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3 Hochaltrige Eltern und ältere Familien

3.1 Definition des Familienbegriffs

Der Begriff ‚Familie‘ soll hier als kulturübergreifender Ausdruck für den Versuch verstanden werden, soziale Rahmenbedingungen für das Aufwachsen nachfolgender Generationen zu eta-blieren (vgl. Lenz 2013, 104). Dennoch ist es forschungsmethodisch notwendig, konkret zu formulieren, welche Merkmale ‚Familie‘ konstituieren.

Der Begriff ‚Familie‘ ist nur scheinbar eindeutig, dabei aber emotional sehr aufgeladen.

Nahezu jeder Mensch ist mindestens einmal in seinem Leben Teil einer Familie bzw. lebt in fa-miliären Bezügen: „Jeder hat Vater und Mutter, selbst wenn er sie nie erlebt und gekannt hat. Er ist und bleibt ihr Kind. Man ist nie niemandes Kind.“ (Duss-von-Werdt 1980, 18; zit. n. Schnee-wind 2010, 12). Die Mehrheit der Bevölkerung ist sogar „zweimal in ihrem Leben in einer tra-ditionellen Eltern-Familie eingebunden: als Kind und als Erwachsener“ (Nave-Herz 2002, 28).

Mehr noch: Der demografische Wandel bewirkt eine „Vervielfältigung von Familiengeneratio-nen“ (Schweppe 2007, 271) und ermöglicht der Großelterngeneration, Familienzeit nicht nur mit ihren Kindern, sondern vor allem mit ihren Enkel*innen zu leben: „Für die Alten selbst bedeuten diese Entwicklungen, dass die Altersphase mittlerweile die längste Zeit im Familien-zyklus ist“ (Schweppe 2007, 271). Jede*r hat also ein sehr subjektives Bild davon, was und wie Familie ist. Auf diese Weise entstehen allerdings auch immer mehr Mythen über Familie, „keine Lebensform ist mit mehr persönlichen Hoffnungen, Erwartungen, aber auch Enttäuschung ver-bunden“ (Fuhs 2007, 34). Diese emotionale Besetzung des Familienbegriffs, von der auch die jeweils forschenden Wissenschaftler*innen betroffen sind, erschwert eine Definition desselben.

Die häufig heraufbeschworenen Zerfall-Szenarien der Familie (etwa bei Hüter 2019) sind Bei-spiele für die Folgen eines unreflektierten Umgangs mit dem Familienbegriff und Ausdruck der sehr emotional und wenig sachlich geführten Debatte: Diesen Aussagen wird in der Regel ein

‚traditionelles Familienbild‘, bestehend aus einer heterosexuellen Ehe mit leiblichen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zugrunde gelegt, das nur in den „Golden Ages of Marriages“

(Nave-Herz 2013, 29) von Ende der 1950er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre – historisch be-trachtet also sehr kurz – die dominante Lebensform der Bevölkerung einer bestimmten Kultur darstellte, das aber weder vorher noch nachher jemals wieder in vergleichbarer Häufigkeit gelebt wurde. Dennoch gilt es bis heute in westlichen Gesellschaften als familiäre Norm. Weitere fa-miliäre Lebensformen werden so unreflektiert als defizitär bewertet, womit Bilder vom schein-baren „Ende der Familie“ (Fuhs 2007, 21) genährt werden.

Der Begriff ‚Familie‘ steht für sehr heterogene soziale Konstrukte, die sich zudem in einem konti-nuierlichen Wandel befinden.

Nähert man sich dem Familienbegriff historisch, bemerkt man schnell, dass die einzige de-finitorische Konstante die Veränderung ist. Autoren wie Schierbaum (2013), Rosenbaum (2014) oder Fuhs (2007) beschreiben dies sehr differenziert und weisen beispielsweise da-rauf hin, dass der Familienbegriff im Kontext von Forschung häufig als ein „zeitlich, räum-lich, kulturell und sozial“ (Fuhs 2007, 23) einmaliger Begriff konstruiert wird, der aber die dynamische historische Entwicklung des Begriffs außer Acht lässt – eine Entwicklung, die in Zeiten eines schnellen gesellschaftlichen Wandels noch zügiger voranschreitet und die Halt-barkeit einer Definition zu verkürzen droht. So geht Schierbaum davon aus, „dass sich Fami-lienformen weiter ausdifferenzieren, in veränderten Formen anzutreffen sein werden und möglicherweise zu einem ‚neuen Leitbild‘ von Familie konvergieren“ (Schierbaum 2013, 68).

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Definition des Familienbegriffs

Der Entwurf von ‚Familie‘ als eine „konstante Institution“ (Fuhs 2007, 23) übersieht überdies beispielsweise regional große Unterschiede. Und nicht zuletzt stimmen sozialwissenschaftli-che Definitionen nicht zwangsläufig mit den Selbstdefinitionen von Mitgliedern von Familien überein (vgl. Fuhs 2007, 26). Eine Definition schließt so also stets Gruppen aus, die sich selbst überzeugt als Familie bezeichnen würden.

Der Doppelcharakter von Familie erschwert eine allgemeine Definition.

Familie ist aus soziologischer Sicht geprägt von einem Doppelcharakter: Einerseits ist sie sozio-logisch betrachtet eine soziale Institution, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt ist und deren historischen Wandel man so nachzeichnen kann. Auf der anderen Seite ist Familie ein individuell gestaltetes Netzwerk persönlicher Beziehungen, das mit subjektivem Sinn ver-bunden ist. Als solches wird es auch beeinflusst von gesellschaftlichen Verhältnissen, ist aber gleichzeitig in der Lage, diese in einer Rückkoppelung zu verändern (vgl. Schneider 2008, 12). Je nach ‚Brille‘ der Forscher*innen steht in einer Definition also entweder der gesellschaftliche As-pekt von Familie in Vordergrund, oder es wird die subjektive Bedeutung von Familie betont und bei einer Definition vor allem auf die subjektiv erlebte familiäre Wirklichkeit zurückgegriffen.

Das Erkenntnisinteresse der forschenden Person beeinflusst den gewählten Familienbegriff.

Eng verbunden mit den vorangegangenen Aspekten ist der Hinweis, dass das jeweilige For-schungsinteresse selbstverständlich einen Einfluss auf die zugrunde gelegte Definition von Fa-milie hat.

Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, wird gefordert, den Familienbegriff laufend auf seine Passung hin zu überprüfen und sich nicht im Rahmen der „Soziologie der persön-lichen Beziehungen“ (Lenz 2013, 117ff ) von einem impliziten oder vorwissenschaftpersön-lichen Fa-milienbild (ver)leiten zu lassen (vgl. Burkart 2008, 166). Lenz (2013) wirft der Wissenschaft jedoch vor, genau dieser Forderung nicht nachgekommen zu sein, weshalb „der Familienbegriff seine Funktion als Leitbegriff für das sich anschließende Forschungsfeld verloren hat“ (105).

Dennoch sei ein solcher Begriff unverzichtbar, weshalb er sich für ein wissenschaftliches Kon-zept ausspricht, „das einerseits der vorhandenen kulturellen Vielfalt der Care-Strukturen für die nachwachsenden Generationen gerecht wird und andererseits für theoretische Debatten in den Sozialwissenschaften anschlussfähig ist“ (ebd.).

Betrachtet man unterschiedliche Familiendefinitionen von führenden Wissenschaftler*innen der Familiensoziologie, fällt auf, dass zuletzt immer stärker Abstand vom Biologismus genom-men wird und dass eine besondere Bindung, ein besonderes Solidaritätsverhältnis eine bedeu-tende Rolle spielt. Damit entsprechen diese Ansätze den Überlegungen von Lenz (2013), der seine Kritik am gängigen Familienbegriff vor allem auf den Biologismus und die Festschreibung auf die Haushaltsgemeinschaft bezieht – zwei zentrale Bestandteile des bürgerlichen Familien-modells, das geprägt ist von den folgenden fünf Merkmalen:

1. zwei Generationen

2. zwei Geschlechter in der Elterngeneration 3. Ehe

4. leibliche Kinder

5. geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierter Haushalt (vgl. Stegmann & Röß 2013, 18) Diese Merkmale sind als Konstanten konstruiert, das heißt: Man geht davon aus, dass sie in verschiedensten Familien gleich ausgeprägt sind und es innerhalb der Merkmale keine

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zierungen gibt. Neben diesem traditionellen Familienbild gab es jedoch stets andere familiale Lebensformen (z. B. durch Verwitwung und Neuheirat). Vergleichsweise neu ist die relative23 Freiheit des Individuums, eigene familiale Lebensentwürfe zu wählen, die nicht dem traditio-nellen entsprechen. Dabei setzt sich in diesen neuen Entwürfen das, was in Familie geschieht, und das, wozu sich Familie als soziale Institution etabliert hat (nämlich soziale Strukturen für das Aufwachsen jüngerer Generationen zu verankern (vgl. Lenz 2013, 104) und Careleistungen unabhängig von der Generationszugehörigkeit zu gewährleisten), fort.

Notwendigkeit für ein neues Verständnis vom Familienbegriff

Um Familie dennoch fassen zu können, aber auch, um sie empirisch analysieren zu können, ist es notwendig, einen weiter gefassten Familienbegriff zu definieren. Dieser muss in der Lage sein, (post)moderne familiale Lebenswirklichkeiten abzubilden, statt zu einem verengten Ge-sellschaftsbild beizutragen, in dem Familie an starre Merkmale gekoppelt ist und in dem die Vielfalt der familialen Wirklichkeiten nicht nur ausgeblendet, sondern sogar abgewertet und diskriminiert wird.

Aktuelle Definitionen aus dem Bereich der Familiensoziologie grenzen sich mittlerweile recht deutlich von der traditionellen Familiendefinition ab und charakterisieren Familie stattdessen mit Hilfe flexibler, gestaltbarer Merkmale, ohne den Begriff dabei jedoch zu verwässern und be-liebig zu machen. Als wesentliche Kennzeichen von Familie tauchen dabei auf:

• Sozialisationsfunktion (Nave-Herz 2002, Peuckert 2007)

• Solidaritätsverhältnis (Nave-Herz 2002; BMFSFJ 2006; Peuckert 2007; Wagner 2008;

Schneider 2008; Schneewind 2010; Lenz 2013)

• Exklusivität, also der Ausschluss weiterer ähnlicher Lebensformen neben dieser24, also auch die Übernahme exklusiver sozialer Rollen wie der der Mutter- oder Vaterrolle (Nave-Herz 2002; Schneider 2008; Lüscher 2012, Lenz 2013)

• Relative Dauer (Wagner 2008; Schneider 2008; Lüscher 2012)

• Generationsdifferenzierung2526 (Nave-Herz 2002; BMFSFJ 2006; Wagner 2008; Peuckert 2007; Schneewind 2010; Lenz 2013)

• Möglichkeit der Multilokalität, also die Abkehr vom Zwang einer Haushaltsgemeinschaft (Wagner 2008; Lenz 2013; Hennig 2014; Bertram 2000)

Gemeinsam konstituieren diese Merkmale Familie aus soziologischer Sicht als ein Konstrukt, das nicht einfach ist (zum Beispiel, weil es bestimmten äußerlichen Kriterien entspricht), son-dern das aktiv ‚gemacht‘ werden muss, um als solches zu gelten. Familie wird also immer stärker als eine Herstellungsleistung verstanden, was auch forschungsmethodisch zur Tendenz eines

„practical turn“ (Jurczyk/Lange & Thiessen 2014, 13) in den Familienwissenschaften führt.

23 Mit der Einschränkung ‚relativ‘ soll darauf hingewiesen werden, dass die aktuelle Familienpolitik weiterhin in vielerlei Hinsicht von der Orientierung am bürgerlichen Familienmodell geprägt ist und diese Lebensform begünstigt (Ehegattensplitting, Mitversicherung etc.).

24 Als Beispiel: während man mehrere gute Freundschaften nebeneinander pflegen und leben kann, ohne die Bedeutung der einzelnen in Frage zu stellen, ist dies mit Blick auf Familie anders: ihre Bedeutung ist auch an ihre Exklusivität gebunden.

25 Lüscher (2012) verweist auf die enge Koppelung der Generationsdifferenzierung an das Solidaritätsverhältnis bzw.

die Carestrukturen und wertet damit dieses vormals eher konstant wirkende Merkmal zu einem flexiblen auf.

26 Die Generationsdifferenzierung schließt geschwisterlich gelebte Care-Strukturen vom Familienbegriff aus. Dies ist mit Blick auf die hier untersuchte Zielgruppe zu beachten, denn nicht selten übernehmen bei zunehmender Pflegebedürftigkeit, schwerer Krankheit oder nach dem Tod der hochaltrigen Eltern bzw. Elternteile die ‚nicht beeinträchtigten‘ Geschwister die Care-Beziehungen von ihren Eltern.

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Zur Häufigkeit älterer Familien

Auf der Grundlage dieser Ausführungen orientiert sich diese Arbeit an dem Familienbegriff von Jurczyk (2014, 50), die Familie wie folgt definiert:

„Familie ist ein (multilokales) Netzwerk besonderer Art, das zentriert ist um Care, d. h. um verantwort-liche, emotionsgeleitete persönliche Sorge zwischen Generationen und Geschlechtern, die – teilweise existenziell – aufeinander angewiesen sind. […] So verstanden, meint Familie als Herstellungsleistung hier die Herstellung fürsorglicher persönlicher Beziehungen, die sich weder auf verheiratete Eltern und ihre Kinder noch auf das Zusammenleben in einem Haushalt beschränken.“

Sie vereint in dieser Definition die oben angeführten Merkmale von Familie und bringt zu-sätzlich noch explizit den Begriff ‚Care‘ mit in die Definition, der im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht unerheblich ist. Ihre Definition entspricht damit den Kriterien, die für den in die-ser Arbeit verwendeten Familienbegriff benötigt werden (vgl. exemplarisch Jurczyk/Lange &

Thiessen 2014):

• Familie wird als (biografische) Herstellungsleistung verstanden.

• Diese Herstellung wird gesteuert durch die Interaktion von Individuum und Gesellschaft.

• Besondere Sorgestrukturen verfügen über die notwendige Kraft, Menschen miteinander zu verbinden und verbunden zu halten.

• Aus den Sorgestrukturen lassen sich Hinweise auf zu erbringende Unterstützungsleistungen aus Politik und Gesellschaft ableiten.

Zusätzlich liefert der Doing-Family-Ansatz wesentliche Aspekte zur Analyse der Herstellungs-leistungen selbst. Aus diesem Grund wird die von Jurczyk (2014) im Rahmen des Doing-Fami-ly-Ansatzes vorgenommene Definition von Familie dieser Arbeit zugrunde gelegt.