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7 Methodische und methodologische Fragen

7.2 Die Bestimmung des Forschungsfeldes

Die Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Bedeutung des langen Zusammenlebens mit einem kognitiv beeinträchtigten Kind erfordert die Erhebung der Sichtweisen der alten bzw.

hochaltrigen Eltern.

Vor dem Hintergrund des noch lückenhaften Wissens über die Lebenswirklichkeiten älterer Familien wurden biografische Interviews mit den Elternteilen sogenannter älterer Familien geplant und durchgeführt. Diese stellen die Datenbasis der vorliegenden Studie dar, die auf insgesamt fünf biografischen Interviews basiert. Die Datenbasis wird ergänzt durch zahlreiche (protokollierte, aber nicht mitgeschnittene) biografische Gespräche mit Elternteilen bzw. El-ternpaaren, die noch im hochbetagten Alter mit ihren Kindern zusammenleben. Diese Gesprä-che fanden im WesentliGesprä-chen im Rahmen des Projekts „Mein Leben. Biographiearbeit mit einem Lebensbuch“ statt (vgl. Lindmeier et al. 2018). Dabei handelt es sich nicht um eine Erweiterung der Datenbasis, dennoch sind die Erkenntnisse durchaus geeignet, die Vertrautheit der Autorin mit der Zielgruppe und ihren Lebenswirklichkeiten zu vergrößern (oder anders ausgedrückt:

die Fremdheit der Forscherin im Feld zu reduzieren). Gleichzeitig dient der intensive und mehr-jährige Kontakt zum Feld der Überprüfung der theoretischen Sättigung. Bei der Auswahl der Interviewpartner*innen war die Orientierung am Theoretischen Sampling nach Strauss (1991;

zit. n. Rosenthal 2014, 85) ausschlaggebend. Die Trennung der Phasen zwischen Erhebung und

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Auswertung ist aufgehoben, um zu gewährleisten, dass Fälle gewählt werden können, die mög-lichst alle für die Fragestellung relevanten Typen repräsentieren:

„Die grundlegende Frage beim Theoretical Sampling lautet: Welchen Gruppen oder Untergruppen von Populationen, Ereignissen, Handlungen (um voneinander abweichende Dimensionen, Strategien usw.

zu finden) wendet man sich bei der Datenerhebung als nächstes zu. Und welche theoretische Absicht steckt dahinter?“ (Strauss 1991, 70; zit. n. Rosenthal 2014, 85)

Entsprechend fand das jeweils nächste Interview erst nach einer ersten Auswertung mit einem zeitlichen Abstand von drei bis sechs Monaten statt.

Trotz dieses Vorgehens ist eine theoretische Sättigung jedoch nicht in jedem Fall zu gewährleis-ten, denn sie orientiert sich an einem ‚idealtypischen Forschungsverlauf ‘ (vgl. Rosenthal 2014, 85), der keinen zeitlichen oder finanziellen Bedingungen unterliegt. Ebenso ist das Vorhanden-sein sogenannter ‚blinder Flecke‘ (vgl. Rosenthal 2014, 85) ausgeblendet, deren Erhellung nach einiger Zeit des Abstands weitere Ergebnisse bzw. die Auswahl weiterer bzw. anderer Fälle be-fördern würde.

Die folgenden Kurzporträts liefern einen stark zusammengefassten Überblick über die jeweilige Kontaktaufnahme, die Lebenssituationen und die Zeitpunkte der Vorgespräche bzw. Interviews mit den Biografieträger*innen und dienen der Generierung von Hintergrundwissen, das für die Interpretation der Ergebnisse von Bedeutung ist.

Herr Wellmann (im Transkript abgekürzt: HW)6970

Herr Wellmann (75) ist zum Zeitpunkt des Interviews seit wenigen Wochen Witwer, seine Frau ist nach langjähriger Krankheit im Alter von 67 Jahren verstorben. Er hat zwei Kinder, sein Sohn arbeitet als Akademiker in einer Stadt, die etwa anderthalb Autostunden weit ent-fernt liegt. Seine Tochter Nadja (45) ist nach dem Tod der Mutter auf eigenen Wunsch und mit Unterstützung ihres Vaters in eine besondere Wohnform gezogen, die fußläufig zu ihrem Eltern-haus und damit zu ihrem Vater liegt. Herr Wellmann lebt in einem EinfamilienEltern-haus in der Stadt.

Der Kontakt wurde mit Hilfe eines Projektmitglieds hergestellt. Herr Wellmann und die Inter-viewerin waren sich vor dem Erstgespräch nicht bekannt. Das Interview fand im Juni 2010 statt.

Herr Köhne (im Transkript abgekürzt HK)

Herr Köhne (73) lebt mit seinem jüngsten Kind Christian (46) zusammen in einem Einfami-lienhaus in der Siedlung einer kleinen Ortschaft. Seine Ehefrau lebt zum Zeitpunkt des Inter-views aufgrund der Folgen einer demenziellen Veränderung seit knapp einem Jahr in einem Pflegeheim. Herrn Köhnes erstgeborene Tochter lebt in einer Stadt, die etwa eine Autostunde weit entfernt liegt. Das mittlere Kind der Eheleute Köhne verstarb einen Tag nach seiner Ge-burt. Der Kontakt wurde durch die Interviewerin hergestellt, die Herrn Köhne und seinen Sohn bereits im Rahmen ihrer Arbeit in der WfbM einige Jahre zuvor kennengelernt hatte. Das Inter-view fand im November 2010 statt.

Frau Dammann (im Transkript abgekürzt FD)

Frau Dammann (85) lebt zum Zeitpunkt des Interviews seit knapp zwei Jahren in einem Alten- und Pflegeheim. Frau Dammanns Ehemann ist etwa vier Jahre vor dem Interview verstorben.

69 Alle Namen und Orte wurden anonymisiert.

70 Bei der Anonymisierung fiel die Entscheidung gegen die Verwendung von Kürzeln und für die Vergabe von Pseudonymen. Ausschlaggebend dafür ist die Nähe zur erzählten bzw. erlebten Geschichte, die mit der Verwendung eines Pseudonyms – im Unterschied zu einem Kürzel – beim Lesen nicht irritiert wird.

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Ihr einziges Kind, ein Sohn (50), lebt etwa eine halbe Autostunde weit entfernt in einer be-sonderen Wohnform. Die veränderte Lebenssituation von Mutter und Sohn ist durch einen Herzinfarkt von Frau Dammann und dessen Folgen ausgelöst geworden. Der Kontakt zu Frau Dammann wurde mit Hilfe eines Projektmitglieds hergestellt. Die Interviewerinnen und Frau Dammann kannten sich vor dem Erstgespräch nicht. Das Interview fand im März 2011 statt.

Frau Worthmann (im Transkript abgekürzt FW)

Frau Worthmann (70) lebt mit ihrem Mann in einem Mehrfamilienhaus in einer Kleinstadt.

Ihre körperlich und kognitiv beeinträchtigte Tochter (50), die sich nicht lautsprachlich, son-dern durch Gestik und Mimik mitteilt, ist etwa ein halbes Jahr vor dem Interview in eine be-sondere Wohnform gezogen. Zwei weitere Söhne (47 und 40) leben in der näheren Umgebung.

Frau Worthmann, ihr Mann und ihre Tochter waren der Interviewerin durch ihre Arbeit in der WfbM bekannt. Das Interview fand im Juni 2011 statt.

Frau Fischer (im Transkript abgekürzt FF)

Frau Fischer (81) ist zum Zeitpunkt des Interviews seit 12 Jahren verwitwet. Sie lebt seit etwa einem halben Jahr in einer einem Altenheim angeschlossenen Seniorenwohnung. Ihr kognitiv beeinträchtigter Sohn (47) lebt im gleichen Ort in einer besonderen Wohnform. Ihre Tochter (54) lebt etwa eine halbe Autostunde entfernt. Vor ihrem Umzug hat Frau Fischer mit ihrem Sohn in einem Einfamilienhaus in einer Nachbargemeinde gelebt. Der Kontakt zu Frau Fischer wurde von der Interviewerin initiiert, die Frau Fischers Sohn bereits über ihre Arbeit in der WfbM kannte. Das Interview fand im Dezember 2011 statt.

Diese Fallporträts verweisen bereits auf die große Heterogenität alter Eltern: Es handelt sich um Väter und Mütter, mal als Elternpaar, mal als verwitwete Elternteile oder, auch wenn sie hier nicht vorkommen, als getrennt lebende oder geschiedene Elternteile. Sie leben im hohen Alter zusam-men mit ihren Kindern oder seit nicht zu langer Zeit voneinander getrennt, und dies aus unter-schiedlichen Gründen, freiwillig oder aus einer Notsituation heraus bedingt. Zwar begründet das theoretische Sampling eine derartig vielseitige Auswahl von Interviewpartner*innen, dennoch ir-ritieren möglicherweise die sich zum Teil sehr voneinander unterscheidenden Lebenslagen und – mit Blick auf den erfolgten Auszug des Kindes – ‚Lebensphasen‘: Ist es methodisch korrekt, diese unterschiedlichen Lebenslagen zu rekonstruieren und miteinander zu vergleichen?

Es lohnt sich ein Blick auf die unterstellten verbindenden Elemente: Sie alle haben Erfahrungen bis ins hohe Alter damit gesammelt, Elternteil eines beeinträchtigten Kindes zu sein und für die-ses ebenfalls bis ins hohe Alter im häuslichen Rahmen (in unterschiedlicher Form) Sorgearbeit zu leisten. Es gilt, die lebensgeschichtliche Bedeutung dessen zu rekonstruieren, es geht um die Frage, in welcher Weise die Lebensgeschichte und das lange Zusammenleben miteinander ver-schränkt sind. Der biografische Zugang ermöglicht dabei eine Rekonstruktion der subjektiven Bedeutung dessen. Hierbei spielt die Lebenslage zum Zeitpunkt der Befragung nur insofern eine Rolle, dass Veränderungen theoretisch eine neue Form der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte ermöglichen. Spuren des gelebten Lebens und ihre biografische Bedeutung lassen sich dennoch rekonstruieren und vergleichen. Eine Fallauswahl, die in Bezug auf die ak-tuelle Lebenslage enger beieinanderläge, liefe möglicherweise Gefahr, Bedeutungsstrukturen zu übersehen.

Für die vorliegende Arbeit wurde mit Blick auf den zu erwartenden Umfang die Entscheidung getroffen, nur drei der insgesamt fünf geführten Interviews in die Ergebnispräsentation einzu-beziehen.

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