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1. Kapitel Morphologische Modifikation

1.4 Allgemeine semantische Struktur der Modifikationssuffixe

1.4.3 Polyfunktionalität

In diesem Teil der Arbeit sollen Angaben zur Bedeutungsbreite der modifizieren-den Suffixe v.a. anhand ausgewählter Suffixe dargestellt wermodifizieren-den. Zuerst möchte ich eine eher diachron angelegte Untersuchung über die Polyfunktionalität des Suffixes -ino von Widlak (1992) näher darstellen, daran anschließend eine eigene synchrone Studie (ebenfalls über -ino) von Necker (1994).32 Danach soll eine Be-trachtung der Polyfunktionalität des Suffixes -one anhand seiner diachronen Ent-wicklung erfolgen. In Jurafsky (1996) wird versucht, die EntEnt-wicklung und syn-chrone Variation von Diminutiven zu erfassen. Eine diasyn-chrone Studie zur Ent-wicklung der italienischen Modifikationssuffixe insgesamt innerhalb eines Polyse-mie-Ansatzes stellt Mutz (1998, 2000) dar.

Widlak (1992) behandelt das Suffix -ino als lexikalisches Element und versucht, sei-ne komplexe Natur und Strukturierungen, die sich auf der Inhaltsebesei-ne abspielen, zu beschreiben. Im Lauf der Sprachentwicklung habe sich das Suffix -ino immer mehr bezüglich seiner funktional-semantischen Werte bereichert, bis es seinen heutigen komplexen Stand erreicht habe. Diese sehr entwickelte Polyfunktionali-tät (bei Widlak polyvalence) könne synchron als Homonymie betrachtet werden.

Aus diachroner Sicht handelt es sich nach Widlak (1992) um eine Entwicklung, die auf polysemen Relationen beruht, in synchroner Sicht liegen seines Erachtens je-doch klar homonyme Suffixe vor. Er stellt die Lesarten von -ino folgendermaßen dar:

32 Dal (1997) stellt eine Untersuchung über das frz. Suffix -ette an. Sie nimmt an, dass es nur ein Suffix gibt, welches verschiedenste Funktionen haben kann.

Das Suffix -ino hat sich nach Standpunkt von Widlak (1992) direkt und formal re-gelmäßig aus dem lateinischen Suffix -INUS entwickelt. Das lateinische Suffix -INUS diente zunächst der Bildung von denominalen Adjektiven, die Herkunft oder Relation ausdrücken. Als Basis traten Tiernamen, Pflanzennamen, Ortsna-men und EigennaOrtsna-men auf. Dasselbe Suffix tritt auch bei der denominalen Bildung von Nomina auf, die ebenfalls Relation oder Herkunft ausdrücken. Im Lateini-schen sei die Bildung denominaler Adjektive mit diesem Suffix überwiegend (Widlak 1992: 91f.). Zu den Bedeutungen der Herkunft und Relation treten andere hinzu, die eine Weiterentwicklung, eine Ausbreitung darstellen: die Zugehörigkeit und die Qualität.

Die gegenseitige Abhängigkeit und Motivation der Lesarten (bei Widlak valeurs sémantiques) ist im Lateinischen laut Widlak (1992) deutlich. Das lateinische Suffix habe als semantische Struktur die der polysemen Relation (Koexistenz verschiede-ner semantischer Werte, die sehr eng und miteinander verbunden in einem poly-semen Suffix zusammen liegen). Beim italienischen Suffix -ino finde eine Autono-misierung dieser Lesarten statt, und es träten völlig neue hinzu. Daraus resultiere die neue, auf homonymen Relationen beruhende Struktur. Diese entsteht durch die Homonymisierung der polysemen Varianten, und es ergeben sich mehr oder weniger unabhängige, homonyme Suffixe, die einen gemeinsamen Ursprung ha-ben. Ausgangsbasis für italienisch -ino sind nach Widlak (1992) die Basiswerte Herkunft, Zugehörigkeit, Relation und Qualität, die auch die Grundlage für die Bildung neuer Werte im Italienischen darstellen.

Laut Widlak (1992) hat sich -ino in zwei Hauptrichtungen entwickelt, in relationa-ler Funktion und in modifizierender Funktion. Als relationale Verwendung von -ino nennt er beispielsweise die Bezeichnung von Herkunft, Zugehörigkeit, Rela-tion, Bildung von Adjektiven und Nomina zur Bezeichnung von Bewohnern. Für die modifizierende Funktion nimmt er dieselbe Entwicklung an, wie Tekavciç (1980), ausgehend von der Idee der Ähnlichkeit. Er geht besonders auf die "affek-tive" Nuance von -ino als Diminutivsuffix ein, da diese Auslöser für die Trennung der beiden Funktionen von -ino gewesen sei. Die hypokoristische Diminution von Eigennamen habe die Derivation von Eigennamen von Familien (Patronymen) er-möglicht. Diese Bedeutung scheine an die ursprüngliche Bedeutung von -ino geknüpft zu sein (Herkunft, Zugehörigkeit). Die relationale Funktion des Suffixes -ino ist, laut Widlak, weitaus ausgeprägter als die modifizierende Funktion. Neue Verwendungen sind: Berufsbezeichnungen, Nomina agentis, Instrumentbezeich-nungen, Bezeichnungen von Personen, die anhand einer bestimmten Tätigkeit charakterisiert werden.

Die Studie von Necker (1994) beschäftigt sich synchron mit der funktionalen Viel-falt des Suffixes -ino. Die produktiven Lesarten von -ino werden bezüglich ihrer Funktion in Derivationstypen unterteilt.

Es treten viele homonyme Formen auf. Der häufigste Fall ist der, dass das Wort sowohl als nominales Diminutiv als auch als Relationsadjektiv fungiert. In den nachfolgenden semantischen Paraphrasen steht die Variable x stellvertretend für die Basis. Diminutive Adverbbildungen werden nicht betrachtet, da in den Wort-listen, die der Arbeit als Korpus dienen (siehe FN 34), keine derartigen Bildungen erscheinen. Ich stelle den Zusammenhang der verschiedenen Lesarten von -ino zunächst graphisch dar und werde darauf folgend die Lesarten erläutern.

-in-A' -in-A''

-ino A' Bedeutung 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: POSITIV': Typ: anatra > anatrina, brutto > bruttino.33

-ino A'' Bedeutung 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: NEGATIV': Typ: p a p a l e >

papalino.34

-ino B eher relationale Bedeutung 'Relation w x': Typ: capra > caprino.

-ino B' Bedeutung 'Relation 'Ausübender einer Tätigkeit mit x'': Typ: bagno > bagnino.

-ino B'' Bedeutung 'Menge von etwa x': Typ: trenta > trentina.

-ino B''' Bedeutung 'Gesamtheit von x': Typ: abete > abetina.

-ino AB Bedeutung 'Relation 'Ausübender der Tätigkeit x' + negative Bewertung': Typ:

spazzare > spazzino.

-ino AB' Bedeutung 'Relation 'Instrument der Tätigkeit x'': Typ: frullare > frullino.

(siehe Necker 1994: 21ff.)

Die einzelnen Lesarten hängen wie folgt zusammen:

-ino A und -ino B werden von Necker (1994) als zentrale, homonyme Suffixe mit den jeweiligen hiervon abgeleiteten Lesarten betrachtet. Sprachgeschichtlich hat

33 Nach Wierzbicka (1984) ist ein solcher Bildungstyp negativ bewertetes Adjektiv + Diminutivsuffix im Polnischen nicht möglich, z.B. *brudniutkie 'dirty-Dim.',

*kwa,niutkie 'sour-Dim.' und zwar unabhängig davon, ob die negative Bewertung lexi-kalisch oder kontextuell ist.

34 Im Korpus von Necker (1994) trat keine nominale Bildung dieses Typs auf. Bei einem grö-ßeren Korpus wäre dies vielleicht der Fall gewesen. Die Arbeit geht von Wortlisten aus, die im Wesentlichen auf Alinei (1962) basieren und um die Beispiele aus verschiedenen Grammatiken zum Italienischen erweitert wurden.

sich -ino A vermutlich aus -ino B entwickelt, synchron bestehen nach Auffassung von Necker (1994) jedoch keine Zusammenhänge mehr zwischen den beiden.

Allerdings ist eine gegenseitige Beeinflussung zu beobachten, denn bei den rela-tionalen Bildungen kann eine negative qualitative Bewertung auftreten, aber auch das Sem [klein], wie bei der Lesart -ino AB'. Es ist auffällig, dass es sich bei den hier auftretenden Derivaten fast ausschließlich um kleine Gegenstände handelt.

Bei -ino A' ist zusätzlich zu der Bedeutung von -ino A immer eine positive Bewer-tung impliziert. Bei -ino A'' hingegen ist zusätzlich zu der BedeuBewer-tung von -ino A immer eine negative Bewertung impliziert.

Bei -ino B' findet im Gegensatz zu -ino B eine Lexikalisierung der Relations-variablen statt: w ist immer die Relation 'Ausübender einer Tätigkeit mit x', die Basis ist immer ein Nomen. Bei -ino B'' liegt eine andere Lexikalisierung der Rela-tionsvariablen vor: w ist immer die Relation der ungefähren Menge (Quantifika-tion), als Basis für -ino B'' kommen nur Zahlwörter in Frage. Bei -ino B''' liegt wiederum eine andere Lexikalisierung der Relationsvariablen vor: w ist immer die Relation der Gesamtheit (Quantifikation), im Unterschied zu -ino B'' sind die Basen jedoch nicht so eingeschränkt.

Die Lesarten -ino B' bis -ino B''' sind nach Necker (1994) alle von -ino B abgeleitet.

Die Lesart -ino AB wird hingegen als von -ino A'' und -ino B' abgeleitet betrachtet.

Die negative Bewertung rührt eindeutig aus dem Bereich des Diminutivsuffixes her, da sie bei anderen Lesarten nicht vorkommt. Auch enthält -ino AB die Rela-tion 'Ausübender der Tätigkeit x'. Also findet eine Basisverschiebung innerhalb des "Tätigkeitsmodells" nach Schwarze (1988/1995) statt: Der Gegenstand bzw.

das Instrument der Tätigkeit als Derivationsbasis wird durch die Tätigkeit selbst als Basis ersetzt. Von der Lesart -ino AB wird wiederum -ino AB' abgeleitet. Es findet eine systematische Umkategorisierung vom Ausübenden zum Instrument statt. Da keine negative Bewertung impliziert ist, kann -ino AB' nach Necker (1994) nicht in den Bereich des Diminutivs gehören.

Die Lesarten -ino A bis -ino AB' erfassen die folgenden sieben Bildungstypen:

1. diminutive deadjektivische Adjektive, 2. diminutive denominale Nomina, 3.

relationale denominale Adjektive, 4. aus Zahlwörtern abgeleitete Nomina, 5.

denominale Nomina, die Kollektiva bezeichnen, 6. deverbale und 7. denominale Nomina agentis.

Beim Diminutiv (1. und 2.) wird angenommen, dass immer zwei Bewertungen auf einmal impliziert sein müssen (siehe Schwarze 1988/1995). Was bei Schwarze (1988/1995) als pragmatische Modifikation der Grundbedeutung bei den Adjektiven auftritt, wird in dieser Arbeit als zweite Bewertung angesehen. Wie bei Tekavciç (1980) kann die qualitative Bewertung beim Diminutiv entweder positiv oder negativ sein kann. Weiterhin wird angenommen, dass das Diminutiv

nur bezüglich der quantitativen Bewertung auf 'klein' beschränkt ist. Die qualitative Bewertung kann entweder durch die Bedeutung der Basis oder durch den Kontext schon festgelegt sein, oder aber einer Lesart von -ino als Diminutiv-suffix inhärent sein. Bei den diminuierten Adjektiven bestehen drei Lesarten:

-ino A 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: NEUTRAL' -ino A' 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: POSITIV' -ino A'' 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: NEGATIV'

'Quantitativ: KLEIN' wird als Paraphrase gewählt, da -ino für denominale und deadjektivische Diminutivbildung zusammen betrachtet wird. Natürlich muss 'KLEIN' bei Adjektiven als 'WENIGER' interpretiert werden. Wenn die qualitative Bewertung bereits durch die Basis geklärt ist, tritt -ino A auf. Wenn die qualitative Bewertung nicht durch die Basis geklärt oder abweichend davon ist, tritt -ino A' auf. Die Lesart -ino A'' tritt auf, wenn die qualitative Bewertung 'NEGATIV' nicht durch die Basis gegeben ist.

Analog zur Diminutivbildung bei Adjektiven nimmt Necker (1994) bei der de-nominalen Diminutivbildung dieselben Lesarten wie beim Adjektiv an. Lediglich zur Lesart -ino A'' wurden keine Beispiele gefunden. Aus diesem Grund finden sich bei den Nomina nur zwei Lesarten:

-ino A 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: NEUTRAL' -ino A' 'Quantitativ: KLEIN + qualitativ: POSITIV'

Zum Derivationstyp -ino A' werden auch die hypokoristischen Bildungen gezählt.

Hierbei tritt laut Necker (1994) lediglich die quantitative Bewertung in den Hin-tergrund, z.B. babbino von babbo. Bei allen Lesarten von -ino bei der Diminutivbil-dung kann eine der Bewertungen in den Hintergrund treten.

Bei dem Derivationstyp Verb > Nomen agentis bezeichnet die Basis eine Tätig-keit, das Derivat bezeichnet eine Person, die diese Tätigkeit ausübt, und impliziert zusätzlich eine negative Bewertung. Die Derivate bezeichnen Ausübende niedrig bewerteter Berufe oder negativ bewerteter Handlungen. Bei diesem Derivations-typ findet auch die systematische Umkategorisierung von der Person zum Instrument statt. Die negative Bewertung findet nur bei Derivaten statt, die das Merkmal [+menschlich] haben. Sie kann aber auch bei der verbalen Basis impli-ziert sein, z.B. scribacchino von scribacchiare.

Im Folgenden soll auch die Polyfunktionalität des Suffixes -one dargestellt wer-den. Laut Tekavciç (1980) geht -one auf lateinisch -O-, Genitiv -ON/IS, Obliquus -ON/E zurück und diente im Latein dazu, Wörter zu bilden, die eine Person in Hinsicht auf ihre Zugehörigkeit zu gewissen Gruppen, anhand ihrer Gewohnhten oder anhand einer sichtbaren physischen Besonderheit charakterisieren (zu ei-ner ausführlicheren Darstellung des lateinischen Suffixes siehe Grandi 2003). Diese Charakterisierung finde immer im negativen Sinne statt. Tekavciç nennt drei

unterschiedliche Entwicklungswege des Suffixes in der Romania, die alle auf die Gemeinsamkeit 'Charakterisierung' zurückzuführen seien. Der erste Ent-wicklungsfaden geht aus von der Bedeutung 'Person mit einem großen Körper-teil ausgestattet'. Die Derivate gehen dazu über, das KörperKörper-teil zu bezeichnen:

nasone habe nun die Bedeutung 'große Nase' und nicht mehr 'mit einer Nase aus-gestattet'. So ist laut Tekavciç (1980: 100f.) das Augmentativ entstanden. Der zweite Entwicklungsfaden basiere auf den Bildungen mit -one, die das durch die Basis Bezeichnete bezüglich einer Gewohnheit, des Charakters usw. immer mit negativer Bewertung charakterisieren: buffone, imbroglione, testardone (siehe Tekavciç 1980: 101). Hierzu gehöre auch fannullone. Bei Tekavciç ist in dieser Gruppe ein normales Augmentativ blockiert: imbroglione bedeute nicht 'grande imbroglio'. Der dritte Entwicklungsweg wird durch die Adverbien mit -oni (-one) gebildet, die die Position des Körpers oder seine Bewegung charakterisieren:

carponi, ginocchioni, striscioni (siehe Tekavciç 1980: 101).

Ausgehend von der Frage, wie bei Bildungen wie terrone, polentone die negative Bewertung zustande kommt (siehe hierzu auch 1.10.3), beschäftigen sich Leone (1981: 83f.) und Stefanini (1979) mit den Bildungstypen von -one. Leone (1981: 84f.) unterscheidet, im Gegensatz zu Tekavciç (1980), sechs Typen bei -one:

1. Bezeichnung physischer Merkmale: pancione, nasone, baffone, 2. Berufsbezeichnungen: professorone und hier auch fannullone,

3. Augmentative, die außer dem eigentlichen Sinn auch übertragene Bedeu-tung annehmen: lasagnone (uomo grosso e sciocco), testone (persona caparbia e ottusa).

In den Bildungstypen 1.-3. habe -one augmentativen Charakter. Des Weiteren:

4. Bildungen mit -one, bei denen bereits die Basis in übertragener Bedeutung eine Person bezeichnet: cicalone von cicala,

5. Bildungen mit -one, die sich mit Basen verbinden und die, obwohl sie nicht bereits den figurativen Sinn in der normalen Form enthalten, sich trotzdem leicht zur Bildung von Personenbeinamen eignen, indem sie einen inneren Aspekt oder Seelenzustand oder einen äußeren und augenfälligen Aspekt bezeichnen: pizzardone - pizzarda, fifone - fifa,

6. Deverbale Bildungen, die er für außerordentlich produktiv hält: guardone, poltrone (von poltrire), bighellone, maneggione, merendone.

In diesen Typen tauchen Bildungen wie z.B. faccendone, polentone, terrone nicht auf.

Diese siebte Gruppe muss laut Leone (1981) auf einen dritten Typ von -one zu-rückgeführt werden, und zwar auf eine Wortkreuzung: Von einem Quasikompo-situm bleibe vom zweiten Wort nur -one übrig. So könne piazzone von piazza + bighellone stammen, faccendone von faccenda + maneggione (siehe Leone 1981: 85).

Zusammenfassend unterscheidet Leone (1981) drei Typen von -one bei der Bil-dung von Nomina zur Bezeichnung von Personen:

I. -one charakterisierend, augmentativ (1., 2., 3.) II. -one charakterisierend, nicht augmentativ (4., 5., 6.) III. sekundäres -one (siebte Gruppe nach Leone 1981).

Meines Erachtens stellt sich allerdings die Frage, ob -one III. nicht auch aus einer gegenseitigen Beeinflussung von I. und II. stammen könnte. Interessant bei -one ist zweifellos die unterschiedliche Entwicklung des lateinischen Suffixes in den verschiedenen romanischen Sprachen: Im Italienischen, Spanischen, Portugiesi-schen, Rumänischen und Ladinischen wird es Augmentativsuffix, im Galloroma-nischen (Französisch, Okzitanisch) Diminutivsuffix (Costa 1997: 178, Mutz 2000:

122ff.). Nach Dressler/Merlini Barbaresi (1994: 488) lässt sich diese unterschiedli-che Entwicklung anhand des gemeinsamen pragmatisunterschiedli-chen Merkmals [fiktiv] der Modifikativsuffixe erklären, welches Übergänge in andere Bedeutungsgruppen ermögliche.

Jurafsky (1996) versucht, innerhalb einer Lakoffschen Radialkategorie35 die dia-chrone Entwicklung und die syndia-chrone Variation der Diminutivmorpheme an-hand von über 60 Sprachen nachzuzeichnen. Die einzelnen Bedeutungen von Di-minution sind seines Erachtens jeweils durch metaphorische und inferentielle Relationen verbunden. Nach Auffassung von Jurafsky (1996) liegt die zentrale Bedeutung des Diminutivs sprachübergreifend in Wörtern, die semantisch (das Wort heißt 'Kind' o.Ä.) oder pragmatisch (z.B. hypokoristisches Suffix bei Na-men) mit Kindern verbunden sind und demnach vor der relationalen Bedeutung.

Wie Wierzbicka (1984) nimmt er als Ausgangspunkt für das Diminutiv sowohl die Bedeutung 'klein' als auch die Bedeutung 'Kind' an, da ausschließlich von 'klein' nicht alle Bedeutungsaspekte abgeleitet werden könnten. (Er kritisiert gleichzeitig die Annahme des Merkmals [nicht ernsthaft] von Dressler/Merlini Barbaresi 1994):

If this were the case, we would expect these same inferences for the word for small in each language (i.e. Italian piccolo should behave like the diminutive -ino); this does not occur.

(Jurafsky 1996: 538)

Diese Folgerung widerlegt meines Erachtens jedoch nicht, dass es synchron möglich ist, von einer Grundbedeutung 'klein' auszugehen (zu einer Kritik an Jurafskys Ansatz vgl. Mutz 2000: 147ff.). Wenn eine Sprache mehrere Aus-drucksmittel für die Bedeutung 'klein' besitzt, ist anzunehmen, dass sich diese

35 In einer Radialkategorie werden alle Kategorienmitglieder von einem zentralen Mit-glied abgeleitet, in diesem Fall von 'Kind'.

nicht exakt synonym verhalten, sondern eine Ausdrucksalternative eingehen, die durch Restriktionen geregelt ist. Zudem übernehmen in Sprachen, die keine funktionierenden Diminutivsuffixe haben, eben die Adjektive zum Ausdruck von 'klein' die Funktion des Diminutivs (siehe 5.4.4 oder Hasselrot 1972, der eine Übernahme der Diminutivfunktion durch petit im Französischen zeigt).

Für die diachrone Entstehung im Romanischen zeigt Mutz (1998, 2000), dass sich die romanischen modifizierenden Suffixe weitgehend aus relationalen Suffixen des Lateinischen entwickelt haben. Nach ihren Angaben (Mutz 2000: 7) liegt der Wandel von relationaler zu modifizierender Bedeutung in frühromanischer Zeit.

Sie bevorzugt die Analyse relationaler und modifizierender Suffixe als polysem.

Problematisch bleibt, meines Erachtens, allerdings die formale Ableitung der Be-deutung der modifizierenden Suffixe, ausgehend von einer Situation der Polyse-mie. Welche gemeinsame Bedeutungskomponente tragen relationale und modi-fizierende Suffixe? Zudem weisen die relationalen Bildungen verschiedene cha-rakteristische Eigenschaften der modifizierenden Suffixe nicht auf: Transparenz gegenüber der Wortart der Basis bei den modifizierenden Suffixen, Veränderung der Wortart der Basis bei den relationalen Suffixen, komplexere Semantik der re-lationalen Suffixe - sie ändern die Bedeutung der Basis tief greifender, als dies die modifizierenden Suffixe tun. Mutz (2000: 60) selbst räumt ein, dass es sich syn-chron um Homonymie handelt und dass eine solche Homonymie-Situation be-reits im Lateinischen bestand:

Wie die meisten Modifikationssuffixe im Romanischen haben auch die lateinischen Diminutivsuffixe, allen voran -ULUS, Homonyme, mit denen sie genetisch verwandt sind.

Diese bilden Derivate mit nicht-modifizierender Bedeutung, die Suffixe tragen unterspezifizierte relationale Bedeutungsmerkmale wie {Ursprung}, {Zugehörigkeit}, {Funktion} und sind sowohl syntaktisch als auch semantisch transkategorisierend. (Mutz 2000: 168)

Mutz (2000) rekonstruiert den Wandel der Modifikationssuffixe in drei Etappen:

1. Relationalbedeutung > Quantifizierende Bedeutung ("inalienable possession") ("klein", "groß")

2. Quantifizierende Bedeutung > Qualifizierende Bedeutung ("klein", "groß") ("gut", "schlecht")

3. zunehmender Funktionswandel von referentieller Funktion zu Diskursfunktion Aus Mutz (2000: 6)

Der Wandel verläuft, ihres Erachtens, unidirektional:

d.h. ist einmal das quantifizierende Merkmal verloren gegangen, hat also eine Desemantisierung in Bezug auf das quantifizierende Merkmal stattgefunden [...], dann ist dieses nicht mehr zu aktivieren. Mit anderen Worten, ein einmal zu einem Pejorativsuffix gewordenes Suffix scheint nicht wieder zu einem Diminutiv- oder Augmentativsuffix werden zu können, d.h. nicht mehr lexikalische Vollspezifizierung in Bezug auf ein quantifizierendes Merkmal erlangen zu können. (Mutz 2000: 64)

Für die meisten italienischen modifizierenden Suffixe weist sie nach, dass sie sich jeweils aus einem relationalen Suffix entwickelt haben, welches im Bereich der Personnennamen produktiv war.

1.5 Semantische vs. pragmatische Funktion der Modifikationssuffixe