der Wendepunkt selbst, den es an dieser Stelle herauszuarbeiten gilt, wird von ihm nicht expli-zit in Bezug auf die hier definierte Auslösungskrise präsentiert. Dies ist jedoch symptomatisch für die Struktur der partiellen Verwandlung, wie nun ausgeführt werden wird.

Herr Wellmann folgt in seiner biografischen Großerzählung im Wesentlichen der Entwicklung seiner Familie unter dem Fokus der Beeinträchtigung der Tochter Nadja. In diesem Zusammen-hang wird deutlich, wie sich sein Verhalten im Laufe der Zeit verändert: von einer deutlichen Zurückhaltung in Bezug auf die öffentliche Präsentation als Vater hin zu einem Verhalten, das geradezu als ein Zurschaustellen der Vaterschaft beschrieben werden kann (vgl. Wellmann 119f ).

Während dieser Zeit kommt es zu einer auffallenden Kumulation von Ereignissen (vgl. 8.1.2.5):

• Die Familie zieht ein weiteres Mal beruflich bedingt um.

• Frau Wellmann nimmt in einem geringfügigen Rahmen eine Beschäftigung in ihrem erlern-ten Beruf auf.

• Das Ehepaar leistet (angesichts der Trennung zweier Paare) einen Schwur zusammenzublei-ben.

Die auffallende zeitliche Gleichzeitigkeit dieser Veränderungen wird von Herrn Wellmann im Interview nicht thematisiert, sie musste nachträglich mit Hilfe der Fallrekonstruktion nachge-wiesen werden, was möglicherweise auf eine Strategie von Herrn Wellmann verweist, die Um-stände seiner partiellen Verwandlung zu verschleiern. Denkbar ist, dass er sich im Sinne seines Präsentationsinteresses (vgl. 8.1.4) bewusst nicht explizit den sachlich und zeitlich kopräsenten Gegebenheiten (thematisches Feld und Rand, vgl. 2.3.2) zuwendet, um dem Risiko aus dem Weg zu gehen, näher auf die Beziehung zu seiner Frau während dieser Zeit eingehen zu müssen.

Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass er diese Zusammenhänge tatsächlich nicht erkennt, da er sich ihnen nie bewusst zugewendet hat, um das eigene Bild von der ‚heilen Familie‘ nicht zu verunsichern.

Die Betrachtung dieser zeitlich kopräsenten Episoden vor dem Hintergrund eines potenziellen Wendepunktes legt einen Zusammenhang nahe: Das Erleben der Trennungen ihnen bekann-ter Ehepaare mit beeinträchtigten Kindern scheint ihnen ihre eigene Situation drastisch vor Augen geführt zu haben: Denkbar ist, dass Frau Wellmann ihren Mann mit seiner Haltung konfrontiert hat, sich aus dem Familienleben zurückzuziehen, möglicherweise hat sie ihm sogar vorgeworfen, sich für seine Tochter zu schämen. Auch wenn der Einfluss von Belastungen, bei-spielsweise durch ein beeinträchtigtes Kind, auf die Qualität der Partnerschaft widersprüchlich diskutiert wird (vgl. Retzlaff 2019, 63), erfordert die Versorgung der beeinträchtigten Kinder Zeitressourcen und die bis heute wirksamen gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse erhöhen das Stresserleben, sodass die Zeit für eine Pflege der Paarbeziehung knapp bemessen ist. „Es kann zu Rollenunsicherheit, Zukunftssorgen und Konflikten zwischen den Partnern kommen, durch welche die Paarbeziehung belastet wird“ (ebd.).

In diesem Kontext wurde eine Strategie notwendig, um das Krisenpotenzial, das als nicht ver-änderbar wahrgenommen wurde, zumindest in Bezug auf das Ergebnis beeinflussen zu können.

Die Auseinandersetzung endet mit einer Einigung, „[jetzt weinend] das darf uns nie passieren“

(Wellmann 531), die in der Familienerzählung auffallend profund als ‚Schwur‘ bezeichnet wird

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und an dessen Maxime Herr Wellmann fortan sein gesamtes Handeln ausgerichtet hat. Über die Bedeutung des Schwurs aus der Sicht von Frau Wellmann ist nichts bekannt. Das Versprechen steht für Stabilität, für eine Konstante in einer Phase erheblicher Verunsicherung in Bezug auf den weiteren Lebensweg sowohl für ihn als Mann, als Partner seiner Frau und als Familienva-ter: Das bisherige Gefühl der Orientierung und Machbarkeit wurde durch die Diagnose aus-gehebelt. In der gegenseitigen Zusage der Eheleute, ihre Paarbeziehung unter allen Umständen zu erhalten, manifestiert sich für Herrn Wellmann ein neuer Planungshorizont, der ihm auch seine Handlungsorientierung, vor allem in Fragen seines Beitrags zur Herstellung von Familie, zurückgibt. Der Umzug wird möglicherweise in diesem Kontext von den Eheleuten als Chance zum Neuanfang gewertet und Herr Wellmann nutzt die neue Umgebung, um sich von Beginn an deutlich als Vater von Nadja in der Öffentlichkeit zu präsentieren.

In Bezug auf den Schwur könnte irritiert eingewendet werden, dass eine Ehe ohnehin von die-sem Versprechen ausgeht. Vor dem Hintergrund, dass ein solches Ehegelöbnis sicherlich auch bei den Wellmanns galt, gewinnt die Wiederholung des Schwurs an dieser Stelle jedoch eine besondere Bedeutung, denn er wird ohne weitere Zeugen und auf der Grundlage einer tatsäch-lichen Krise geleistet und scheint somit akut der Sicherung der Beziehung zu dienen. Wie be-deutsam und vor allem wie wirksam der Schwur in den Augen von Herrn Wellmann ist, zeigt das folgende Zitat: „(5) Das hat auch (2) die ganzen Jahre danach immer wieder geholfen. (2) Ja, und später dann (.) dann hatte man sich einfach arrangiert mit dieser Situation, nicht“ (Well-mann 533). Der Schwur scheint – jedenfalls aus der Sicht von Herrn Well(Well-mann – über Jahre in Bezug auf das, was Herr Wellmann diffus als ‚diese Situation‘ zusammenfasst, ein handlungs-leitender Kompass für seine Beziehungsgestaltung und möglicherweise auch das familiäre Zu-sammenleben, konkreter: das Balancemanagement, die Konstruktion von Gemeinsamkeit und das Displaying Family gewesen zu sein.

Bei genauerer Betrachtung bedeutet dieser Schwur eine Sicherung der Zukunft, eine maximale Vorhersehbarkeit, allerdings mit der Einschränkung, dass dies ausschließlich die Beziehungs-ebene der Eheleute betrifft. Auf diese Weise wird Frau Wellmann mit dem Schwur für Herrn Wellmann zur einzigen signifikanten Person, zu der Frau, nach der er sein Leben ausrichtet.

Die Vorhersehbarkeit der Zukunft ist vermutlich im Moment des Schwurs von größter Bedeu-tung und vermittelt die Planungssicherheit, die ihm in den Jahren zuvor abhandengekommen ist – eine Planungssicherheit, die am bereits vor der Krise handlungsleitenden institutionellen Schema orientiert ist. Zudem verkörpert die Partnerschaft, die durch die bedeutungsvollen ge-meinsamen Nachmittage mit der Freizeitgruppe, aber auch durch die Teilnahme am Elternge-sprächskreis sichtbar nach außen präsentiert wird, auch das Familienideal von Herrn Wellmann (Wellmann 328ff ). Das gemeinsame Auftreten als Paar verkörpert damit ein Element der Or-ganisation gemeinsamer Zeiten (Balancemanagement), es ermöglicht gemeinsame Erfahrungen und ermöglicht damit eine Identifikation als (Teil einer) Familie und es signalisiert nach außen eine stabile Paarbeziehung, dokumentiert damit also auch, wie die beiden als elterliche Vertre-ter*innen einer Familie wahrgenommen werden möchten (Displaying Family). Auf der anderen Seite verhindert der Schwur aber gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Krise, in der sich Herr Wellmann befindet, da er eine sofortige Lösung bereitstellt, die ein Bekenntnis zu einer neuen Weltsicht unnötig macht.

Der Schwur kann als der Wendepunkt in der Lebensgeschichte von Herrn Wellmann definiert werden, auch wenn dieser ihn nur implizit, über die Verbindung mit dem Kontext ‚dieser Si-tuation‘, in Zusammenhang mit der Auslösungskrise bringt und Herr Wellmann ihn sonst er-zählerisch vom thematischen Feld ‚Verhalten in den ersten Jahren‘ abgrenzt. Dies dient seinem