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Das persönlich Unbewusste und das kollektiv Unbewusste: eine notwendige Unterscheidung

6 Lernen

6.3 Emotionale Entwicklung

6.3.7 Das persönlich Unbewusste und das kollektiv Unbewusste: eine notwendige Unterscheidung

Durch ein ausschließliches Lernen auf den Ebenen von „Lernen null bis II“ bedingen sich Kleinkinder, bis hin zu Erwachsene darin, sich ihrer sozialen Umwelt anzupassen: welche der „Anlagen“ des Menschen

gewürdigt und toleriert werden entscheidet die „Außenwelt“ – das soziale Netzwerk. „Um seine Entwicklung zu schützen, werden die von außen unerwünschten, aber zum »Selbst« gehörenden, Anlagen negativ

»geladen« und ab diesem Zeitpunkt gemieden und abgewehrt“, so Stangl (2016b). „Um damit nicht in Kontakt zu kommen“, errichtet der Mensch „strenge Grenzen und verurteilt Personen, die diese

Eigenschaften verkörpern. Das ist der Kern von Abneigung, Manipulation, Kontrolle und Verstrickung in zwischenmenschlichen Beziehungen, die bis zu Mord, Selbstmord oder Krieg reichen“ (Walch 2011, S. 111). In der ausschließlichen Auseinandersetzung des Menschen in den Ebenen „Lernen null bis II“ richten sich diese Projektionen dann unmittelbar gegen den Mensch selbst: „Obwohl andere die Zielscheibe sind, belade ich mich selbst, weil sich die Ablehnung dann auch gegen die meine Person richtet und zu unbewussten

Konflikten bis hin zu psychosomatischen Leiden führt“ (Ebd., S. 112). Walch (2011, S. 111-112) merkt hierzu an:

„Aus diesem solchen Teufelskreis auszubrechen fällt außerordentlich schwer, weil das »Ego«

auch tiefsitzende Lebensängste, die ins Unbewusste verdrängt wurden, kompensieren möchte, was allerdings nur schwer gelingt. Die Abspaltung durch Verleugnung, Projektion, Verkehrung ins Gegenteil und Kontrolle sind genau jene Mechanismen, die genau die »Ego«-Bildung fördern. So entstehen in der Psyche unerlöste Anteile.“

Die so verdrängten

· Anlagen des Menschen,

· Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Realität bzw. zur Konstruktion (s)einer Wirklichkeit,

· Emotionen und Gefühle

konstituieren Jung (2015, S. 55) zufolge das, was dieser das „persönlich Unbewusste“ nennt – und welches diesem in seiner Auseinandersetzung mit dem Unbekannten unmittelbar wiederbegegnet. Dies gilt ebenso für die auf das Unterbewusstsein „aufbauend integrierten“ (durch „Lernen I bis II“) erzeugten Ähnlichkeiten und Widersprüchlichkeiten in der bewusst erzeugten Wahrnehmung von den Formen der Welt (vgl. Stangl 2016b). Ist der Mensch im Stande, dies „zu sehen“ und „zu ertragen“, so hat er das Vermögen aufgebracht den Vorgang des Verdrängens wieder rückgängig zu machen – und sich seinem „Selbst“ zuzuwenden (Jung 2015, S. 55). Darin scheint jenes Bedeutungsvolle Rätsel zu liegen, dem alleinig Wittgenstein (2013, S. 107-110) „Wert“ zugesteht:

„Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert […]. Die Lösung des Rätsels des Lebens liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Jenes Rätsel „löst“ Jung (2015, S. 55) im Begriff des „Archetypus“ „auf“, das dieser als „unumgängliches Korrelat“ bezeichnet, aus welchem sich das „individuell“ Bewusste ausformt bzw. aus welchem das menschliche Bewusstsein hervorgeht. Sie sind „Erlebniskomplexe“, die „allen Menschen auf der Erde gemeinsam sind […]. Sie bestehen seit der Existenz des Bewusstseins“ (Stangl 2016b): „Im weitesten Sinn

kann man unter einem Archetypen jedes statische Muster und Gebilde sowie jedes dynamische Geschehen in der Psyche bezeichnen, das transindividuell ist und universelle Eigenschaften hat“ (Grof 2006, S. 164). Der Archetypus, wird von Jung (2016b, S. 43) auch als (Ausdruck einer) „sprachliche(n) Matrize“ bezeichnet, aus welcher sich des Menschen Auseinandersetzung mit den Formen der Welt bzw. der Sinn seines Mensch-Sein, in einem gemeinsam In-der-Sprache-Sein ableitet (vgl. Jung 2015, S. 43). Stangl (2016b) hierzu:

„Archetypen existieren, weil sowohl physisch, als auch psychisch in der Struktur des Menschen feste Gesetze bestehen, denen alle Menschen gehorchen. Blickt man zurück in die

Vergangenheit, so wird man feststellen, dass sich alle Menschen zu allen Zeiten immer mit einer gleichen Basis von Problemen beschäftigen: Dem Verhältnis zu den Naturmächten, dem Umgang mit Trieben und anderen Grundbedürfnissen, dem Problem von Gut und Böse, der Beziehung zwischen den Geschlechtern, den Problemen verschiedener Lebensalter, dem Umgang mit Unglück und Tod, der Beziehung zum Transpersonalen und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Jede Gesellschaft und jeder Mensch sieht sich mit diesen archetypischen Problemen konfrontiert. Wenn man in solch einer Problematik verstrickt ist, so wird man nicht nur feststellen, dass die Problematik alt ist, sondern auch die Lösung Generationen vorher immer die Gleichen waren.“

Als solches beschreibt Jung (2015, S. 55) den Archetypus als „kollektives Unbewusstes“ – als einen „Teil der Psyche, der von einem persönlich Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist.“ Auf diese Weise wirkt der Archetypus als allgegenwärtiger Erlebniskomplex mit inhärentem Ziel „lange vor jeder

Bewusstwerdung und ungeachtet jeden Grades von Bewusstheit“ (Ebd., S. 57). Bedeutung für das Lernen und dem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen ist demnach dessen Integration in das individuelle Bewusstsein, wodurch das persönlich Unbewusste (verdrängte Anlagen, Verhaltensweisen, Gefühle etc.) mit dem kollektiv Unbewussten (den Archetypen) „zur Übereinstimmung“ gelangt (Duden 2002, S. 178).

6.3.8 Individuation: Selbstbestimmtes Handeln durch den Verstand und die Vernunft

Eine solche »Individuation«91 beschreibt Jung (2015, S. 52) als „natürlichen Ablauf eines Lebens, in welchem das Individuum zu dem wird, was es immer schon war.“ Es bedeutet ein Erkennen, das sich im Tun des Menschen bedingt:

„Da nun der Kulturmensch eine große Dissozibialität besitzt und von ihr beständig Gebrauch macht, um sich allen möglichen Risiken zu entziehen, so steht ganz und gar nicht von vornherein fest, dass eine Erkenntnis etwa von entsprechenden Tun gefolgt wäre. Man muss im Gegenteil mit einer ausgesprochenen Wirkungslosigkeit der Erkenntnis rechnen […], auch bedeutet sie keine sittliche Macht an sich. In solchen Fällen wird dann klar, wie sehr die Neurosenheilung ein moralisches Problem ist“ (Jung 2015, S. 52).

Jung (2015, S. 52-53) schreibt hierzu: „Da die Archetypen relativ autonom sind […] können sie nicht einfach rational integriert werden, sondern verlangen ein dialektisches Verfahren, das heißt eine eigentliche Auseinandersetzung, die […] häufig in Dialogform durchgeführt wird“ – „als inneres Zwiegespräch“: Das Selbst-Verstehen im Sinne von „Lernen III“ erfordert dementsprechend eine Integration des Erfahrenen in den Ebenen „Lernen null bis II“, um zu Erkenntnis und Wissen zu werden (Kap. 6.1). Dies ist äquivalent Voraussetzung dafür, dass das Telos des Menschen, dessen Seins-Zustand entspricht (Kap. 5.5). Ein solches Ziel bedingt sich alleinig in der Tatsache, dass der Mensch Mensch ist und sich als Mensch versteht bzw.

91 aus dem lat. individuare, „sich unteilbar/untrennbar machen“

erlebt: Der Telos oder (in diesem Fall exakter) das Ziel des Menschen formt sich in der Transzendenz zum

„Selbst“– Jung (2015) zufolge im Phänomen des kollektiv Unbewussten, in einer Auseinandersetzung des

„Ich“ mit dem Erlebniskomplex der Archetypen. „Erst diese schwere Arbeit lässt in zunehmenden Maße erkennen“, so Jung (2015, S. 41):

„Gerade das zunächst Unerwartete, das beängstigend Chaotische enthüllt tiefen Sinn. Und je mehr dieser Sinn erkannt wird […], entstehen allmählich Dämme gegen die Flut des Chaos;

denn das Sinnlose scheidet sich vom Sinnlosen, und dadurch, dass Sinn und Unsinn nicht mehr identisch sind, wird die Kraft des Chaos durch die Entnahme von Sinn und Unsinn geschwächt und der Sinn mit der Kraft des Sinnes und der Unsinn mit der Kraft des Unsinnes ausgestattet.

Damit entsteht ein neuer Kosmos. Damit ist nicht etwa eine neue Entdeckung der medizinischen Psychologie gemeint, sondern die uralte Wahrheit, dass aus der Fülle der Lebenserfahrungen jene Lehre hervorgeht, die der Vater dem Sohne übergibt.“

Das Symbol erscheint, in einem solchen Prozess des Lernens auf der Ebene „Lernen III“ als „die bestmöglichste Repräsentation von etwas, was zu einer anderen Bewusstseinsebene gehört“ und sich prinzipiell „nicht anders ausdrücken lässt“ (Grof 2006, S. 268) – „wo das Bewusstsein noch nicht dachte, sondern wahrnahm“ (Jung 2015, S. 43). Die Sprache, welches das Symbol „beheimatet“ erscheint in diesem Zusammenhang als jene Ausformung, welche aus dem unumgänglichen Korrelat des kollektiven

Unbewussten hervorgeht und das individuelle Bewusstsein im Jetzt ausformt. Die Möglichkeit zu Veränderung der Bedeutung des Symbols, welches sich aus einem In-der-Sprache-Sein des „Ich“

konstituiert, entsteht Stangl (2016b) zufolge immer dann, wenn das Unterbewusste „nach außen“

durchbricht und die Kontinuität des „Ich“-Bewusstseins unterbricht. Jung (2015, S. 42) beschreibt dies als

„Moment des Zusammenbruchs“ des „Ich“-Bewusstsein, der „ein nicht künstlich gewollter, sondern ein natürlich erzwungener Verzicht auf eigenes Können“ 92 des „Ich“ beinhält und bedeutet.

Das „Ich“ des Menschen findet sich so durch „Lernen III“ im „Selbst“ wieder und vermag durch Prozesse des Differenzierens, des Regulierens und des Integrierens Veränderung in den Ebenen „Lernen null bis II“

herbeiführen (vgl. Walch 2011, S. 89). Der Verstand bedingt sich darin in der Aufgabe durch Erfahrung und logisches Denken von „Ego“ und „Ich“ zu unterscheiden und sich dadurch in das „Selbst“ zu transzendieren – und in Folge, das in „Lernen III“ erlebte „Selbst“, zu integrieren. Dies bedeutet (bezugnehmend auf Kap.

6.1.4 „Lernen III“) eine bewusste Entscheidung – ein Entschluss zu lieben, der für das vermeintlich „Andere“

bzw. das „Selbst“ einen Daseinsraum öffnet. Ein solches Tun des Menschen bedingt sich in der Eigenschaft einer „Ich“-Stabilität des Menschen, welche Stangl (2016b) die Funktion der Abgrenzung, der Ausschließung und der Unterscheidung zuschreibt. Dies ist Zugleich auch ein Akt der Vernunft, der neben der Einsicht und der Erkenntnis durch den Verstand, sinnvolles Verhalten und Handeln ermöglicht, das „übergeordneten Prinzipien“ folgt (Duden 2002, S. 433)93. Dies bedingt sich in der Eigenschaft der „Ich“-Flexibilität des Menschen, welche für „die Offenheit gegenüber neuen Einflüssen verantwortlich“ ist (Stangl 2016b).

Veränderung auf den Ebenen „Lernen null bis III“ macht dementsprechend ein starkes „Ich“ „dringend erforderlich“, so Walch (2011, S. 107). Hingegen aber kann eine Überstabilität des „Ich“ zu Verkrampfung und zu Starre bzw. eine Überflexibilität des „Ich“ zu dessen Desorientierung und zu Auflösung führen (Stangl 2016b; Kap. 6.1.6). In einem solchen Prozess ist der Mensch immer gefordert „aufrichtig“ sich selbst „zu erforschen“ und sich selbst „radikal zu hinterfragen“ (Walch 2011, S. 107; siehe auch „Vorwort“). Dies

92 Anm.: „gleichsam eines freiwilligen Todes“ (Jung 2015, S. 41)

93 Anm.: Findet der Mensch sich nicht in der Vernunft wieder, bedeutet dies für ihn Abgrenzung, Ausschließung und Unterscheidung zu den Formen der Welt und zu seinem „Selbst“. Dies impliziert den Wunsch die gegenwärtige Empfindung oder das gegenwärtige Ereignis zu vermeiden.

erfordert die von Goleman (2011, S. 69) postulierte Achtsamkeit und im Sinne von Kant (vgl. 1784, S. 481) Mut – was auf immer neue bzw. selbstähnliche Weise Daseinsräume öffnet, den Menschen fordert und fördert, sich für die Liebe zu entscheiden (vgl. von Foerster 2014, S. 319) – und so dem „Selbst“ bzw. der Welt (Da-)Sein ermöglicht (vgl. Maturana et al. 2012, S. 266).

Das selbstbestimmte Handeln durch den Verstand und die Vernunft findet so oftmals im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den für den Menschen unangenehm empfundenen Reizen und Ereignissen statt.

Ihr Ursprung liegt zum Einen im Unbewussten und kann in Form von Unbehagen (Prä-Emotion) bzw. Angst, Ärger und Traurigkeit (Basisemotion) wahrgenommen werden. Desweiteren können unangenehm

empfundene Reize und Ereignisse ihren Ursprung auch in kausalen Prozessen des Bewusstseins haben, welche direkt oder indirekt als Ausdruck von primären (Beklemmung, Verärgerung, Frustration,

Enttäuschung etc.) und sekundären kognitiven Emotionen (Scham, Eifersucht, Neid, Zorn, Verachtung, Trauer etc.) empfunden werden können.

Emotionen und Gefühle bedingen sich dabei in den Prozessen der beiden Wertesysteme des Menschen: das emotional unbewusste limbische System und das kausal bewusste thalamokortikale System. Im Umgang mit unangenehm empfundenen Reizen und Ereignissen sind die durch thalamokortikale Areale des Gehirns erzeugten Attributionen bzw. Verstandesvorstellungen von Bedeutung – in ihnen entscheidet sich, auf welche Weise sich der Mensch in einem Reiz bzw. einem Ereignis wiederfinden möchte, die dessen unmittelbaren Verstandes-Bedürfnissen wiedersprechen – ob der Mensch nun einen Daseinsraum öffnet oder sich dem vermeintlich Unangenehmen verschließt. Eine Entscheidung hierfür wird vor allem im orbitofrontalen Kortex getroffen, welcher der Vernunft zugeschrieben wird. Dieser trifft nämlich auf Basis von Erfahrung mit ähnlichen Situationen (Wissen aus „Lernen I und II“) eine „Wahlreaktion“ zwischen den Reaktionsmöglichkeiten der Annäherung, der Vermeidung und des Aufschubs gegenüber einem Reiz bzw.

einem Ereignis (Birbaumer et al. 2006, S. 702). Dies ist wiederum Voraussetzung dafür, dass das persönlich bzw. kollektiv Unbewusste sichtbar und unmittelbarer Inhalt einer bewussten Auseinandersetzung werden kann: Das bewusste Wertesystem des Menschen wendet sich so auf sich selber und das unbewusst

emotionale Wertesystem an – und differenziert sich auf diese Weise rekursiv aus. Der Verstand des

Menschen determiniert in einem solchen Prozess das Ziel und vermag durch Unterscheidung auszuschließen – sich abzugrenzen von dem „Nicht-Ziel“ und so Entscheiden: Das Ziel des Menschen wendet sich so ebenso auf sich selbst an und bedingt sich jedoch alleinig darin „stabil“ zu bleiben – sich zu erfüllen. Dieses Ziel konstituiert sich vor allem in den neuronalen Prozessen des medialen Präfrontalkortex des Menschen (welcher dem Verstand zugeschrieben wird). Er konvergiert auf hemmende Zellen in die lateralen Amygdala und ermöglicht so konditionierendes Verhalten aus „Lernen null bis II“ zu löschen (Ebd.). Dies beschreibt Birbaumer et al. (2006, S. 701-702) am Beispiel des Fluchtverhaltens gegenüber einem emotionalen Reiz, wie er bereits entsprechend der Abbildung 22 veranschaulicht wurde: Die Schlange vermag so nicht mehr eine Emotions- und Fluchtreaktion auslzuösen, weil der Mensch sich bewusst gegen ein konditioniertes Verhalten entscheiden und neu lernen kann, wie er sich gegenüber unangenehm empfundenen Reizen oder einem unangenehmen Ereignis verhalten möchte.

Auf diese Weise Verändert der Mensch durch seine Vernunft und seinen Verstand nicht nur seine bewussten kortikalen Prozesse – das „Ich“ – auf direkte Weise, sondern verändert vielmehr auch das ihn unbewusst Konstituierende – und somit das „Ich“ auf indirektem Weg. Der Mensch greift so durch „Lernen III“ auf seine Persönlichkeitsstruktur zu, die ihn organisieren lässt und vermag sie in einer integrierenden

Auseinandersetzung durch „Lernen null bis II“ (Individuation) zu verändern94. Durch den Entschluss des „Ich“

sich einem vermeintlich unangenehmen Reiz bzw. Ereignis anzunähern und diesen bzw. dieses nicht zu vermeiden oder die Begegnung aufzuschieben, besitzt der Mensch das Vermögen durch das „Selbst“

determiniert und „Ich“-bestimmt selbst zu entscheiden. Ausdruck findet dies in einer entsprechenden intellektuellen Intelligenz, der emotionellen Intelligenz und der spirituellen Intelligenz des Menschen (Scharmer 2003, S. 468; Kap. 6.2.7).

6.3.9 …habe Mut dich deiner eigenen Gefühle zu bedienen!

Ein solches Lernen auf Ebene „Lernen III“ impliziert eine nichttriviale Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst bzw. dem was ihm begegnet: dem für das „Ich“ Unbekannte – einem Ziel zweiter Ordnung (Kap.

6.2.7), welches Bezugssystem für die neuronalen Prozesse des „Ichs“ ist und so für dieses Bewusstsein konstituiert. Die Hypothese der somatischen Marker beschreibt dieses (veränderliche) Bezugssystem, aus welches sich die allgegenwärtige Subjektivität (Kap. 2.5) als Phänomen der Intuition95 (Kap. 6.2.7)

konstruiert – in der Beziehung von „Wirklichem“ (die Wirklichkeit des Menschen) und „Möglichem“ (die Realität), wo „das Wirkliche dem Möglichen untergeordnet“ wird (Piaget 1977, S. 238). Somatische Marker ermöglichen dabei ein „Fühlen durch Denken“, indem der Mensch sich diese als „intuitive“

Möglichkeitsräume vor-stellt bzw. kreiert96: Diese sind mit konkreten im Körper abgespeicherten emotionalen Empfindungen markiert und erzeugen so, über Narrationen eingebaute Emotionen – ein Gefühl. Durch Achtsamkeit, so Goleman (2011, S. 68-69), vermag der Mensch diese im Körper

wahrzunehmen:

„Von diesen Gefühlen und Empfindungen ist durch Lernen eine Verbindung zur Vorhersage künftiger Ergebnisse bestimmter Szenarien hergestellt worden. Wenn sich ein negativer somatischer Marker in Juxtaposition zu einem bestimmten zukünftigen Ergebnis befindet, wirkt diese Zusammenstellung wie eine Alarmglocke. Befindet sich dagegen ein positiver somatischer Marker in Juxtaposition, wird er zu einem Startsignal“ (Damásio 1997, S. 238).

Dem fügt Stangl (2016) hinzu:

„Sie helfen uns, indem sie die Vorentscheidung treffen und uns, ohne dass es uns bewusst würde, in eine bestimmte Richtung drängen, vor Dingen warnen, mit denen wir schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht haben, oder die Aufmerksamkeit auf etwas Wichtiges lenken.“97

Dementsprechend können Emotionen und Gefühle Grundlage für Unterscheidung und Entscheidung sein.

Voraussetzung für ein bewusstes Unterscheiden und Entscheiden ist die bereits erwähnte Fähigkeit zur Achtsamkeit des Menschen – „ein Bewusstsein, das sich nicht von Emotionen fortreißen lässt, das auf

94 Bezugnehmend auf Kap. 2.3 bedeutet dies: Die zirkuläre Organisation des „Ich“ besitzt die Fähigkeit die Struktur und somit die Funktionalität des Menschen zu verändern.

95 Der Duden (2002, S. 190) beschreibt die Intuition als „das unmittelbare und ganzheitliche Erkennen oder Erfahren von realen Sachverhalten, das Erkenntnisse einleiten oder begleiten kann. Im Gegensatz zu der durch Beweis, Erklärung und/ oder Definition vermittelten diskursiven Erkenntnis ist das intuitive Denken einfalls-oder eingebungsartig, das schlagartig Sachverhalte klärt, Zusammenhänge aufdeckt oder Lösungswege zeigt.“

96 Eine solche gedankliche Antizipation von Möglichkeitsräumen, bedingt sich Birbaumer et al. (2006, S. 696) zu folge, vor allem in den frontalen und linguistischen Funktionen des Gehirns. Die Fähigkeit hierzu ist beim Menschen in einem besonders hohen Maß ausgebildet. Dies hängt mit den weit entwickelten „engen anatomischen und physiologischen Verbindungen zwischen limbischen, thalamischen, hypothalamischen und kortikalen Regionen“ zusammen (Ebd.).

97 Stangl (2016) schreibt hierzu weiter: „Auf diesem Weg beeinflussen sie eben auch das abstrakte Räsonieren, das wir als gefühlsneutral erleben.“

Wahrgenommenes nicht überreagiert und es nicht noch verstärkt. Sie ist vielmehr eine neutrale Einstellung, die auch in turbulenten Situationen die Selbstreflexion bewahrt“ (Goleman 2011, S. 68).

Im Mittelpunkt jener turbulenten Situationen der Selbstreflexion, steht das beobachtende „Ich“, als bewusstes Phänomen, welches sich in den unbewussten Arealen des limbischen Systems bedingt. Als solches blickt es in einen „Spiegel“ und sieht „allerdings zunächst sein eigenes Bild“ (Jung, 2015, S. 26). In

„Archetypen“ von Carl Gustav Jung (2015, S. 26-27) heißt es hierzu:

„Wer zu sich selbst geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.

Dies ist die erste Mutprobe auf dem inneren Wege, eine Probe, die genügt, um die meisten abzuschrecken, denn die Begegnung mit sich selber gehört zu den unangenehmen Dingen, denen man entgeht, solange man alles Negative auf die Umgebung projizieren kann.“

Das mutige „Ich“ kann sich in diesem Sinn zu einem „Abstieg in die Tiefe“ entscheiden (die „dem Aufstieg immer voranzugehen“ scheint) – in das limbische System des Menschen (Ebd.). „Je tiefer“ ein solcher

„Prozess der Selbsterforschung dringt, desto stärker kann das Element des emotionalen und körperlichen Schmerzes werden. Er kann einen so extremen Grad erreichen, dass die betreffende Person der Meinung ist, sie habe die Grenzen des individuellen Leidens überschritten und verspüre nun den Schmerz einer ganzen Gruppe von Menschen, der gesamten Menschheit oder gar allen Lebens überhaupt“ (Grof 2006, S. 25). „In dieser Tiefe droht Gefahr“, so Jung (2015, S. 27), „die der Kluge vermeidet, womit er aber auch das Gut verscherzt, das ein mutiges aber unkluges Wagnis erbringen könnte.“

6.3.10 Mechanismen des „Ich“ und des „Ego“ im Kontext von Angst, Furcht, Wut, Trauer, Stress