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3 Hochaltrige Eltern und ältere Familien

3.2 Zur Häufigkeit älterer Familien

3.3.1 Hochaltrige Eltern als non-normative Gruppe im Kontext familiärer

genden Angehörigen, wie beispielsweise Ehepartner*innen oder erwachsenen Kindern, die ihre hochaltrigen und pflegebedürftig gewordenen Partner*innen bzw. Elternteile pflegen.

Die Dauer der aktiven Begleitung32, ggf. auch (im engeren Sinne) Pflege ihrer Kinder umfasst einen Zeitraum von mitunter fünf Dekaden (vgl. Todd et al. 1993, 137; zit. n. Bigby 2004, 195), von Geburt der Kinder an bis zur eigenen Pflegebedürftigkeit, dem eigenen Tod oder dem Tod der Kinder (vgl. Bigby 2004, 196). Die psychischen Prozesse, die mit der Auseinandersetzung dieser lebensbegleitenden Verantwortung verbunden sind, lassen sich nicht mit denen verglei-chen, die mit Pflegesituationen einhergehen, in denen ein hochaltriges Elternteil über einen ge-wissen Zeitraum unterstützt wird. Hinzu kommt die besondere Beziehung zwischen Eltern und Kind, die normalerweise von einer Begleitung hin zur Selbstständigkeit, hin zu einem selbstver-antworteten, selbstfinanzierten Leben geprägt ist und die in diesem Fall mit der Dauerhaftigkeit

30 Für eine stark zusammengefasste Übersicht des Forschungsstandes siehe Lindmeier 2011, Lindmeier et al. 2018;

Bigby 2004 oder Oermann 2015.

31 Der Begriff der ‚Sorgearbeit‘ ist hier gemeint als eine mögliche Übersetzung von ‚Care‘, wie ihn beispielsweise Schües (2016) verwendet (vgl. auch Gärtner/Lange & Stahlmann 2020; Zerle & Keddi 2011). Für eine weitergehende Auseinandersetzung vgl. 3.5.3.

32 Mit ‚aktiver Begleitung‘ ist hier die Zeit in einem gemeinsamen Haushalt beschrieben. Die Formulierung dient zur Konkretisierung der beschriebenen Lebenssituation in einem gemeinsamen Haushalt und bewertet nicht die tatsächliche Aktivität der Begleitung. Natürlich begleiten (nicht nur alte) Eltern ihre Kinder in aller Regel auch nach deren Auszug in andere Wohnformen, und möglicherweise gestaltet sich diese Begleitung – zumindest in der ersten Zeit bzw. in Krisensituationen – sogar aktiver und zeitlich aufwendiger als während des Zusammenlebens.

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des Bedarfs an Unterstützung konfrontiert ist (vgl. Bigby 2004, 196). Dies impliziert jedoch nicht, wie noch zu zeigen sein wird, eine ‚Chronifizierung‘ der Beziehungsstrukturen:

„Parents living with adult children with intellectual disability have been referred to as perpetual parents or experiencing a constant burden of care. While these notions may accurately reflect parental com-mitment, they should not be interpreted to imply constancy in the relationship between parents and offspring through the life course.“ (Bigby 2004, 201)

Auch im Vergleich mit Eltern minderjähriger beeinträchtigter Kinder unterscheidet sich die Situation alter Eltern, denn für alte bzw. hochaltrige Elternteile nimmt auch die Wahrschein-lichkeit eigener körperlicher, psychischer und sozialer Begleiterscheinungen des Älterwerdens zu und damit das Risiko einer Kumulation von Belastungen, die sich auch in der Bewertung der Herausforderungen niederschlägt, die mit der Unterstützung ihres beeinträchtigten erwachse-nen Kindes einhergehen (vgl. Bigby 2004, 197f ) (s. u.).

In älteren Familien treffen mitunter komplexe Bedarfe aufeinander, die auf eine gute Kom‑

munikation und Koordination verschiedener Hilfesysteme angewiesen sind.

Verschiedene Systeme sind Ansprechpartner für die unterschiedlichen Belange älterer Familien.

Allerdings besteht für sie die Gefahr, von Hilfen gar nicht oder nur unzureichend erreicht zu werden, „as the diversity of household composition means they do not fit neatly into either ageing or disability systems“ (Bigby 2004, 196).

„The needs of an older person with intellectual disabilities and an elderly parent may conflict. Co-opera-tion between specialist intellectual disability and generic elderly services is required.“ (Hubert & Hollins 2002, 1f )

Daneben gehen von Seiten des Systems der Behindertenhilfe mitunter falsche Signale aus, wenn im Kontext einer möglichen Inanspruchnahme von Hilfen mit dem Hinweis auf eine damit verbundene Entlastung argumentiert wird: Eltern geht es, wie verschiedene Studien belegen, in erster Linie häufig weniger um Entlastung von der Unterstützung ihres beeinträchtigten Kindes als vielmehr um eine „Stabilisierung der Lebenssituation“ (Lindmeier et al. 2018, 30), um kon-krete Hilfen vor Ort, um die Chance, ihren Lebensstil stärker an den ihrer gleichaltrigen Peers mit nicht beeinträchtigten Kindern anzupassen, mehr freie Zeit zu haben und spontan zu sein, was ein attraktives Merkmal der nachelterlichen Phase darstellt (vgl. Shearn & Todd 1997, 298):

„We manage to get out with our friends maybe once every three weeks or so. We can be out there having a great laugh, maybe having a meal, and then somone will say ‚Let’s go on somewhere else!‘ My hubby [husband; L. O.] and I just look at each other and sigh, ‚Sorry but we‘ve got to get back for Tom‘.“ (Todd

& Shearn 1996, 389)

Die Argumentation mit dem Verweis auf elterliche Entlastung von Unterstützungsaufgaben kann schnell in eine Belastung umschlagen, da auf diese Weise Gefühle aktiviert werden können,

„versagt zu haben oder dem Kind nicht gerecht zu werden“ (Lindmeier 2011, 15).

Die Inanspruchnahme externer, nicht familiär organisierter Hilfen ist nicht vereinbar mit dem familiären Selbstbild und wird daher so lange wie möglich vermieden.

Häufig zu beobachten ist die Tendenz alter Eltern, das institutionelle Hilfesystem „solange es irgendwie möglich ist“ (Stamm 2009, 258) zu vermeiden (s. u.), da sie mit der Inanspruchnahme externer Hilfen das Gefühl der „Abgabe von Verantwortung“ (Stamm 2009, 258) verbinden.

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Mehr noch: Das Zusammenleben der alten Eltern mit ihren beeinträchtigten Kindern gilt mit-unter als das Symbol eines lebenslangen Familienzusammenhaltes. „Viele Eltern ziehen Stolz und Selbstachtung aus der Tatsache, keine Hilfe annahmen zu müssen, alleine zurechtzukom-men, ihr Kind gut zu versorgen“ (Feurer & Lindmeier 2011, 124). Damit unterscheiden sich ältere Familien von Familien, in denen ein Unterstützungsbedarf erst mit zunehmendem Al-ter oder gar im hohen AlAl-ter auftritt. Entsprechend den biografisch gewachsenen Strukturen, in denen die gleichzeitige Versorgung von Kindern und unterstützungsbedürftigen Elternteilen durch die Angehörigen der „Sandwich-Generation“ (Burkart 2008, 211) mit der Erwerbstätig-keit beider Elternteile koordiniert werden muss, werden Hilfen von außen zwangsläufig eher in Anspruch genommen. Entsprechend einfacher und umfassender gestaltet sich hier die Bereit-stellung von Hilfen im Vergleich zu älteren Familien, für die die Inanspruchnahme von profes-sioneller Unterstützung auch eine Infragestellung ihres familiären Selbstbildes bedeutet.

Die Vermeidung der Inanspruchnahme von Hilfen in Kombination mit den komplexen Be-darfslagen unterschiedlicher Akteure familiärer Sorgearbeit forciert das Entstehen unerkannter Versorgungslücken und unbeantworteter Bedarfslagen.

In der vier oder fünf Dekaden überdauernden Karriere als unterstützende Eltern hat die Zielgruppe unterschiedlichste gesellschaftspolitische Bedingungen der Sorgearbeit erlebt.

„Older parents began their careers in another era when values and ideologies were quite different from those currently prevailing. Pierce suggests: ‚it should not be surprising if ageing carers are protective and cautious, and reluctant to choose new service options. Their life experience has involved successive exclusions from generic community services and facilities‘ (1993, p.22).“ (Bigby 2004, 196)

Die besondere Situation alter Eltern als Unterstützer*innen ist charakterisiert durch ihre jahr-zehntelangen Erfahrungen mit den sich verändernden Haltungen und Werten gegenüber be-einträchtigten Menschen und entsprechend auch den Angeboten für beeinträchtigte Menschen (vgl. u. a. Jokinen 2006, 147; Bigby 2004, 195).

Die gesellschaftliche Stellung (kognitiv) beeinträchtigter Menschen in der Zeit nach 1945 in Deutschland war geprägt von den menschenverachtenden Gräueltaten der NS-Diktatur: Im Zuge des 1933 erlassenen Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden tausen-de Menschen zwangssterilisiert (vgl. Buntausen-desvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geisti-ger Behinderung 2008, 12). 1939 erfolgte die offizielle Aufnahme der Aktion T4, bei der ca.

260.000 beeinträchtigte Menschen ermordet wurden (vgl. Wendt 2008, 62). Zwar knüpfte die Versorgung beeinträchtigter Menschen nach dem Krieg „an das vor der nationalsozialistischen Herrschaft bestehende Hilfesystem [an, L. O.]“ (Aselmeyer 2008, 163), allerdings fand eine Aufarbeitung der Ereignisse während der NS-Zeit zunächst nicht statt, sodass

„die meisten der Beteiligten nach dem Untergang des ‚Dritten Reiches‘ ihre Karrieren ungehindert fort-setzen [konnten, L. O.], nicht wenige taten sich nach 1945 sogar als engagierte Bewahrer und Förderer derjenigen Menschen hervor, für deren Tötung sie sich nur kurz vorher als Euthanasieaktivisten vehe-ment eingesetzt hatten‘ (Mattner 2000: 75).“ (Aselmeyer 2008, 165)

Eltern, die in den Jahren nach dem Krieg ein beeinträchtigtes Kind bekommen hatten, wurden mit entsprechend verinnerlichten Haltungen nicht nur in ihrem näheren und weiteren sozia-len Umfeld konfrontiert, sondern mussten möglicherweise auch mit eigenen entsprechenden Überzeugungen ringen (vgl. Lindmeier et al. 2018, 24f ).

Die damit zusammenhängenden Erlebnisse und Erfahrungen mit den Bedingungen von Sorge-arbeit sowie die der nächsten Dekaden hatten Einfluss auf die elterliche bzw. familiale Haltung

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zur Behindertenhilfe sowie auf die Bereitschaft und Bedingungen der Inanspruchnahme von Hilfen. Dieser ist zwar individuell unterschiedlich und selbstverständlich gab es auch immer Eltern, die die Angebote nutzten. Gleichzeitig bleibt jedoch auch die Diskrepanz zwischen den sich verändernden Leitprinzipien einerseits und der erfahrenen Wirklichkeit andererseits spür-bar. Denn während Familien in der Regel ein wohnortnahes und, mit Blick auf die Strukturen, ein überschaubares Wohnen ihrer Kinder wichtig ist, wird diesem Bedarf über die Jahrzehnte kaum entsprochen. Die wenigen Großeinrichtungen, die es zunächst gab, mussten mit Blick auf die pädagogische Qualität häufig als nicht ausreichend bewertet werden (vgl. Rohrmann 2005), da ein medizinisch-psychiatrisches Behinderungsmodell dominierte, nach dem kognitiv beein-trächtigte Menschen „aus psychiatrischer Sicht als ‚unheilbar‘ galten“ (Aselmeyer 2008, 165), weshalb diese

„in den Anstalten der Nachkriegsjahre … unter widrigen Verhältnissen verwahrt [wurden, L. O.], ohne dass die Auffassung bestand, ihnen eine lebenswerte Umgebung und bedarfsgerechte Unterstützung zu bieten.“ (Aselmeyer 2008, 165)

Daraus leitete sich dann für viele Familien die Entscheidung ab, weiter zusammenzuwohnen und die notwendige Pflege und Unterstützung selbst zu gewährleisten.

Die Entwicklung und Propagierung behindertenpädagogischer Leitprinzipien (nicht selten als

‚Paradigmenwechsel‘ angekündigt) und die institutionelle Entwicklung klaffen in Deutschland seit 1962 bis heute zum Teil deutlich auseinander, wie die folgende schlaglichtartige Skizzierung von Bewegungen, Leitprinzipien, rechtlichen sowie institutionellen Entwicklungen zeigt.

Nach dem Krieg war die Unterstützung beeinträchtigter Menschen und ihrer Familien kaum Thema in einem Deutschland, das zunächst einmal stark auf den ‚physischen‘, politischen und gesellschaftlichen Wiederaufbau bzw. Neuanfang konzentriert war. Eltern beeinträchtigter Kin-der konnten nach dem Krieg keine Ansprüche auf Hilfen geltend machen. Sie waren alleine für ihre Kinder verantwortlich, die, sofern sie ‚unauffällig mitlaufen‘ (vgl. Lindmeier 2011, 12), im Kindergarten und in der Schule geduldet wurden. Eine Integration entsprechend ihren Be-dürfnissen gab es zu dieser Zeit nicht, ebenso wenig wie ein flächendeckendes Angebot von Sondereinrichtungen (vgl. Lindmeier 2011, 12). Wenn Familien die Unterstützung ihrer be-einträchtigten Kinder nicht gewährleisten konnten, gab es in der Regel nur den Ausweg einer Unterbringung in Psychiatrien oder (kirchlichen) Komplexeinrichtungen.

In der Gründung der Lebenshilfe 1958 als einer Elterninitiative drückte sich die Unzufrieden-heit mit dieser Situation aus, allerdings war ihr Einfluss zunächst lokal noch sehr begrenzt, so-dass Familien noch lange nicht in größerem Maße selbstverständlich auf diese Hilfen zugrei-fen konnten, von einer Bedarfsdeckung war man noch „weit entfernt“ (Deutscher Bundestag 1975, 14). Zudem lag der Schwerpunkt der Lebenshilfe in der ersten Zeit noch nicht auf dem Wohnen, sondern zunächst vor allem auf dem Aufbau von „heilpädagogische[n] Kindergär-ten, Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und Beschützende[n] Werkstätten“ (vgl.

Bundesvereinigung Lebenshilfe 2008, 16). „Erwachsene wurden erst mit Beginn der 1960er Jahre zur Zielgruppe dieser Vereinigung“ (Aselmeyer 2008, 165), ein flächendeckendes Ange-bot bestand noch nicht.

Rechtlich betrachtet wurde in Deutschland 1962 – und damit quasi parallel zu den Entwick-lungen, die in einigen anderen Ländern mit dem Normalisierungsprinzip angestoßen wurden, s. u. – das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verabschiedet, mit dem sich die Position behindter Menschen (und damit auch ihrer Familien) erheblich verbesserte: Behinderte Menschen er-hielten einen Rechtsanspruch auf Rehabilitation. Die Schaffung und die Ausweitung von

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derinstitutionen bekamen damit einen massiven Schub, was im Detail wenig gemeinsam hat mit der weiter unten zitierten Forderung des Normalisierungsprinzips. Dennoch: Erstmals konnten Familien eine echte Perspektive für die Beschulung und die Teilhabe am Arbeitsleben ihrer be-einträchtigten Kinder entwickeln, auch wenn sie dafür noch lange Fahrzeiten in Kauf nehmen mussten und der pädagogische Standard noch von der zu dieser Zeit handlungsleitenden Prä-misse des „Beschützens“ geprägt war33. Das BSHG kann als Meilenstein gewertet werden, der

‚Behinderung‘ in den Kontext gesellschaftlicher Verantwortung stellte (vgl. Niediek 2010, 109).

Zwar zählten auch in den 1960er Jahren schon ambulante Dienste als Maßnahmen der Ein-gliederungshilfe, aber durch § 100 BSHG, der die Zuständigkeit für ambulante und stationäre Dienste festlegte, wurde die Entwicklung eines kommunalen Angebots erschwert: Für

„ambulante Hilfen [sind, L. O.] die örtlichen Träger der Sozialhilfe, also die kommunale Ebene zustän-dig, für stationäre Hilfen, also Wohnheime und Anstalten hingegen zeichnen [sich, L. O.] die überört-lichen Träger der Sozialhilfe auf regionaler Ebene verantwortlich. Durch diese geteilte Zuständigkeit wurden die Kommunen finanziell entlastet, wenn Menschen mit geistiger Behinderung in Wohnhei-men oder Anstalten betreut wurden.“ (Aselmeyer 2008, 167)

Parallel dazu führte in den 1960er Jahren der Gedanke des dänischen Juristen Niels Erik Bank Michelsen „Letting the mentally retarded obtain an existence as close to normal as possible“ (Beck 2006, 105) zu einer umfassenden Bewegung, die mit Bengt Nirje, Wolf Wolfensberger und Wal-ther Thimm einflussreiche Unterstützer in Schweden, den USA und (etwa 20 Jahre später) auch im damaligen Westdeutschland fand. Hiermit tat sich eine ganz neue Blickrichtung auf, die sich auf die Werte Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde gründet (ebd.). Anders als in Ländern wie Schweden, „wo seit 1968 kontinuierlich gemeindenahe ambulante Infrastrukturen entwickelt worden sind und wo es seit Ende 2000 gesetzlich verboten ist, Behinderte in einem Heim unterzu-bringen“ (Rohrmann 2005, 8), wurde in Deutschland bis heute die Tradition der (teil)stationären Wohneinrichtungen fortgesetzt (vgl. ebd.), das Normalisierungsprinzip wurde in der Bundesrepu-blik „von den Fachverbänden der Behindertenhilfe als fachliches Konzept zur Weiterentwicklung ihres teilstationären Ansatzes rezipiert“ (Rohrmann 2009, 20).

Einen veritablen Beleg für die unzureichende wohnliche Versorgung beeinträchtigter Menschen in Deutschland lieferte 1975 die Psychiatrie-Enquete, die im Auftrag der westdeutschen Bun-desregierung die katastrophalen Zustände in westdeutschen Psychiatrien aufdeckte: Zwischen 18.000 und 25.000 kognitiv beeinträchtigte Menschen wurden in den Langzeitbereichen ver-wahrt (vgl. Deutscher Bundestag 1975)34.

1984 wurde mit §  3a BSHG eine vielversprechende gesetzliche Änderung vorgenommen, die häufig unter der Formel „ambulant vor stationär“ (Niediek 2010, 112) zusammengefasst wird. Sie ermöglichte zum Beispiel den Ausbau Familienentlastender/Familienunterstützender Dienste (vgl. Niediek 2010, 112ff ) und ermöglichte damit eine wichtige Unterstützung von Familien. Die Idee der Schaffung eines Sondersystems entsprechend den Bedarfen beeinträch-tigter Menschen im Sinne des BSHG von 1962 wurde mehr und mehr abgelöst von den durch

33 Dies drückt sich beispielsweise in der Bezeichnung „Beschützende Werkstätten“ aus, die erst 1974 im neuen Schwerbehindertengesetz in §52 einheitlich definiert und erst seitdem offiziell als Werkstatt für Behinderte (WfB) bezeichnet wurde. Mit dem SGB IX im Jahr 2001 ändert sich die Bezeichnung erneut in Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) (vgl. Cramer 2006).

34 Auch fast 20 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete zeigte eine Untersuchung zur Wohnsituation von kognitiv beeinträchtigten Menschen in Berlin von 1994, dass auch zu diesem Zeitpunkt noch über 1000 Menschen in Psychiatrien, Alten- und Pflegeheimen fehlplatziert waren. Über die Hälfte der insgesamt 8054 erhobenen Fälle, zu denen auch Kinder und Jugendliche zählten, lebten in der Familie (vgl. Seifert 1994).

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das Normalisierungsprinzip (vgl. exemplarisch Thimm 1994) befeuerten Leitprinzipien ‚Inte- gration‘ bzw. ‚Inklusion‘ (exemplarisch vgl. Lindmeier & Lindmeier 2012). Dennoch wurde die Chance, die mit dem „Vorrang Offener Hilfen“ (BSHG § 3a) mit Blick auf die Entwicklung am-bulanter Strukturen im Bereich Wohnen einhergeht, kaum genutzt, wie die Berichte von Seifert (1994) oder Rohrmann (2005) belegen. Die Vorbehaltsregelung in § 3a BSHG, nach der bei unverhältnismäßigen Mehrkosten der Vorrang ambulanter Hilfen entfällt, führte dazu, dass in der Praxis viele beeinträchtigte Menschen keinen Zugang zu ambulanten Hilfen bekamen (vgl.

Aselmeyer 2008, 171). Dies zeichnet sich u. a. in den folgenden Diskrepanzen ab:

• „Die augenscheinliche Widersprüchlichkeit zwischen den langjährigen Reformdiskussionen und der wirklichen Ausgestaltung der Institutionenlandschaft und damit auch der Beschaffenheit der Unterstützungsleistungen (vgl. Schädler 2002; Wansing 2006; Cloerkes/Kastl 2007; Wacker 2009).

Menschen mit Behinderung geraten noch vielfach in von der Gesellschaft weitgehend abgekoppelte Subsysteme, wodurch auch ihre Chancen auf Übergänge und Teilhabe geprägt sind.

• Die Diskrepanz zwischen dem „eigentlich Machbaren“, das vor allem durch bundesgesetzliche Regelungen ja durchaus erweitert wird (z. B. durch die Neuausrichtungen mit Einführung des So-zialgesetzbuch IX im Jahr 2001, vgl. Lachwitz/Schellhorn/Welti 2001) und dem in den einzelnen Regionen dann ‚tatsächlich Ankommenden‘. Offensichtlich kann man hier von einer mangelnden Implementierung gerade der inklusiven, an den allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen ausgerich-teten Hilfen sprechen.“ (Muche 2013, 159)

Diese Differenz zwischen rechtlicher Grundlegung und erlebter Wirklichkeit verdeutlicht ein-dringlich die unklare (rechtliche) Lage, in der sich beeinträchtigte Menschen zu diesem Zeit-punkt befanden, und die damit einhergehende Verunsicherung.

In den Jahren seit 1994 folgten weitere wesentliche rechtliche Änderungen, mit denen die Posi-tion beeinträchtigter Menschen gestärkt wurde:

• das Diskriminierungsverbot von 1994 (Art. 3, Abs. 3 Satz 2 GG),

• das SGB IX aus dem Jahr 2001, das den behinderten Menschen vom Hilfeempfänger zum Leistungsberechtigten erhebt und das Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft damit weiter fördert (vgl. Wendt 2008, 71ff ),

• das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (Behindertenrechts-konvention – BRK), das 2006 in New York verabschiedet wurde und mit dem bestehende Menschenrechte „bezogen auf die Lebenssituationen und -erfahrungen von Menschen mit Behinderungen konkretisiert [werden, L. O.]“ (von Boetticher 2018, 29), welches

• seit Ende 2016 in Form des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) seine Umsetzung in deutsches Recht findet.

Zweifellos ist gerade die letzte Gesetzesänderung mit einigen Verbesserungen für beeinträch-tigte Menschen verbunden: So wurde 2020 beispielsweise die „Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem herausgeführt und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt“ (von Boetticher 2018, 32), was erhebliche Veränderungen vor allem im Bereich Wohnen nach sich zog (vgl. Axmann 2018a; Axmann 2018b; Seligmann 2018):

„Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden von den existenzsichernden Leistungen getrennt. Dies hat sowohl Auswirkungen auf das Leistungsgefüge in stationären Wohneinrichtungen der Behinderten-hilfe als auch auf die Zuordnung des Mittagessens in Werkstätten.“ (Axmann 2018c, 310)

In der Folge werden ‚(teil)stationäre Wohnformen‘ zukünftig als ‚besondere Wohnformen‘ be-zeichnet. Aber auch der Vermögensfreibetrag für Empfänger*innen von Eingliederungshilfe

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hat sich damit verändert (‚Behinderung darf nicht arm machen‘) (vgl. Axmann 2018a; Kruse

& Tenbergen 2019). Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz werden Eltern bzw. Angehörige von Zuzahlungen bei der Hilfe zur Pflege und der Hilfe zum Lebensunterhalt befreit, sofern ihr jeweiliges Jahreseinkommen unter 100.000 Euro liegt. Auch die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt sollen mit Hilfe des BTHG verbessert werden, indem sogenannte ‚andere Leis-tungsanbieter‘ neben den klassischen Werkstätten für behinderte Menschen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anbieten dürfen. Aber auch der Ausbau des Budgets für Arbeit bzw.

die Schaffung eines Budgets für Ausbildung sollen den Übergang auf den allgemeinen Arbeits-markt erleichtern.

Dennoch sind auch in Bezug auf das BTHG noch einige Fragen offen, so verweist etwa Falken-störfer (2020) auf § 103 Abs. 2 SGB IX und kritisiert:

„Teilhabeleistungen werden nur noch erbracht (auch in der Pflege), wenn diese zu Teilhabeerfolgen führen. Das ist für Menschen mit komplexen Behinderungen insbesondere auch deshalb besonders be-drohlich, weil ab 2020 keine stationären Wohnformen mehr unterstützt werden, da diese dem Ziel der Teilhabe an der Gesellschaft entgegenstehen.“ (8)

Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung:

Erstens belegen die skizzierten historischen Entwicklungen von Leitprinzipien, Gesetzen und Institutionen seit 1945, dass das zum Zeitpunkt der Geburt ihrer beeinträchtigten Kinder noch wenig ausgebaute System der Behindertenhilfe es für Familien notwendig machte, Hilfen wei-testgehend selbst zu organisieren, sofern sie nicht auf die (qualitativ) unzureichenden und nicht flächendeckend vorhandenen Angebote zugreifen wollten oder konnten. Mit der Herausfor-derung, Familienleben, Beruf, Freizeit etc. im Rahmen noch nicht etablierter institutioneller Unterstützungsstrukturen zu organisieren, entwickelten viele ältere Familien Ressourcen, die sie weitestgehend unabhängig machten von diesen Diensten (vgl. Stamm 2009; Lindmeier 2011).

Damit ging mitunter gleichzeitig die bereits beschriebene Entwicklung einer familiären Identi-tät einher, für die der familiäre Zusammenhalt zentral ist (vgl. Lindmeier 2011).

Zweitens macht gerade das Zitat von Falkenstörfer (2020) die Diskrepanz zwischen den an-gestrebten Verbesserungen für beeinträchtigte Menschen und ihre Familien und der jeweiligen Wirklichkeit deutlich: Trotz der genannten Verbesserungen der rechtlichen und gesellschaft-lichen Anerkennung beeinträchtigter Menschen durch das BTHG werden immer noch beein-trächtigte Menschen vom Zugang zu Hilfen ausgeschlossen. Für sie (und ihre Familien bzw.

Unterstützer*innen) werden tendenziell eher die Grenzen der politischen und gesellschaftlichen Inklusionsbestrebungen erfahrbar, und viele Eltern können sich in ihren Befürchtungen bestä-tigt sehen, das Kind werde in Einrichtungen des Wohnens bzw. der Pflege „nur versorgt“ (Lind-meier et al. 2012, 32).

3.3.2 Biografische Erfahrungen, aktuelle Lebenssituation und Zukunftsperspektiven