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8 Nachhaltige Organisationsformen in der Praxis: Pioniere unserer kollektiven Zukunft

8.1 Das integral evolutionäre Bewusstsein

Das (zuvor beschriebene) postmoderne pluralistische Paradigma bietet prinzipielle und konkrete Möglichkeiten einer evolutionären Onto- und Phylogenese des menschlichen Bewusstseins durch

Lernprozesse auf den Ebenen „Lernen III und IV“. Eine immanente rekursive und nachhaltige Entwicklung ermöglicht Laloux (2015) zufolge jedoch erst ein „integral evolutionäre Bewusstsein“ (Anhang 11.3). Die Erforschung des integral evolutionären Bewusstseins welches mit „der nächsten Stufe der [gegenwärtigen]

menschlichen Entwicklung einhergeht“, ist der Mittelpunkt Laloux’s (2015, S. 57-58) Auseinandersetzung mit Organisationsformen sozialer Netzwerke. Die von ihm untersuchten Unternehmen, gemeinnützigen

Organisationen etc. 118 unterscheiden sich im Tätigkeitsbereich, sowie in der Größenordnung und sind auf der ganzen Welt verteilt. Bedingung für die Aufnahme in die über zwei Jahre andauernden empirische Studie war, dass diese als zukunftsweisende evolutionäre Organisationen sichtbar sind und „seit mindestens fünf Jahren nach [dem entsprechenden] Strukturen, Prozessen, Praktiken und Kulturen arbeiteten“ (Ebd., S.

59 und 7).

Die aus der empirischen Forschung konzipierte Vorstellung des integrale evolutionären Paradigmas als gegenwärtig nächste Stufe der menschlichen Entwicklung zeichnet sich durch drei bedeutende

Charakterzüge aus, welche Laloux (2015, S. 54-55) wie folgt beschreibt:

· Selbstführung: So funktionieren integral evolutionäre Organisationen „vollständig ohne Hierarchie (und auch ohne Konsens). Sie haben den Schlüssel gefunden, um die Funktionsweisen von komplexen adaptiven Systemen, wie man sie in der Natur kennt, auf Organisationen zu übertragen. Dies erweist sich in der Praxis der altbekannten hierarchischen Pyramide um ein Vielfaches überlegen.“

Organisationen wachsen und verändern sich „organisch“ als Netzwerk „flexibler Beziehungen und Vereinbarungen, die Menschen nutzen, um ihre Arbeit zu tun“ (Ebd., S. 117).

· Ganzheit: Den Organisationen ist es gelungen, Praktiken zu entwickeln, „die dabei unterstützen, unsere innere Ganzheit wiederzuerlangen und unser vollständiges Selbst in die Arbeit einzubringen.“

Es finden regelmäßige Gemeinschaftsbildungsprozesse statt und es gibt diverse Formate Konflikte zu lösen. Die Integrität eines Menschen ist „intrinsischer Maßstab“ dafür, welches Handeln „richtig“

ist (Ebd., S.192).

· Evolutionärer Sinn: Integral evolutionäre Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „aus sich selbst heraus lebendig sind und eine Richtung entwickeln. Statt die Zukunft vorherzusagen und

118Es handelt sich dabei um:

· AES (Applied Energy Services): Internationales gewinnorientiertes Unternehmen für Energieproduktion und – verteilung mit 40.000 Mitarbeiter.

· BSO/Origin: In 20 Länder tätiges gewinnorientiertes IT-Beratungsunternehmen mit 10.000 Mitarbeiter118.

· Buurtzorg: Gemeinnützige Organisation für ambulante Krankenpflege mit 7.000 Mitarbeiter. Bietet häusliche Pflege für alte und kranke Menschen

· ESBZ (Evangelische Schule Berlin Zentrum): Öffentlich finanzierte gemeinnützige Schule (7. bis 12. Klasse) mit 1.500 Schüler, Mitarbeiter und Eltern. Die Schule zeichnet sich durch ein innovatives Cirriculum und

Organisationsmodell aus.

· FAVI (Fonderie et Ateliers du Vimeu): Gewinnorientiertes Metallverarbeitungsunternehmen mit 500 Mitarbeiter.

· Kliniken Heiligenfeld: Umfasst vier Kliniken für psychische und psychosomatische Erkrankungen, sowie eine Klinik für orthopädische, internistische und onkologische Rehabilitation. Die Kliniken Heiligenfeld sind gewinnorientiert und umfasst 600 Mitarbeiter.

· Morning Star: Gewinnorientiertes Unternehmen mit 400 bis 2.400 Mitarbeiter das den größten Marktanteil an der Verarbeitung und dem Transport von Tomaten in den USA hält.

· Patagonia: Gewinnorientierter Funktionskleidungshersteller mit 1.350 Mitarbeiter.

· RHD (Resources for Human Development): Gemeinnütziges Unternehmen im Gesundheitswesen und Sozialbereich mit 4.000 Mitarbeiter. Es stellt Unterkunftsmöglichkeiten, Wohnheime für Menschen mit geistiger Behinderung, Suchterkrankungen und Obdachlosigkeit zur Verfügung.

· Sounds True: Gewinnorientiertes Unternehmen mit 90 Mitarbeiter. Verbreitet bzw. Verkauft Audioaufnahmen, Hörbücher und Musik von spirituellen Lehrern; bietet zudem Online Kurse an.

· Sun Hydraulics: Internationales gewinnorientiertes, an der Börse notiertes Unternehmen mit 900 Mitarbeiter, das Hydraulikteile herstellt.

zu kontrollieren, werden die Mitglieder der Organisation eingeladen, zuzuhören und zu verstehen, was die Organisation werden will und welchen Sinn sie dienen möchte.“

„Integrale Evolution“ bedeutet in jenem Paradigma Selbstverwirklichung – durch die Transzendenz des „Ich“

in das „Selbst“: einem individuellen „Lernen III“ und kollektiven „Lernen IV“. Dies impliziert ein Wissen des Menschen und der Menschheit darüber, dass es „eine Evolution des Bewusstseins gibt und dass sich diese Evolution in Richtung zunehmend komplexerer und verfeinerter Verhaltens- und Beziehungsformen in der Welt ausdrückt“ (Ebd., S. 43). Dies bedeutet zugleich eine konkrete Auseinandersetzung mit den trennenden Aspekten und den destruktiven Mechanismen des „Egos“ – und in Folge eine Befreiung vom „Ego“: Im integralen evolutionären Paradigmas findet sich der Mensch in einer Beobachtung zweiter Ordnung wieder und ist fähig, sich nachhaltig in der Auseinandersetzung mit dem Leben zu verändern bzw. zu lernen. Der Mensch kann seine Ängste, Wut und Trauer bzw. seine vermeintlichen Ziele mit Distanz betrachten – (das Andere bzw. die Umwelt) annehmen und sich im „Jetzt“ den nichttrivialen Aspekten des Lebens

anvertrauen. Laloux (2015, S. 44) beschreibt dabei das Vertrauen als bedeutende Größe, die Zugehörigkeit und Harmonie ermöglicht und die Machtausübung des tribal impulsiven Paradigmas, den

Konformitätsdrang des traditionell konformistischen Paradigmas, wie auch das „unumstößliche“

Leistungsprinzip des modernen Leistungsorientierten Paradigmas nachhaltig auszuschließen vermag:

„In der integralen evolutionären Perspektive wechseln wir von äußeren zu inneren Maßstäben für unsere Entscheidungsfindung […]. Wir entwickeln eine Sensibilität für Situationen, in denen etwas falsch zu laufen scheint und die uns dazu auffordern, aus einem Gefühl der Integrität und Authentizität etwas zu sagen und zu handeln – auch angesichts von gegenteiligen Meinungen und scheinbar geringen Erfolgsaussichten.“

Das Lernen und Leben des Menschen wird als „Reise“ in das „Unbekannte“ sichtbar, wo die innere

Stimmigkeit – das Fühlen des Menschen – der Kompass zur „Selbstentfaltung“ ist: „Das letztendliche Ziel im Leben besteht nicht darin, erfolgreich oder geliebt zu sein, sondern der Wahrhaftigste Ausdruck des tiefsten Selbst zu werden“ (Ebd., S. 45). Jener Ausdruck ist Ergebnis von Lernprozessen auf der Ebene „Lernen III“

und beschreibt zugleich jene beiden Typ-Möglichkeiten eines Menschen, wie sie Bateson (1994, S. 395) schildert (siehe Kap. 6.1.6):

· Dem unbestechlich Unschuldigen, dem sich die Welt in ihrer Einfachheit offenbart.

· Dem Menschen, wo sich Gegensätze – die Dualität der Welt in dessen Identität auflöst.

Die Weisheit des Menschen konstituiert sich dabei aus dem Unterscheidungs- und Entscheidungsvermögen seines „Ichs“, welches sich durch diese im Unbewussten bzw. in der Irrationalität – der

Transzendenzfähigkeit zum „Selbst“ (rekursiv) wieder-findet. Ein kollektives integrales evolutionäres Bewusstsein ist somit die Voraussetzungen für ein Lernen in der Ebene „Lernen IV“. Dies wird deswegen möglich, da durch „Lernen III“ eine Identifikation mit dem „Ego“ überwunden wird, was zugleich eine Überwindung der Idee vom Getrennt-Sein (vom Anderen bzw. von der Umwelt) beschreibt. Laloux (2015, S.

48) schreibt hierzu:

„Menschen die aus dieser Stufe leben, entwickeln oft ein feines Gespür dafür, wie sehr wir der Trennung erlaubt haben, unser Leben zu fragmentieren und welchen hohen Preis wir dafür zahlen.“

Aus diesem Grund macht sich in jener Bewusstseinsstufe ein tiefes Bedürfnis nach Ganzheit bemerkbar, die zu einer Zusammenführung der von Buber (1982) beschrieben dynamischen Zweiheit führen kann und

zugleich dem Menschen dessen Beziehungsmöglichkeiten und –fülle offenbart (Kap. 7.1). Dies führt zu der von Jung (2015, S. 52) beschriebenen Individuation – einer Integration des Verdrängten (das persönlich Unbewusste) und sich Aufdrängenden (das kollektiv Unbewusste – die Archetypen). Die Ganzheit entdeckt der Lernende so in sich selbst (dem „Selbst“) bzw. seiner Umwelt (seinen Mitmenschen, der Natur, anderen Gedanken etc.) – eine Bedingung zur nachhaltigen Entwicklung. Das Denken in Paradoxien beschreibt Laloux (2015, S. 48) zufolge als einen entscheidenden Durchbruch, in der das „einfache Entweder-oder-Denken durch das komplexere Sowohl-als-auch-Denken“ transzendiert wird119. Auf diese Weise erschließt sich Weisheit bzw. eine holistische Form des Wissens120.

Dies geschieht demnach nicht im Kontext einer empfundenen moralischen Verpflichtung (welche, weil ja trivial, wiederum Trennung bedeuten würde), sondern vielmehr aus einem inneren Gewahrsein – einer Selbstverständlichkeit heraus, wie sie durch Lernprozesse auf der Ebene eines „Lernen III“ (und der Integration der Erfahrung durch Lernen in den Ebenen „Lernen null bis II“) entstehen. Die im Folgenden (Kap. 8.2 und Kap. 8.3) erläuterten praktischen Fallbeispiele der Nachhaltigkeit als Ergebnis von Lernen in den Ebenen „Lernen null bis IV“ beschreiben in vielen Aspekten das von Laloux (2015) beschriebene integral evolutionäre Paradigma.