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5 Alter und Altern

5.3 Alter(n)sbedingte Veränderungen

Altern ist als ein Prozess intraindividueller Veränderungen zu verstehen, der

• multidimensional (unterschiedliche Verhaltens- und Persönlichkeitsbereiche betreffend),

• multidirektional (gleichzeitig verlaufende Prozesse können sich unterschiedlich entwickeln:

regredierend, stagnierend oder expandierend) und

60 Andere Autor*innen definieren das Altern stärker in Betrachtung der mit höherem Alter zunehmenden Verlusten.

Gerade in Abgrenzung zur Lebensphase ‚Alter‘ und in dem Bestreben, negativen Zuschreibungen des Alter(n)s zu vermeiden, erscheint die hier gewählte weite Definition aber sinnvoll.

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• multikausal („Bedingungskonstellationen aus biologischen, sozialen, ökologischen, ökono-mischen, historischen und psychologischen Faktoren“ (Faltermaier et al. 2014, 231)) bedingt ist (vgl. ebd., 230f ).

Dieser Prozess vollzieht sich in der physiologisch-biologischen, der psychologischen und der sozialen Dimension.

Durch die subjektive Wahrnehmung und Deutung bzw. Bedeutung der alternsbedingten Ver-änderungen in den genannten Dimensionen kann die Rekonstruktion von Lebensgeschichten beeinflusst werden. Auch wenn hierbei nicht von einer zwingenden Einflussgröße auszugehen ist, erscheint es wichtig, diese alternsbedingten Veränderungen im Sinne der Offenlegung theo-retischer Vorannahmen zu thematisieren.

Physiologisch-biologische Dimension des Alterns

Altern ist in diesem Kontext im Wesentlichen geprägt von einem Abbau der Anpassungsfä-higkeit, der Restitutionsfähigkeit und auch der Leistungskapazität des Organismus, was sich konkret in der erhöhten Anfälligkeit für Erkrankungen alternder Menschen abzeichnet (vgl.

Kruse 2017, 21). Zu nennen sind hier vor allem die abnehmende Sehkraft, der eingeschränkte Gehörsinn, Faltenbildung (als sehr sichtbares Merkmal des Alterns und des Alters), Verände-rung des Verhältnisses von Muskelmasse und FetteinlageVerände-rungen und VerändeVerände-rungen im kardio-vaskulären Bereich. Dabei variiert die Ausprägung der Veränderungen sehr stark in Abhängig-keit vom Lebensstil und der genetischen Ausstattung (vgl. Giddens/Fleck & Egger de Campo 2009, 165). Kruse weist zudem auf „die engen Zusammenhänge zwischen sozialer Schicht auf der einen Seite sowie Krankheitsanfälligkeit (Morbidität) und Sterblichkeit (Mortalität) auf der anderen Seite“ (Kruse 2017, 5) hin: „Angehörige sozialer Grundschichten, um ein Beispiel zu wählen, weisen eine bis zu zehn Jahre geringere Lebenserwartung auf als Angehörige mittle-rer oder obemittle-rer Sozialschichten“ (Kruse 2017, 5) (vgl. dazu auch Schmidt 1994)61. Das unter-streichen auch die Untersuchungen des Statistischen Bundesamtes:

„Europaweit zeigt sich ein starker Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen und dem Ge-sundheitszustand. Das einkommensstärkste Fünftel der Befragten zwischen 65 und 74 Jahren schätzt die eigene Gesundheit doppelt so häufig als gut oder sehr gut ein wie das einkommensschwächste Fünf-tel“ (Destatis 2016, 7).

Lange Zeit wurden die verhältnismäßig einfach zu messenden biologischen Veränderungen des Alterns nicht in Bezug gesetzt zu den zwei weiteren Dimensionen des Alterns, wodurch ein rein biologischer Blick auf die Lebensphase Alter begünstigt wurde. Haltungen und Sichtweisen, die vor allem Abbauprozesse und Funktionsverluste betonen, konnten sich auf diese Weise nachhaltig etablieren. Entstanden ist auf diese Weise ein sehr pessimistisches Bild der Lebensphase Alter, die häufig und fälschlicherweise mit Krankheit gleichgesetzt wird (vgl. dazu Kruse 2017, 38ff ).

Psychologische Dimension des Alterns

Das Altern in psychologischer Hinsicht ist noch nicht so umfassend erforscht wie das biologi-sche Altern. Dennoch gibt es in diesem Zusammenhang bereits eindeutige

Forschungsergebnis-61 Der Begriff der sozialen Schicht muss hier mit einer gewissen Zurückhaltung verwendet werden. Stattdessen sei auf die Ergebnisse der Sinus-Milieustudien verwiesen, die die Bezeichnung des sozialen Milieus der der sozialen Schicht vorziehen. Der Milieubegriff verbindet die soziale Lage, die klassisch als Unter-, Mittel- und Oberschicht definiert ist, mit der sozialen Orientierung, die sich zwischen dem Wert des Bewahrens und dem der Veränderung und Überwindung von Grenzen bewegt. Mit Hilfe dieser Koordinaten lassen sich verschiedene soziale Milieus konstruieren, die die Vielfalt der postmodernen Gesellschaft differenzierter abbildet (vgl. Sinus 2018).

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se, die auf ein Nebeneinander von Verlusten und Gewinnen im Alternsprozess hinweisen und die sich auf die Bereiche Gedächtnis, Intelligenz, Lernfähigkeit und Lernmotivation beziehen (vgl. Giddens/Fleck & Egger di Campo 2009, 166).

Genauer zu unterscheiden sind hier die kristalline und die fluide Intelligenz: Als kristalline Intel-ligenz wird das Bewältigen stark übungs- und bildungsabhängiger Leistungen beschrieben, bei-spielsweise „logisches Denkvermögen, Rechenfähigkeit, allgemeines Wissen, Gedichte“ (Oswald 2000, 112). Inhaltsübergreifende kognitive Grundfunktionen, mit denen Informationen flexibel verarbeitet werden, sind im Gegensatz dazu auf ein hohes Verarbeitungstempo angewiesen, sie zählen zu den fluiden Leistungen (vgl. Oswald 2000, 112f ). Im Kontext der kristallinen Intelli-genz sind Gewinne in Bereichen erkennbar, die auf Erfahrungen und Wissen fußen, zudem profi-tieren die seelisch-geistigen Prozesse alternder Menschen von gelungenen Entwicklungsprozessen der Vergangenheit: Erfolgreich bewältigte Entwicklungsaufgaben wirken hier als Ressource (siehe unten). Gleichzeitig sind Verluste im Bereich der fluiden Intelligenz zu verzeichnen, beispielsweise wenn neue, bislang unbekannte Aufgaben und unbekannte Strukturen erarbeitet und bearbeitet werden sollen. Außerdem nehmen die Geschwindigkeit des Denkens und die Fähigkeit des Kurz-zeitgedächtnisses ab (vgl. Kruse 2017, 21). Dennoch sind fluide Fähigkeiten auch im Alter (die Probanden waren zwischen 60 und 80 Jahre alt) noch trainierbar (vgl. Baltes 1990, 12).

Die angesprochenen Verluste und Gewinne konkretisieren sich individuell sehr unterschiedlich, ab-hängig von der jeweiligen lebenslaufbezogenen Ausprägung der Fähigkeiten (vgl. Kruse 2017, 23).

Während bei der Unterscheidung von fluider und kristalliner Intelligenz vor allem ihre unter-schiedliche Trainierbarkeit im hohen Alter erforscht wird, beschreibt Kruse für das hohe Alter konkrete psychologische Potenziale:

• Introversion mit Introspektion (die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Distanzierung von gesellschaftlichen Alter(n)sbildern)

• Offenheit (im Sinne einer Empfänglichkeit für neue Einsichten, vor allem für die durch die Introspektion gewonnenen Erkenntnisse, aber auch für die, die sich räumlich und sozial bei-spielsweise durch die neue Altersphase darbieten)

• Sorge (für und um andere, um die Welt)

• Wissensweitergabe (an die folgenden Generationen, das Bedürfnis, Kontinuität zu ermög-lichen und Verantwortung zu übernehmen) (vgl. Kruse 2017).

Für die Nutzung individueller Potenziale im hohen Lebensalter sind entsprechende Gelegen-heitsstrukturen notwendig: Es bedarf also einer Umgebung, die nicht von passiven Altersbil-dern geprägt ist oder für alternde Menschen nur bestimmte Räume vorsieht, in denen sie nur in engen Begrenzungen teilhaben dürfen. Kultur und Gesellschaft müssen offen sein für eine Viel-falt selbstbestimmter Einflussnahme auf Selbst- und Weltgestaltung62 (vgl. Kruse 2017, 68ff ).

Soziale Dimension des Alterns

Das soziale Altern wird beeinflusst von den gegebenen gesellschaftlichen Normen, Werten und Rollen, die mit den jeweiligen Altersphasen verbunden sind. Auch in dieser Dimension ist eine Gleichzeitigkeit von Gewinnen und Verlusten zu verzeichnen.

Die soziale Dimension des Alterns ist einerseits geprägt von verschiedenen Rollenverlusten, die mit dem zunehmenden Alter einhergehen. Allen voran ist hier der Eintritt in den berufli-chen Ruhestand zu nennen, der zwar in verschiedenen Ländern und auch historisch betrachtet

62 Offene Gelegenheitsstrukturen erlangen vor dem Hintergrund der Institutionalisierung als einem Aspekt der reflexiven Moderne eine hohe Bedeutung.

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zeitlich stark variiert, der aber dennoch aus sozialer Sicht mit einschneidenden Veränderungen verbunden ist (Verlust der sozial anerkannten Rollen als Berufstätige, Verringerung der zur Ver-fügung stehenden finanziellen Mittel, veränderte Zeitstrukturierung etc.). Doch auch andere Rollenverluste weisen auf den voranschreitenden Alternsprozess hin, beispielsweise der Aus-zug der Kinder aus dem Elternhaus und die Phase des ‚empty nest‘ (für eine kurze Übersicht vgl. Faltermaier et al. 2014, 210ff ) oder der Beginn der Pflegebedürftigkeit der eigenen Eltern.

Dabei wird deutlich, dass die Bezeichnung dieser Ereignisse als ‚Rollenverluste‘ irreführend ist, denn häufig sind damit neue Rollen verbunden: Als „späte Freiheit“ (Kruse 2017, 21) wird die Lebensphase auch bezeichnet, in der der Mensch in den modernen Industriegesellschaften in die historisch bislang einmalige Situation geraten kann, über sich und sein weiteres Leben be-stimmen zu können. Der lange Zeit sehr negative Blick auf die alte Generation als

„unproduktive und abhängige Menschen, die nicht mit der Zeit gehen, weil sie mit den Hightechfä-higkeiten der Jungen nicht mithalten können und weil in diesen Gesellschaften ein Jugendkult gepflegt wird“ (Giddens/Fleck & Egger di Campo 2009, 167),

verändert sich hin zur Erwartung einer Lebensphase, in der man von den Zwängen und Belas-tungen aus Erwerbstätigkeit, Karriere und Familienphase mit noch nicht volljährigen Kindern losgelöst wieder verstärkt eigenen Lebenszielen nachgehen kann. Dabei ist festzuhalten, dass diese Freiheiten bei Weitem nicht jedem alternden Menschen zugänglich sind: Zwar geht die Lebensphase häufiger denn je einher mit einer guten Gesundheit und mit den zur Verfolgung persönlicher Ziele notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen, diese sind jedoch so-zial sehr ungleich verteilt (vgl. Kruse 2017, 21f ). Diese zunächst als Gewinne des Alterns ver-standenen Freiheiten können sich schnell zu Risiken bzw. Verletzlichkeiten auswirken63. Modelle des Alterns

Mit Blick auf das Altern als Veränderungsprozess wurden im Laufe der thematischen Ausein-andersetzung verschiedene Theorien des Alterns formuliert. Es existiert keine allgemeingültige Theorie des Alterns, wenngleich mittlerweile deutlich wird, dass Altern nicht nur ein natür-licher Prozess ist, sondern auch das Ergebnis einer sozialen Aushandlung (vgl. Kade 2009, 37).

Aus den verschiedenen Modellen des Alterns lassen sich Konsequenzen für ein erfolgreiches Altern ziehen. Diese fließen ein in die Leitbilder und Angebote verschiedener Akteur*innen auf den Feldern der Altenbildung, Altenhilfe und Altenpflege64, die sich wiederum an die Ziel-gruppe wenden, die sich so bestimmten Altersbildern zuordnen muss.

Beispiele für Theorien des Alter(n)s sind:

• Defizit-Theorie: In diesem Modell wird Alter mit dem Abbau körperlicher, geistiger und see-lischer Kräfte gleichgesetzt. Der alte Mensch wird als hilfsbedürftig verstanden und Angebote entsprechend gestaltet (vgl. Theunissen 2002, 27f ).

• Disengagement-Theorie: Ausgehend von der Beobachtung, dass ältere Menschen sich (schein-bar aufgrund nachlassender Fähigkeiten und Fertigkeiten) zunehmend aus der Gesellschaft

zu-63 Ausgehend von Kohlis These der sozialen Institutionalisierung dieses neuen Verlaufsmusters (vgl. Kohli 1988, 43) besteht das Risiko, dass sich die späte Freiheit zu einem weiteren Zwang im Alter entwickelt. Zudem verschärft sich die Situation zwischen den privilegierten und weniger privilegierten alten Menschen: Die letztgenannten werden zwar mit der Herausforderung einer Gestaltung der Altersphase im Sinne von Lebenszielen konfrontiert, gleichzeitig waren sie vermutlich nicht selten bei der Entwicklung der biografischen Ressourcen zur Antizipation eines solchen Lebensziels benachteiligt.

64 Im Sinne der reflexiven Modernisierung sind sie Teil der ‚Institutionen‘, die im Zuge von Enttraditionalisierung und Individualisierung die gesellschaftliche Ordnung gewährleisten sollen (‚Institutionalisierung‘, vgl. Kapitel 2.4.1).

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Altersspezifische Entwicklungsaufgaben

rückziehen, entwickelten Cumming & Henry (1961) dieses Modell des Alterns, das davon ausgeht, dass das Zurückziehen aus sozialen Rollen und Verpflichtungen dem zunehmenden Wunsch nach Ruhe entspricht und auf das Lebensende vorbereitet. Der Rückzug ermöglicht aus dieser Perspektive folglich ein erfolgreiches Altern, wobei der Rückzug eine Prioritäten-setzung verlangt und nicht per se mit Passivität gleichzusetzen ist (vgl. Kade 2009, 38ff ). Die-se TheDie-se ist mittlerweile, ebenso wie die Defizit-Theorie, widerlegt worden (vgl. TheunisDie-sen 2002, 29), wenngleich beide Ansätze weiterhin als gesellschaftlich verankerte Vorstellungen von Altern wirksam sind.

• Aktivitäts-Theorie: Der Disengagement-Theorie deutlich widersprechend hat sich die Akti-vitäts-Theorie entwickelt, die vom Gegenteil ausgeht, nämlich dass ein erfolgreiches Altern durch ein hohes Aktivitätsniveau garantiert ist.

• Kompetenz-Modell des Alterns: Das Kompetenz-Modell betont die Ressourcen der alten Menschen und kritisiert damit die in den anderen Theorien weiterhin vorhandene defizit-orientierte Sichtweise. Kompetenz wird dabei definiert als die Fähigkeit, „individuelle und soziale Ressourcen so zu nutzen, dass eine gegebene Situation möglichst effektiv und auto-nom bewältigt werden und ein soziales und sinnerfülltes Leben aufrechterhalten und wei-terentwickelt werden kann“ (Theunissen 2002, 38). Die Entwicklung von Kompetenzen ist damit gekoppelt an die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ähnlich wie in der Biografietheorie ist also auch hier die das Subjekt umgebende Struktur wesentlich für seine Entwicklung. Das Alter wird damit nicht einseitig zur Herausforderung, sondern auch zur Chance (vgl. Spät & Lehr 1997; zit. n. Lindmeier & Oermann 2017, 20).

Defizit-, Disengagement- und Aktivitätstheorie verstehen den Prozess des Alterns überwiegend als ausgelöst durch die biologische Alterung. Altern wird hier alleine auf den Abbau von bei-spielsweise somatischen, psychischen und sozialen Fähigkeiten reduziert. Ein erfolgreiches Al-tern muss entsprechend auf diese Verluste reagieren, entweder in Form eines sozialen Rückzugs, oder, wie im Falle der Aktivitätstheorie, mit Hilfe von Training, das den Alterungsprozess auf-halten soll. Das Leben wird hier als ein „Mechanismus“ (Kade 2009, 39) gedeutet, Altern und Sterben müssen damit als ein Scheitern interpretiert werden (vgl. ebd.).

Der biografische Anteil am Alterungsprozess bzw. am erfolgreichen Altern wird in diesen Model-len jedoch übersehen. Olbrich (1992) gelingt mit seinem Kompetenz-Modell des Alterns „eine Verschiebung des Blicks auf das Verhältnis zwischen den persönlichen Ressourcen eines Menschen und den Merkmalen seiner Lebenssituation“ (Lindmeier & Oermann 2017, 22), ohne dabei den Einfluss des physiologisch-biologischen, psychologischen und sozialen Alterns zu leugnen.

Vor dem Hintergrund der zeitlichen Ausdehnung der Altersphase in Zeiten der reflexiven Mo-dernisierung, in denen Individualisierung und Enttraditionalisierung traditionelle Altersbilder in Frage stellen, ist eine Auseinandersetzung mit Modellen des Alterns, die immer auch eine Theorie des erfolgreichen Alterns implizieren, von Bedeutung. Sie bieten Orientierung und lie-fern Handlungsoptionen, denen sich sowohl alte Menschen selbst als auch Institutionen, die sich an diese wenden, anschließen können. Unweigerlich ist damit aber gleichzeitig auch die Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten verbunden und es liegt in der Verantwortung der alten Menschen, sich zu informieren und aus den Angeboten zu wählen (vgl. dazu 5.5).