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7 Methodische und methodologische Fragen

7.4 Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal

7.4.2 Die Auswertungsschritte der biografischen Fallrekonstruktion

1. Sequenzielle Analyse der biografischen Daten (Ereignisdaten)

2. Text- und thematische Feldanalyse

(Analyse der Textsegmente – Selbstpräsentation/erzähltes Leben) Was wird warum an dieser Stelle wie erzählt?

3. Rekonstruktion der Fallgeschichte

(Erlebtes Leben: Vergleich mit Ereignisdaten) 4. Feinanalyse einzelner Textstellen

5. Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte 6. Typenbildung

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Methodische und methodologische Fragen 7.4.2.1 Sequenzielle Analyse biografischer Daten

Die biografische Analyse dient der Annäherung der Forscher*innen an die Erlebenswelt der Biografieträger*innen.

Hier werden zunächst die „objektiven“ Daten der Erzählung notiert, beispielsweise das Jahr oder genaue Datum der Geburt der jeweiligen Biografieträger*innen, das Jahr der Hochzeit oder der Geburt eines Kindes. Aber auch ein Umzug oder der Einstieg in das Berufsleben sowie das Ver-sterben eines Elternteils oder wichtiger Bezugspersonen gehören dazu, ebenso wie historische oder gesellschaftspolitische Daten, die für den Fall relevant sein könnten bzw. die nachgewiese-nermaßen einen großen Einfluss auf die zu untersuchende Generation gehabt haben könnten.

Auch nachträglich kann es notwendig sein, Ereignisse interpretativ auszulegen, die zuvor un-wesentlich erschienen:

„Die Interpretation eines ersten Ereignisses führt zu ersten Hypothesen, die dann wiederum Einfluß darauf haben, welche weiteren Ereignisse einer Bedeutungsrekonstruktion unterzogen werden müssen.

So kann es durchaus vorkommen, daß bei späteren Interpretationsschritten deutlich wird, daß ein Er-eignis, das zuerst als unwesentlich erachtet wurde, doch von Bedeutung ist und im Nachhinein noch auszulegen ist.“ (Rosenthal 1987, 158)

Es ist nun die Aufgabe der Forscher*innen, Überlegungen anzustellen, welchen Einfluss die jeweiligen Geschehnisse in Abhängigkeit vom damaligen Entwicklungsstand der Biografieträ-ger*innen („Analyse der Ereignisse in der Perspektive der Phasen der Persönlichkeitsentwick-lung“, Rosenthal 1987, 155) und mit Blick auf den jeweils aktuellen Zeitgeist („Lokalisierung der Ereignisse in der historischen Zeit“, ebd., 152) gehabt haben könnten (vgl. ebd., 150ff ). Auf dieser Grundlage geht es darum, verschiedene Szenarien zu skizzieren, wie sich die Lebensge-schichte der erzählenden Person zu jedem Zeitpunkt hätte weiterentwickeln können:

„Der Kontext für ein Ereignis, mit dem der Biograph oder die Biographin konfrontiert war, wird re-konstruiert, die Handlungsprobleme, die daraus resultierten, sowie die Alternativen, die ihnen in der Situation zur Verfügung standen, werden gedankenexperimentell entworfen. Es wird danach gefragt, welche Handlungsmöglichkeiten der Biograph oder die Biographin in einer bestimmten Situation hat-te.“ (Rosenthal 2014, 188)

Dieser Forschungsschritt erfordert das Ausblenden des Wissens um den Fortgang der erzählten Lebensgeschichte. Da dieses Wissen in der Regel nie vollkommen ignoriert werden kann, rät Ro-senthal hier zu einer Kooperation mit einem möglicherweise sogar interdisziplinär ausgerichteten Forschungsteam, durch das auch eine möglicherweise verfrühte Fokussierung auf das Forschungs-interesse verhindert werden kann (vgl. Rosenthal 2014, 189f ). Auf diese Weise kann die von Ro-senthal geforderte Annäherung an ‚latente Sinnstrukturen‘ (RoRo-senthal 2014, 190) gelingen.

Je weiter ein biografisches Datum in der Vergangenheit liegt (mit anderen Worten: am Anfang der Biografie verortet ist), desto größer ist das Potenzial gedankenexperimentell zu entwickeln-der Zukunftsszenarien. Je mehr Daten aber im Laufe entwickeln-der Lebensgeschichte das Bild erweitern, desto unrealistischer werden bestimmte Handlungsoptionen. Die von Forscher*innenseite gedankenexperimentell und mit Hilfe unterschiedlicher Wissensquellen entworfenen Hand-lungsalternativen reduzieren sich also mit Annäherung an die Gegenwart, obgleich festzuhalten ist, dass, wie in Kapitel 2 dargelegt, das Subjekt auch unter diesen Umständen über beträchtliche Handlungsmöglichkeiten verfügt (vgl. Alheit 1993, 400f ).

In dieser Arbeit wurde die biografische Analyse mit Unterstützung des Teams der wissenschaft-lichen Mitarbeiterinnen des Projekts „Anders alt?!“ vorgenommen.

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Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal

Das Vorgehen in diesem aufgrund der Ferne zum Material sehr abstrakten Arbeitsschritt wird nun am Beispiel eines Ausschnittes aus der biografischen Analyse des Interviews mit Herrn Wellmann illustriert. Die fett gedruckten Jahreszahlen sind dabei die Daten, die Herr Well-mann selbst im Interview benennt, die normal gedruckten Jahreszahlen wurden entweder aus dem Interview heraus rekonstruiert oder dienen der allgemeinen Einordnung der Ereignisse in das Weltgeschehen bzw. die Situation in Deutschland.

Tab. 2: Auszug aus der sequenziellen Analyse biografischer Daten von Herrn Wellmann

Jahr Ereignis

1935

Geburt Herr Wellmann;

Hat er ältere Geschwister?

Wie ist die Lebenslage der Familie?

Wie ist die Wohnsituation der Familie?

Wie stehen sie zum herrschenden NS-Regime?

1939–1945

Zweiter Weltkrieg

Der Vater von Herrn Wellmann wird eingezogen und fällt während des Krieges.

Wie steht die Familie zum Krieg?

Welche Rolle spielt der verstorbene Vater für Herrn Wellmann bzw. für seine Familie?

Wie kommt die Mutter von Herrn Wellmann ohne ihren Mann zurecht?

Bekommt sie Unterstützung von (Schwieger-)Eltern?

Wie finanziert sie die Familie?

Gibt es weitere (jüngere) Geschwister von Herrn Wellmann?

Wie erlebt die Familie die letzten Kriegsjahre und das Kriegsende?

Heiratet die Mutter von Herrn Wellmann erneut?

Ca. 1941

Einschulung

Welchen Stellenwert hat die Schule im Leben von Herrn Wellmann und seiner Fami-lie?

Welche schulischen Erfahrungen sammelt er?

Mit welcher Perspektive geht er zur Schule: Sieht er für sich nach der Volksschule die Chance einer Ausbildung oder ist es gar familiäre Tradition, das Gymnasium zu be-suchen und zu studieren?

Um 1955

Aufnahme eines Studiums der Ingenieurswissenschaften

Wie finanziert er sich das Studium (Arbeit, staatliche Förderung, Stipendium, Ver-mögen …)?

Wie beurteilt die Familie das Studium?

Wie gelingt ihm das Studium?

1961

Hochzeit mit einer drei Jahre jüngeren Frau, im Finanzwesen ausgebildet

Hat er sein Studium beendet und damit für finanzielle Sicherheit in der Ehe gesorgt?

Hat er eine Festanstellung gefunden (es sind die wirtschaftsstarken Jahre mit wenig Arbeitslosigkeit)?

Wie lange kannte er seine Frau vor der Hochzeit?

Welche Ziele verfolgen die beiden?

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Methodische und methodologische Fragen

Die Tabelle verdeutlicht, dass die Hochzeit in seiner biografischen Chronologie das erste Datum ist, das er konkret benennt, sein Geburtsjahr, seine Einschulung und sein Studium wurden nach-träglich konstruiert und können in engen Grenzen variieren. Durch diesen Mangel an Daten aus diesen Lebensphasen bis zur Hochzeit sind die Möglichkeiten beschränkt, ein ‚Gespür‘ für Herrn Wellmann, seine Lebenswelt und seine Lebenslage in dieser Zeit zu entwickeln. Kongru-ente Fragen an die Daten können kaum entwickelt werden. Erst die Aufnahme des Studiums ermöglicht eine erste Idee von einer Richtung, in die sich seine Geschichte orientieren könnte.

Die Chancen für eine Annäherung an die latenten Sinnstrukturen bzw. an die erlebte Geschich-te sind in diesem Auswertungsschritt also je nach InGeschich-terview sehr unGeschich-terschiedlich und abhängig von der Differenziertheit des jeweiligen Interviewmaterials in Bezug auf biografische Daten.

7.4.2.2 Text‑ und thematische Feldanalyse

„Bei diesem Analyseschritt habe ich versucht, die theoretischen Ausführungen von Aron Gurwitsch (1964) zur thematischen Feldanalyse und deren methodische Umsetzung durch Wolfram Fischer (1982) sowie die von Fritz Schütze (1983 [b; L. O.]) ausgearbeitete Methode der Textanalyse in die Logik eines se-quenziellen und abduktiven Vorgehens zu übersetzen (siehe ausführlich Rosenthal 1995). Das Ziel dieses Analyseschrittes ist es, die Regeln für die Genese der in der Gegenwart des Interviews präsentierten bio-graphischen Erzählung bzw. allgemeiner der Selbstpräsentation herauszufinden.“ (Rosenthal 2014, 196) Mit der Text- und thematischen Feldanalyse findet erstmalig eine inhaltliche Zuwendung zum Transkript statt.

Anders als in der Analyse der biografischen Daten steht jetzt die Präsentation der Erzählung im Mittelpunkt, es geht also um die Frage, warum die Biografieträger*innen ihre Geschichte in diesem Moment so und nicht anders darstellen. Die einzelnen Arbeitsschritte und Leitfragen dieses Auswertungsschrittes ermöglichen eine Distanz zum Text und eine Wiederannäherung mit Hilfe intersubjektiv nachvollziehbarer Leitfragen. Auf diese Weise wird das Risiko eines vorschnellen Interpretierens auf der Grundlage impliziter Annahmen minimiert.

In einem ersten Schritt erfolgen dafür die Bestimmung der Textsorten (vgl. 7.5.2) und die Seg-mentierung des Textes (vgl. 7.5.3). Für beides gilt: Nicht immer sind Abschnitte eindeutig einer Textsorte zuzuordnen, nicht immer ist eindeutig zu bestimmen, wo ein Segment aufhört und das nächste beginnt. Die Analyse der Textsorten und ihrer Funktion kann sich so zu einem sehr komplexen Prozess entwickeln, beispielsweise wenn deutlich wird, dass Segmente ihrer Struktur nach zwar szenisch-episodische Erzählungen sind, sie aber argumentative Elemente enthalten oder gar innerhalb des Interviews argumentative Funktionen einnehmen. Ziel der Text- und thematischen Feldanalyse ist daher auch nicht eine einwandfreie Segmentierung des Textes oder eine hieb- und stichfeste Textsortenbestimmung, sondern die intensive Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Text.

Dieser Analyse des Textes und der jeweiligen thematischen Felder dienen auch die folgenden, die Interpretation leitenden Fragen:

1. „Weshalb wird dieser Inhalt an dieser Stelle eingeführt?

2. Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Textsorte präsentiert?

3. Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Ausführlichkeit oder Kürze dargestellt?

4. Was könnte das Thema dieses Inhalts sein bzw. was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt?

5. Welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht?

6. Über welche Lebensbereiche und Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil und weshalb wurden diese nicht während der Haupterzählung eingeführt?“ (Rosenthal 2014, 200)

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Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal

Dazu gehört ebenfalls, auch wenn dies von Rosenthal nicht entsprechend deutlich formuliert wird, das In-Beziehung-Setzen der Aussagen der Biografieträger*innen zu den Fragen bzw.

(nonverbalen, parasprachlichen und verbalen) Äußerungen der Interviewer*innen, denn häufig müssen die dann folgenden Äußerungen auch „als Auseinandersetzung mit vermuteten, impli-ziten Zuschreibungen, als Kommentar, Kritik, Vermeidung, Herstellung von KomplizInnen-schaft etc. begriffen werden“ (Deppermann 2013)75.

Dieser Analyseschritt bedeutet eine intensive und aufwendige Auseinandersetzung mit dem Tran-skript. Es geht dabei nicht nur um die Betrachtung isolierter Segmente und des gewählten Erzähl-stils, sondern auch um eine Analyse auf einer übergeordneten Ebene, bei der die Beziehungen der Segmente in ihren unterschiedlichen Textsorten im Mittelpunkt stehen: Welche Textsorte domi-niert? Worauf könnte das hindeuten? Aus welchen Textsorten setzen sich Segmente und Supraseg-mente zusammen? Welche Inhalte können erzählerisch transportiert werden und welche beispiels-weise als Argumentationen mit der damit verbundenen Distanz (vgl. Rosenthal 2014, 196ff )?

Jedoch dürfen keine einfachen Schlüsse gezogen werden in dem Sinne, dass eine bestimmte Text-sorte stets eine bestimmte Intention der Biografieträger*innen impliziert: Auch lange Erzählpas-sagen können der Distanzierung dienen, etwa wenn Akteur*innen damit von einem kopräsenten, emotional aber schwierigen Thema ablenken möchten und daher unterhaltsame Erzählungen aus der Vergangenheit vorbringen. Beispiele dafür finden sich im Interview mit Herrn Köhne, der sich auf ganz eigene Weise eine Distanzierung vom Interview verschafft (für Details vgl. 8.2.5).

Die Text- und thematische Feldanalyse ist dazu geeignet, diese Stellen im Interview zu erkennen und entsprechend zu interpretieren.

In der vorliegenden Arbeit wurde dieser Arbeitsschritt zunächst mit Hilfe von Tabellen vorge-nommen, um sich im weiteren Verlauf der Analyse besser im Text zurechtzufinden. Anhand der Tabelle wird die Verschachtelung des Textes in Suprasegmente, Segmente und Subsegmente deut-lich. Mit Blick auf die Zeilennummern wird auf einen Blick der Umfang der Segmente ersichtdeut-lich.

In einem weiteren Schritt werden dann die einzelnen Passagen interpretiert.

Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise wird hier das erste Suprasegment der Eingangserzählung von Herrn Wellmann dargestellt. Diese umfasst etwa vier Minuten und besteht aus fünf Segmenten.

Inhaltlich beschreibt Herr Wellmann im Wesentlichen in chronologisch korrekten, zum Teil sehr großen Zeitsprüngen die Entwicklung der Tochter Nadja, ausgehend von seiner Eheschließung.

Tab. 3: Auszug aus der tabellarischen Übersicht der Sequenzierung des Interviews mit Herrn Wellmann

Zeile

Segment Segment‑

form Inhalt/Titel Markierer für (Sub‑)Seg‑

ment

Auffälligkeiten Textsorte

Z. 1–13 Eingangsimpuls durch

die Interviewerin Z. 1–44 Supra‑

segment Die Entwicklung von Nadja in der Familie Wellmann

75 Deppermann (2013) fordert deswegen auch, Interviews nur noch mit Hilfe von Videos aufzuzeichnen, die sowohl die Interviewer*innen und die Interviewten aufzeichnen, um die Interaktion während der Interviewsituation nachzeichnen zu können.

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Methodische und methodologische Fragen

Zeile

Segment Segment‑

form Inhalt/Titel Markierer für (Sub‑)Seg‑

ment

Auffälligkeiten Textsorte

Z. 14–28 Segment Zu den Umständen der

Diagnosemitteilung „Fangen wir

an in…“ Ort als Orientierungs-marker verwendet. Ist evtl. wichtig, weil erst am neuen Wohnort die Diagnose ‚Down-Syn-drom‘ gestellt wurde

Z. 14–18

Subseg-ment Familienbildung:

Hochzeit und Ge-burtsjahre der Kinder in chronologischer Reihenfolge

Der Sohn wird nament-lich nicht benannt, die Tochter schon – inklusi-ve Diagnose.

Beschrei-bung

Z. 18–27

Subseg-ment Prozess der Diagnose-stellung: Wegen An-fälligkeit der Tochter für Krankheiten erfolgt nach dem Umzug ein Besuch bei einem neuen Kinderarzt, der konfrontiert die Eltern (die Mutter?) umge-hend mit der Diagnose Down-Syndrom.

Wechsel der Textsorte: von Beschreibung hin zur Erzäh-lung

Wörtliche Rede, Herr Wellmann erinnert sich noch genau an den Wortlaut

Erzählung

Z. 27–28

Subseg-ment Die verspätete und unerwartete Diagnose-mitteilung war in den 1960er Jahren kein Einzelfall

Metanarratives Element:

Bewertet das Erlebte aus der heutigen Perspektive heraus

Nach der sehr kurzen erzählerischen Passage, die sogar wörtliche Rede enthielt und die eine scheinbar sehr emotionale Erinnerung berührt, die möglicherweise nicht nur mit Schmerz und Trauer, sondern vermutlich auch mit Wut erfüllt war, rela-tiviert er diese Erfahrung, indem er sich aus heutiger Perspektive heraus als

‚einer von vielen‘ präsen-tiert, die diese Erfahrung haben sammeln müssen.

Argumen-tation

Z. 28–30 Segment Erklärung auf Metaebe-ne: Seine Ergriffenheit rührt vom kürzlichen Tod seiner Ehefrau her

Metanarratives Element:

Direkte An-sprache der Interviewerin-nen

Argumen-tation

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Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal

Zeile

Segment Segment‑

form Inhalt/Titel Markierer für (Sub‑)Seg‑

ment

Auffälligkeiten Textsorte

Z. 30–34 Segment Förderung und Förde-rerfolge

Z. 30–31

Subseg-ment Seine Frau hat jede Gelegenheit zur Förde-rung genutzt

Beschrei-bung Z. 31–34

Subseg-ment Er selbst hatte Schwie-rigkeiten, aktiv zu werden

Zwischen den Sätzen zum Teil lange Pausen (5 sek), scheinbar sehr emotionales Thema

Beschrei-bung

Z. 34–36

Subseg-ment Seine Frau hat jede Gelegenheit zur Förde-rung genutzt,

Beschrei-bung Z. 34–39 Segment ‚Förderung‘ und

‚The-rapien‘,

Frischzellentherapie, chirurgische Eingriffe im Gesicht

Neue räumli-che Orientie-rung, Hin-weise auf die Orte, an denen die Therapien/

Eingriffe statt-fanden

Ein chirurgischer Ein-griff wird als ‚Förder-maßnahme‘ beschrieben Diese Textstelle ist der Textsorte nach eine Beschreibung. Dem Sinn nach wirkt sie eher wie eine Argumentation.

Beschrei-bung (der Textsorte nach)

Z. 40–44 Segment Gute Entwicklung der

Tochter Resümee Sie hat

„Selbstständig-keit gewonnen im Laufe der Jahrzehnte“

Argumen-tation

An den nach diesem Muster sequenzierten und weiter ‚geordneten‘ Text wurden dann die von Rosenthal (2014, 200; s. o.) formulierten Fragen gestellt:

Element 1: Suprasegment „Die Entwicklung von Nadja in der Familie Wellmann“

Auf die Formulierung und Erläuterung der Eingangsfrage in den Zeilen 5–13 schließt sich das erste Suprasegment „Die Entwicklung von Nadja in der Familie Wellmann“ an. In diesem wird einerseits die Kernfamilie in aller Kürze skizziert und der Fokus dann auf die Diagnose bzw. die Diagnosemitteilung „Down-Syndrom“ gelegt (Segment 1, Z. 14–28). Für den Einstieg wählt Herr Wellmann eine örtliche Markierung „Fangen wir an in, in A-Stadt“ (14) und begründet dies dann mit der Bedeutung des Ortes: Hier wurde die Familie gegründet und hier wurden bei-de Kinbei-der geboren. Auf bei-der Textebene hanbei-delt es sich hier um eine Beschreibung, die Funktion dieser Beschreibung ist aber als eine Orientierung für die folgenden Ausführungen zu bewerten.

Lesarten zur Ortsmarkierung:

1. Die örtliche Markierung ist eine Reaktion auf das von der Interviewerin in Zeile 11 vorge-nommene Verdeutlichen der Eingangsfrage: „Sie können anfangen, wo Sie möchten“. Herr Wellmann versteht dies als Aufforderung, seine Erzählungen an einen Ort zu binden.

2. Dieser Ort spielt eine wichtige Rolle für Herrn Wellmann, dies verdeutlicht er in seiner ört-lichen Orientierung.

3. Orte übernehmen in Herrn Wellmanns Lebensgeschichte generell eine strukturierende Funktion, in dieser Lesart müssten im Folgenden weitere örtliche Hinweise folgen.

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Methodische und methodologische Fragen Lesarten zur Auswahl des Themas:

Herr Wellmann nimmt den Begriff ‚Familie‘ auf, der im Eingangsimpuls verwendet wurde. Er signalisiert damit, dass er die Erzählaufforderung verstanden hat und ihr nachkommt. Wie aber ist die folgende Schwerpunktsetzung zu verstehen?

4. Herr Wellmann fokussiert das Familienthema auf die Beeinträchtigung der Tochter, weil er das Interesse der Interviewerin dort verortet.

5. Der Fokus auf die Beeinträchtigung der Tochter ist im Familienthema von Herrn Wellmann relevant: Die Familienentwicklung ist dominiert von der Beeinträchtigung der Tochter. Auf-fallend ist in diesem Zusammenhang, dass er seine Tochter namentlich nennt, sein Sohn aber namenlos bleibt.

6. Er priorisiert das Familienthema, weil er damit in der Vergangenheit von Fachkräften wieder-holt konfrontiert wurde.

Seine Darstellungen zur Diagnosemitteilung sind insofern auffällig, als dass er aus einer Ge-genwartsperspektive heraus eine Bewertung der damaligen Umstände der Diagnosemitteilung vornimmt: Die Diagnose wurde erst drei Monate nach Geburt der Tochter gestellt, ein erster Verdacht direkt nach der Geburt wurde den Eltern gegenüber nicht thematisiert, obgleich er im Entlassungsbericht festgehalten wurde. Durch einen Umzug bedingt wechselt die Familie den Kinderarzt, der erstaunt ist darüber, dass die Eltern nicht informiert sind. Dies kann als ein Hinweis auf die Plausibilität von Lesart 3 gewertet werden. Herr Wellmann argumentiert aus der heutigen Perspektive heraus, dass Ärzte Mitte der 1960er Jahre noch nicht auf eine sol-che Beeinträchtigung vorbereitet waren. Er wechselt hier sowohl mehrfach zwissol-chen den Zeit-ebenen der Vergangenheit und der Gegenwart als auch die Erzählform, bei der er von einer Argumentation in eine kurze erzählerische Passage wechselt, die wiederum mit einer inhaltlich vergleichbaren Argumentation endet.

Lesarten zur Passage „Diagnosemitteilung“

7. Die Erfahrung der Diagnosemitteilung war von hoher Bedeutung für Herrn Wellmann bzw.

für die weitere Familienentwicklung. Aus diesem Grund wird sie an dieser prominenten Stelle vergleichsweise ausführlich dargelegt. Dafür spricht auch das Zitieren aus dem Ent-lassungsbericht: Herr Wellmann kann den Wortlaut wiederholen.

Lesarten zum Wechsel der Zeitebene und der Erzählform im Kontext der Diagnosemitteilung:

8. Die Umstände der Diagnosemitteilung, bei der die Familie über einen ersten Verdacht nicht informiert wurde, während der diagnostizierende Kinderarzt drei Monate später scheinbar erstaunt war, dass diese offensichtliche Diagnose nicht sofort gestellt wurde, waren zutiefst verunsichernd und verletzend und wirken bis heute fort. Durch die Relativierung auf der Grundlage heutiger rückblickend vorgenommener Bewertungen, dass Mitte der 1960er Jah-re das Thema ‚kognitive Beeinträchtigung‘, ihJah-re Diagnostizierung und die Kommunikation mit Eltern weniger im ärztlichen Kanon verankert war, versucht sich Herr Wellmann von den Gefühlen abzugrenzen, die die Erinnerung immer noch bei ihm hervorruft.

Das Lachen in Zeile 27 muss in dieser Lesart als Teil der Aussage des diagnostizierenden Kinderarztes gewertet werden, dessen Erstaunen Herr Wellmann möglicherweise auch eine Konnotation der Amüsiertheit darüber unterstellt, eine sichtbare Beeinträchtigung – auch als Eltern – übersehen zu haben.

9. Herr Wellmann verfolgt ein gewisses Präsentationsinteresse gegenüber der Interviewerin: Er stellt sich als aufgeklärter Mann dar, der den Ärzt*innen die Fehler der Vergangenheit nicht nachträgt, sondern sie in den geschichtlichen Kontext einordnen kann, sowie als Teil einer

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Die biografische Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal

Familie, die ihre beeinträchtigte Tochter erfolgreich fördert. Das Lachen in Zeile 27 demons-triert in dieser Lesart eine Distanzierung vom damaligen Geschehen.

Lesarten zur Kürze und Prägnanz des ersten Teils der Einstiegserzählung „Nadjas Entwicklung in der Familie Wellmann“

10. Mit seiner kurzen Übersicht über Orte und Zeiten, zu denen bedeutsame Details der Fa-miliengeschichte verankert sind, versucht Herr Wellmann, die emotional schwierigen Er-innerungen auf Distanz zu halten, die durch den Tod seiner Ehefrau in besonderer Weise aktualisiert werden.

11. Mit seiner kurzen Übersicht möchte sich Herr Wellmann als objektiv berichtender Inter-viewpartner präsentieren.

12. Seine kurze Übersicht ist Ausdruck einer geringen Bedeutung der Familie oder einer gerin-gen Involviertheit. Abseits von Orten und Zeiten fällt es ihm schwer, in einen Erzählfluss zu geraten.

7.4.2.3 Rekonstruktion der Fallgeschichte

Anders als im vorherigen Schritt, bei dem die Aufschichtung der Erzählung im Mittelpunkt steht, werden die definierten Segmente nun in die chronologische Reihenfolge ihres Gesche-hens gebracht. Auf diese Weise gelingt eine Annäherung an die Aufschichtung der Erlebnisse und Erfahrungen aus Sicht der Biografieträger*innen, während sich Forscher*innen gleichzeitig dem bereits vertrauten Textmaterial aus einer neuen (zeitlichen) Perspektive nähern und so er-neut eine gewisse Distanz zum Transkript einnehmen können, sich ihm also aus einer Fremd-heitsperspektive erneut zuwenden können.

Zur Rekonstruktion der Daten und Deutungsansätze dient auch der Rückgriff auf die Ergeb-nisse der biografischen Analyse, die mit den Aussagen der Biografieträger*innen verglichen wer-den. Unter anderem kann dabei aufgezeigt werden, welche Ereignisse/Erlebnisse nicht erwähnt werden, obwohl sie im Skript einer ‚Normalbiografie‘76 verankert sind. Die Arbeitsschritte des ersten Auswertungsschrittes kommen erneut zum Einsatz, die entworfenen Zukunftsszenarien können aber jetzt mit den Selbstaussagen der Erzähler*innen verglichen werden. Die Hypothe-sen aus dem ersten Auswertungsschritt können falsifiziert, bestätigt oder erweitert werden (vgl.

Rosenthal 2014, 202).

Die Ergebnisse der Text- und thematischen Feldanalyse fließen selbstverständlich auch mit in die Auswertung ein: So kann beispielsweise die erzählerische Hervorhebung einzelner Erlebnis-se oder der Umgang mit bestimmten Erfahrungen, wie sie in Schritt zwei interpretiert wurden, wichtige Hinweise für die Analyse in Schritt drei liefern (in diesem Zusammenhang ist auch der Arbeitsschritt der Feinanalyse (s. u.) hervorzuheben).

Auf die Rekonstruktion der Fallgeschichte von Herrn Wellmann wird an dieser Stelle verzichtet.

Sie findet sich in 8.1 und dient dort dem Einblick in die erlebte Geschichte von Herrn Wellmann.

7.4.2.4 Feinanalyse

In der Feinanalyse, die zu jedem Zeitpunkt der Auswertung vorgenommen werden kann, können einzelne Textstellen einer intensiven sequenziellen Analyse (Feinanalyse) unterzogen werden.

Im Sinne Oevermanns geht es darum, die „latenten Sinnstrukturen des Textes zu entschlüsseln“

(Rosenthal 2014, 206). Dazu eignen sich Segmente, die sich beispielsweise den Forscher*innen nicht erschließen, die inhaltlich interessant erscheinen, Passagen, in denen Biografieträger*innen

76 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konstrukt einer Normalbiografie vgl. auch Kapitel 2.