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3 Hochaltrige Eltern und ältere Familien

3.5 Der Beitrag familiensoziologischer Forschung zum Verständnis älterer Familien

3.5.2 Doing Family

Familien können unter verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen werden. Im Mittel-punkt stehen beispielsweise ihre unterschiedlichen Strukturen, wobei die Größe der Familie oder ihre Zusammensetzung eine Rolle spielen. Daneben können die gelebten Interaktionsbe-ziehungen fokussiert werden, mit Fragen nach der Organisation des Alltags oder der Beziehun-gen zwischen den Partnern oder den Generationen. Als Drittes ist die Analyse ihrer dynami-schen Entwicklung möglich, also die Betrachtung der Entstehung von Familien, ihr Erleben von und ihr Umgang mit Übergängen oder die Beschreibung verschiedener Lebensphasen49 (vgl.

Stegmann & Röß 2013, 19). Die beiden letztgenannten Aspekte, die Analyse der Interaktions-beziehungen und das (biografische) Erleben und Verarbeiten familiärer Übergänge aus dem Blick einzelner Familienmitglieder, stehen im Interesse der vorliegenden Arbeit.

Doing Family postuliert einen praxeologischen Blick auf Familien, der die Praxis der Herstel-lung und Gestaltung der persönlichen Beziehungen untereinander zur Konstruktion von Fami-lie in den Fokus der Betrachtung nimmt:

„Doing Family fokussiert nicht auf Werte und Einstellungen und vor allem nicht auf bestimmte For-men des ZusamFor-menlebens, die als Charakteristika zur konsistenten Beschreibung von Familie dienen könnten, sondern vielmehr auf die Praktiken der Herstellung und Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen Generationen und gegebenenfalls auch Geschlechtern. Diese Beziehungen kreisen in unserer Gegenwartsgesellschaft mehr oder weniger direkt, vor allem aber mehr oder weniger gelingend, um Für-sorge bzw. Care zwischen Familienmitgliedern. Care ist die Klammer und gleichzeitig der Prozess, der persönliche Beziehungen in Familien zusammenhält und Bindungen stiftet, sei es als Erwartung anein-ander oder als praktisches Tun.“ (Jurczyk/Lange & Thiessen 2014, 9)50

49 Während in diesem Zusammenhang lange vom Familienzyklus die Rede war, mit dem die normierten Übergänge im Leben von Familien beschrieben wurden, wird heute eher der Begriff der Familienbiografie verwendet. Dieser wird den zunehmend häufigeren und vor allem immer weniger erwartbaren (also non-normativen) Veränderungen, mit denen Familien konfrontiert werden, besser gerecht (vgl. Lange 2011, 437).

50 Dieses Zitat enthält einen Widerspruch: Während behauptet wird, Herstellungsleistungen und Gestaltung familialer Beziehungen würden im Sinne des Doing Family unabhängig von Werten und Einstellungen betrachtet, konstatieren

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Damit wendet sich Doing Family ab von den bisher verbreiteten Ansätzen in den Familienwis-senschaften und der Familienforschung, in denen es vor allem um die Beschreibung konstanter Merkmale sozialer Geflechte geht, die dann als Familie bezeichnet werden, in denen aber die aktiven Herstellungsleistungen und ihr enormer sozialpolitischer und sozialphilosophischer Gehalt wenig beachtet werden. Der Ansatz ist im Kontext der Familiensoziologie noch relativ jung und dem ‚Doing Gender‘ der Feminismusdebatte entlehnt (vgl. Lange 2011, 440): Im Do-ing Gender wird getrennt zwischen dem biologischen Geschlecht „Sex“ (Geburtsklassifikation), der sozialen Zuordnung des Geschlechts („Sex Category“) und der intersubjektiven Validierung der Geschlechtskategorie, die sich in der Interaktion mit anderen vollzieht („Gender“). Es gibt folglich kein ‚natürlich‘ weibliches oder männliches Handeln oder Verhalten, sondern es wird sozial strukturiert und ausgehandelt. Dabei ist es nicht möglich, einem „Doing Gender“ auszu-weichen (vgl. West & Zimmerman 1987).

Übertragen auf Doing Family bedeutet dies nun, dass es auch kein natürliches Familienhandeln gibt (vgl. Jurczyk/Lange & Thiessen 2014, 11) und dass u. a. kulturelle Vorstellungen ausschlag-gebend dafür sind, wie Familie gelebt wird (vgl. Lange 2011, 440). Aus dieser Perspektive heraus werden Familien mit Blick auf ihre lebensweltlichen Praktiken und mit Blick auf die strukturell unterschiedlichen Bedingungen analysiert, unter denen sie Herstellungsleistungen erbringen müssen (vgl. Westphal/Motzek-Öz & Otyakmaz 2017, 146).

Dabei geht es zunächst um Fragen der Beziehungs- und Interaktionsarbeit sowie weiterer Aktivi-täten zur Vernetzung im privaten Bereich, aber auch – eng damit verbunden – um das aktive Aus-schließen von Personen aus dem Bereich der Familie. Mit Hilfe des Doing-Family-Ansatzes kann nachgezeichnet werden, wie Privilegien und Verantwortlichkeiten innerhalb von Familien verteilt werden oder welche Anstrengungen die Familie unternimmt, um sich nach außen als solche zu präsentieren (‚Displaying Family‘). Doch auch Analysen der praktischen Tätigkeiten im Familien-alltag, die breit gefächert sind, gehören zum Spektrum der Herstellungsleistungen von Familie.

Um eine konkretere Vorstellung von den Herstellungsleistungen zu bekommen, werden im Fol-genden die drei Grundformen der Herstellung von Familie erläutert (vgl. Jurczyk 2014, 61ff ). Sie veranschaulichen die soziale Praxis des Doing Family, vereinfachen im Rahmen von Forschung die Beschreibung der erbrachten Herstellungsleistungen von Familie und verfeinern diese.

1. Balancemanagement zur Organisation von familialer Ko‑Präsenz bei gleichzeitiger Si‑

cherung individueller Interessen

Familie erfordert die Ko-Präsenz ihrer Mitglieder, die mit der Gewährleistung der individu-ellen Bedürfnisse koordiniert werden muss. Hier geht es um mentale, emotionale, räumliche und zeitliche Steuerung. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die jeweiligen Rahmenbe-dingungen, zum Beispiel die Arbeitszeiten, die Schulzeiten, aber auch die räumlichen Ent-fernungen zwischen den Arbeits-/Schul- und Wohnorten.

Auch mit Blick auf die zunehmende Multilokalität von Familien ist dieser Punkt von Bedeu-tung. Gerade im Kontext der vorliegenden Zielgruppe, die sich über viele Jahrzehnte (auch) als eine räumliche/haushälterische Einheit verstanden hat, ist es wichtig zu erkunden, wie auch über weitere räumliche Distanzen ‚Familie‘ konstruiert werden kann. Dabei ist zu be-achten, dass gerade in Familien mit hochaltrigen Elternteilen und kognitiv beeinträchtigten erwachsenen Kindern erschwerend hinzukommen kann, für die Herstellung räumlicher

Ko-die Autoren gleichzeitig, dass es der Sorge-Aspekt (Care) ist, der beziehungsstiftend wirke – und zwar bereits dadurch, dass diese Sorge ‚erwartet‘ wird (vgl. Jurczyk/Lange & Thiessen 2014, 9). Care entspricht aber genau einem solchen Wert, was sich u. a. gerade in der zitierten Erwartung von Sorge ausdrückt. Hier scheint es notwendig, den Gedanken des Doing Family auf theoretischer Ebene noch zu vertiefen, um diese Widersprüchlichkeit zu beheben.

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Der Beitrag familiensoziologischer Forschung zum Verständnis älterer Familien präsenz auf Fahrdienste angewiesen zu sein oder während der gemeinsam verbrachten Quali-tätszeit auf die Privatsphäre eines eigenen Hauses bzw. einer eigenen Wohnung zugunsten besonderer Wohnformen oder Pflegeheime verzichten zu müssen.

2. Konstruktion von Gemeinsamkeit

Dieser Punkt entspricht am ehesten einer einfachen Übersetzung von ‚Doing Family‘ und meint die alltägliche und biografische Konstruktion von Familie als sinnhaftes Ganzes. Hier ist der Blick zum einen auf Strategien der Inklusion und Exklusion zu lenken, also die Frage, wer als der Familie zugehörig definiert wird und wer nicht. Zum anderen geht es um die Frage der Inti-mität durch die Herstellung eines Wir-Gefühls innerhalb des zur Familie zugehörigen Kreises.

Mit Blick auf die nachelterliche Phase stehen dabei zum Beispiel Fragen im Raum, wer noch zur Familie gehört und wie Familie konstruiert wird. Gerade mit dem Fokus auf das lan-ge Zusammenleben in einem lan-gemeinsamen Haushalt, aus dem möglicherweise bereits Ge-schwister ausgezogen sind, verspricht dieser Blickwinkel interessante Einsichten.

In diesem Kontext spielen auch das von Groppe (2007) beschriebene Familiengedächtnis und dessen Bedeutung für den Aufbau von Familienstrategien eine Rolle. Das im Zusammenleben und mit Hilfe von Erzählungen entwickelte Familiengedächtnis ergänzt das individuelle und das gesamtgesellschaftlich-kulturelle Gedächtnis. Es dient der Entwicklung von „Handlungs-figurationen, Werte[n] und Normen“ (Groppe 2007, 406). In Familien wiederholt erzählte Geschichten haben also einen Einfluss auf die Familienidentität. Dabei ist das Gedächtnis kein statisches, sondern es verändert sich mit den lebensgeschichtlich gesammelten Erfahrungen.

3. Displaying Family als Inszenierung von Familie

Dieser Aspekt beschreibt das nach außen gerichtete ‚sich als Familie darstellen‘. Jurczyk (2014) oder Westphal/Motzek-Öz & Otyakmaz (2017) betonen diesen Aspekt als beson-ders bedeutsam und gut abbildbar in Familien, die nicht dem klassischen biologisch struktu-rierten Familienbild entsprechen (Patchworkfamilien, Pflegefamilien, gleichgeschlechtliche Familien etc.). Für sie ist die Inszenierung nach außen, das „ostentative Bekräftigen des Sta-tus der Familienhaftigkeit der Beziehungen und Tätigkeiten“ (Lange 2011, 440) von großer Bedeutung, um ihren gesellschaftlichen Sonderstatus als Familie fraglos werden zu lassen51. Dass dies umgekehrt mitunter sogar erwartet wird, zeigt beispielsweise eine Studie im Kon-text der Familienhilfe von Thiessen & Sander (2012), nach der von Familien, die auffallend von der Norm der ‚traditionellen‘ Familie abweichen, ein Displaying Family stärker eingefor-dert wird als von Familien, die eher der ‚Norm‘ entsprechen.

In der vorliegenden Arbeit sind es die Familien mit kognitiv beeinträchtigten erwachsenen Kindern, in denen mit Hilfe biografischer Interviews Strategien der Selbstinszenierung re-konstruiert werden sollen. Doch auch in äußerlich scheinbar ‚klassischen‘ Vater-Mutter-Kind-Familien kann das Displaying Family von Bedeutung sein und ist es vor dem Hinter-grund der rasant zunehmenden medialen Präsentation und Selbstdarstellung möglicherweise wert, einer intensiveren Analyse unterzogen zu werden52.

51 In diesem Zusammenhang weist Displaying Family große Übereinstimmungen mit der von Schütze (2006) beschriebenen Strategie der Renormalisierung auf, bei der es ebenfalls darum geht, Abweichungen in den Zustand der Fraglosigkeit zu überführen.

52 Möglicherweise verweist ein vehementes Doing Family auf ein labiles, gefährdetes Selbstverständnis als Familie.

Dabei ist jedoch anzunehmen, dass ein gesteigertes ‚Displaying Family‘ nicht zu einem stabileren Familien-Gefühl führt: Kein Handeln im Sinne eines Displaying Family kann das individuelle Familien-Gefühl ausgleichen, dem eigenen Verständnis von Familie nicht zu entsprechen. Stattdessen dürfte eine verstärkte Selbstdarstellung mit einer besonderen Aufmerksamkeit für soziale Reaktionen darauf das Gefühl des Andersseins noch bestätigen.

Stattdessen wäre es – auch mit Blick auf pädagogische Tätigkeiten in der Familienhilfe – hilfreich, das eigene Verständnis von Familie zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen oder zu korrigieren.

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Hochaltrige Eltern und ältere Familien

Eine derartige Analyse von Herstellungsleistungen leistet einen Beitrag zur handlungstheore-tisch-grundlagenwissenschaftlichen Basis von Familie (vgl. Lange 2011, 439ff ).

Doing Family betont darüber hinaus aber auch die sozialpolitischen und sozialphilosophischen Aspekte familialer Leistungen, indem das Konzept die oben beschriebenen Grundformen der Herstellungsleistungen zurückführt auf Care: Care ist das Element, das über die notwendige Bindungskraft verfügt, einer sozialen Gruppe das Gefühl des Aufeinander-bezogen-Seins zu vermitteln und damit das Selbstverständnis als Familie zu begründen (vgl. Jurczyk/Lange &

Thiessen 2014, 9).