• Keine Ergebnisse gefunden

Der Mensch erscheint in der kybernetischen Betrachtung als Beobachter, der anhand seines

Zustandekommens – seiner Struktur und autopoietischen Organisiertheit wahrnimmt und auf Basis dessen subjektiv Realität in seiner Wirklichkeit rekonstruiert. Das Wirklichkeitsbild ist dabei jene Welt, in der und durch die sich der Mensch (in Interaktion mit seiner Umwelt) erlebt bzw. beobachtet und lernt. Dieses Kapitel setzt sich mit diesem Aspekt – dem Zustandekommen der Wirklichkeit und das Zustandekommen des Verhaltens des Menschen auseinander. Hierfür wird in Kap. 3.1 bis Kap. 3.3 auf die Kognitive

Neurowissenschaft Bezug genommen. In Kap. 3.4 wird vorgeschlagen, nach welchen „Spielregeln“ bzw.

ausgehend von welchen Präsumtionen Realität entsprechend eines kybernetischen Bewusstseins erdacht bzw. rekonstruiert werden kann. Zudem wird gezeigt, inwiefern der Mensch (ausgehend von dem sich daraus formenden Wirklichkeitsbild) mit dem Phänomen der Komplexität in seiner (Um)welt konfrontiert ist. Kap. 3.5 befasst sich mit der Idee von der (Um)welt. Kap. 3.6 geht näher auf die Entstehung von Komplexität, die damit einhergehende Unsicherheit für den Menschen in seiner Beobachtung und dessen Auflösung ein.

3.1 Die Nervenzelle

„Lebende Systeme sind kognitive Systeme, und Leben als Prozess ist ein Prozess der Kognition“, so Roth (1988, S. 13). Der Mensch kann als solches System beschrieben werden. Konkret bedeutet dies: Über das Nervensystem ist der Mensch in der Lage seine Umwelt und die Vorgänge in ihm als Signal wahrzunehmen, diese in Bezug zueinander zu setzen, mit Signalen der Vergangenheit zu vergleichen und auf Basis dessen Reaktion zu gestalten. Das geschieht auf Basis von Nervenzellen und Gliazellen die im Körper in einem Verbund dafür verantwortlich sind, dass Informationen aus allen Teilen des Körpers zusammengeführt und verarbeitet werden können. Ein beträchtlicher Teil der Informationen wird dabei auch außerhalb des Gehirns verarbeitet (Anderson 2007, S. 18).

Die Nervenzelle (NZ), auch Neuron genannt, ist für die Informationsverarbeitung im Körper verantwortlich und kann bzw. wird aus kybernetischer Perspektive, als logisches Organ eines Verrechnungssystems im menschlichen Körper betrachtet (vgl. Leyesdorff 2005, S. 68). Die NZ besteht einfach ausgedrückt aus einem Zellkörper, in dem sich der Zellkern befindet, einem Axon und den Dendriten (Abbildung 3). Das Verhalten der unterschiedlichen Formen der NZ ist prinzipiell identisch (Nicholls et al. 1995, S. 3): Sie leiten eine elektrische Ladung weiter oder tun es nicht – und funktionieren so als „die universellen Träger des

Austausches von Informationen“ (Ebd.). Mit Hilfe der Dendriten empfängt die NZ elektrische Ladung. Jene stammt von den Nachbarzellen, die über Axone mit Synapsen mit der NZ verbunden sind. Die Axone verbinden die NZ miteinander und leiten die elektrische Ladung über eine Länge von wenigen Millimetern bis hin zu einem Meter weiter. Synapsen sind die „Beinahe-Kontaktstellen“ zwischen den NZ. Je nach Art der Synapse wird das elektrische Signal zu einer positiven elektrischen Ladung (bei erregenden Synapsen) oder zu einem negativen elektrischen Ladung (bei hemmenden Synapsen) umgewandelt. Wird bei mehr oder weniger gleichzeitig eintreffenden Ladungen benachbarter NZ ein Spannungspotential (das sogenannte Ruhepotential) überschritten Leitet die NZ die elektrische Ladung (das Aktionspotential) über ihr Axon an Nachbar-NZ weiter und kann damit wiederum ein Signal auslösen (Anderson 2007, S. 18-20).

3.2 Das Nervensystem

Das Gehirn als Teil des menschlichen Nervensystems besitzt ungefähr 100 Milliarden NZ (Anderson 2007, S.

18). Dabei hat jede einzelne NZ eine Verarbeitungskapazität eines „kleinen Computers“. Ausgehend von jener Grundlogik der Funktion der NZ, nämlich Signale zu empfangen, zu „interpretieren“ und

gegebenenfalls weiterzuleiten, wirken diese im Verbund – dem Nervensystem, wie ein

„Hochleistungscomputer“. Das ist möglich, weil NZ im Durchschnitt 1000 synaptische Verbindungen aufweisen und zugleich über ihr Axon etwa genauso viele synaptische Verbindungen mit anderen NZ herstellen. Die Anzahl möglicher Interaktionen zwischen den NZ ist somit „mehr als nur astronomisch“

(Maturana et al. 2012, S. 173).

NZ können sich mit fast allen Zellarten im Körper verbinden. In einem Zellverband entsteht dann je nach Art der NZ und in Abhängigkeit der Verbindungen zwischen den NZ eine ganz spezifische Signalfolge.

Verrechnung finde so durch die Erregung der Synapsen von NZ statt, die in bestimmten räumlichen Beziehungen zueinander stehen (von Neumann 1991, S. 56). Im Zusammenwirken jener neuronalen Netzwerke wird Verhalten bzw. Kognition des Menschen endogen konstituiert.

Abbildung 3: Die Nervenzelle

Quelle: SFN 2010, S. 7

Drei „Funktionstypen“ von NZ sind hierfür ausschlaggebend: Sensoneuronen, Motoneuronen und

Interneuronen. Sensoneuronen wirken afferent8. Sie generieren Information aus der internen (dem Körper) und der externen (dem Milieu) Umwelt und leiten diese an das Zentralnervensystem weiter. Motoneuronen wirken efferent9. Sie steuern Skelettmuskeln, Eingeweidemuskeln und Drüsen. 1011 Interneuronen

verbinden 106 Motoneuronen und 107 Sensoneuronen miteinander (Maturana et al. 2012, S. 175). Die dazwischengeschalteten Interneuronen ermöglichen die kontinuierliche sensomotorische Korrelation im Körper des Menschen und tragen zu einer praktisch unbegrenzten Anzahl möglicher Zustände im Nervensystem bei. Ausgehend hiervon kann das System Mensch anhand seiner inneren Zustände beschrieben werden, worin das Nervensystem Strukturdeterminierend wirkt (Ebd., S. 145-148).

3.3 Wahrnehmung und Verhalten

Im Jahr 1959 erschien ein hochbeachteter Artikel mit dem Titel „What the Frog‘s Eye TeIls the Frog‘s Brain“

der Forscher Jerome Y. Lettvin, Humberto R. Maturana, Warren S. McCulloch und Walter H. Pitts. Sie untersuchten die Wahrnehmung des Gehirns von Fröschen. Der Artikel war der Ausgangspunkt für eine

„neue Theorie des Lebens“ (Krohn et al. 2005, S. 281). Lettvin et al. (1959) untersuchten die Aktivität von Nervenfasern von optischen NZ in Abhängigkeit unterschiedlicher optischer Reize denen der Frosch ausgesetzt wurde. Im Konkreten untersuchten sie vier neuronale Netzwerke, die beinahe unabhängig voneinander Informationen an das zentrale Nervensystem liefern. Sie tragen zur Erfassung von Hell-Dunkel-Kontrasten, kleinen konvexen Objekten, Bewegung und Dunkelheit bei. Dabei stellten sie fest, dass die Vorstellung von einem Objekt in der Umwelt des Frosches (bspw. einer Fliege) erst in den Nervenarealen im Gehirn des Frosches erzeugt wird: erst durch die Zusammenführung der wahrgenommenen optischen Reize entwirft der Frosch seine Wirklichkeit (Lettvin et al. 1959, S. 1949). Was das für den Frosch bedeuten mag, zeigt das Experiment von R. W. Sperry (1945), beschrieben in „Restoration of Vision After Crossing of Optic Nerves and after Transplantation of Eye“. Dabei schnitten Chirurgen Kaulquappen den Rand ihres Auges auf und verdrehten eines der beiden Augen um 180 Grad (Ebd., S. 16). Das geschah unter Narkose und ohne Verletzung des Sehnervs. Nach Auswachsen der Kaulquappen zu Fröschen fand der eigentliche Versuch statt: Den Fröschen wurde das verdrehte Auge abgedeckt und eine Fliege gezeigt, woraufhin sie ihre Zunge nach der Fliege schleuderten. Sie zielten erfolgreich und trafen die Fliege. Wird das Experiment wiederholt und die Abdeckung jedoch am verdrehten Auge abgenommen, ist das Ergebnis ein anderes. Die Frösche schleuderten ihre Zunge zwar nach ihrem Ziel – der Fliege, was aber mit einer Abweichung von 180 Grad geschah. Der Frosch war nicht in der Lage sein Ziel zu treffen (Ebd., S. 24).

Lettvin et al. (1959) und Sperry (1945) zeigten mit ihren Experimenten, dass die Wahrnehmung der Realität (bzw. die sich daraus konstituierende Wirklichkeit) und das Verhalten eines Frosches bzw. des Menschen das Ergebnis einer internen Korrelation zwischen sensorischen Reizen und motorischen Kontraktionen sind (Maturana et al. 2012, S. 138-139) – und zwischen den Ereignissen in der Umwelt und der Wirklichkeit des Beobachters keine stabile Korrelation besteht (Füllsack 2011, S. 242). Das Nervensystem erscheint demnach als geschlossenes System, dass aus „gegebenen Anlass“ in der Interaktion mit seiner Umwelt seine

Wirklichkeit entwirft (Krohn et al. 2005, S. 282). „In diesem Paradigma wird das, was als objektive Erfahrung gilt, zu einer subjektiven oder systemischen Konstruktion“, so Krohn et al. (2005, S. 282).

Der Biologie des Lebens und insbesondere dem Menschen wohnt so (analog zu Kap. 2.5), Subjektivität inne, welche sich aus dessen Körper konstituiert. Das Ergebnis ist Beobachtung, die „vermittelt“ über die Sinne und der Gedächtnisleistung eines Lebewesens bzw. des Menschen Wirklichkeit erzeugt. Dabei geht

8 aus dem lat. affere „hintragen, zuführen”

9 aus dem lat. effere „hinaustragen, hinausführen“

Maturana davon aus, dass das Nervensystem eines jeden Lebewesens so angelegt sei, „dass es sich autonom reguliere und jedes Lebewesen die Wirklichkeit selbst definiere“ (Duden 2002, S. 211).

3.4 Der Beobachter

Für den Mensch gibt es demnach keine direkte Möglichkeit zu überprüfen, ob seine Wahrnehmung von der Realität korrekt ist (Simon 2005, S. 47). Die Realität erscheint ihm vielmehr vermittelt, so Bernhard Pelz (2011) in seinem Buch „Die vermittelte Welt“. Ein „Bekenntnis“ leitet dementsprechend sein Buch ein:

„Vermittelte Welt bedeutet, dass ich glaube, keinen unmittelbaren Zugang zu dieser Welt, in der ich lebe, zu haben und auch kein unmittelbares Verständnis von dem, was die Welt mit mir macht, sondern dass ich sie aus den Phänomenen, den Erscheinungen, die ich mit all meinen Sinnen wahrnehme, rekonstruieren muss“ (Pelzl 2011, S. 17).

3.4.1 Erfahrung und Überprüfen von Erfahrung

Zu dieser Überzeugung gelangte Pelzl (2011, S. 18) in Gesprächen mit Menschen, zu denen er Vertrauen hatte und hat, vor allem aber durch mehrere Begegnungen mit Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld – „den Vätern des Konstruktivismus in seiner heutigen Fassung“10. Erfahrungen (wie diese), die zugleich Annahmen bzw. Voraussetzungen zur Beobachtung von Wirklichkeit werden, werden so zum

Ausgangspunkt einer rekursiv organisierten Beobachtung des Menschen mit Hilfe dessen er sich seine

„Konstruktion der Welt“ selbst erzeugt (Baecker 2005, S. 56).

Für den Mensch besteht die einzige Möglichkeit zu überprüfen, ob seine Annahmen und seine

Wahrnehmung in der Realität entsprechen können, darin, sich im Tun bzw. sich in seiner Beobachtung in der Realität zu erfahren bzw. darin – mit sich selber und seiner Umwelt Erfahrung zu „machen“. Der Begriff der Erfahrung erscheint dabei als ein immerwährend vom Beobachter verändertes Phänomen, das überprüft und durch sich selbst überprüft wird, ob die rekonstruierte Realität zur Orientierung und zum Handeln in der Realität funktioniert (vgl. von Foerster et al. 2014, S. 191). Jener Veränderung liegt der Prozess des Lernens zugrunde – auf Basis dessen Erfahrung immerwährend selbstreferentiell einer wahrgenommenen Realität entsprechend angepasst wird.

Aus einer sich daraus ableitbaren bzw. an- und eingenommenen radikal konstruktivistischen Perspektive bzw. Lebenseinstellung findet der Mensch so seinen ganz persönlichen Zugang zu einer mit anderen Menschen geteilten Realität – die sich in einer entsprechenden „radikal konstruktivistischen“ Ethik offenbart: nämlich gegenteilige Vorstellungen von der Realität zu akzeptieren und „die eigenen

Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen von anderen zu vergleichen, die eigenen Wahrnehmungen sowie die Ergebnisse der Vergleiche der Wahrnehmungen von anderen zu bezweifeln, sich für eine bestimmte Deutung von Wahrnehmungen zu entscheiden und danach zu leben“, so Pelzl (2011, S. 18-19)

3.4.2 Präsumtionen zur Beobachtung: Das „Outing“ des Beobachters

Ausgehend hiervon wird sichtbar, wie der radikale Konstruktivist Pelzl (2011, S. 30) seine konstruierte Wirklichkeit und die Realität zu entdecken gedenkt und beantwortet schon im Vorfeld der Darstellung

10 Anm.: Der Konstruktivismus ist ein Sammelbegriff für erkenntnistheoretische, philosophische und psychologische Positionen, welche „davon ausgehen, dass das subjektive Erleben und Erkennen der Wirklichkeit keine einfache Widerspiegelung der äußeren Realität im Bewusstsein ist. Vielmehr ist es eine durch subjektive Sichtweisen, Handlungen und Begriffe hergestellte Konstruktion. Alle Konstruktivisten sind sich einig in einer Ablehnung

philosophischer Grundannahmen, die eine unmittelbare Wirklichkeitsabbildung im Menschen behaupten, während die Auffassung über die Art der Konstruktion variiert.“ (Duden 2002, S. 210-211).

Der radikale Konstruktivismus behauptet zudem, dass „allen Lebewesen“ eine Tendenz zur Selbstorganisation innewohnt (Ebd., S. 211). Diese Auffassung vertritt bspw. der Biologe H. Maturana.

seines Selbst- bzw. Welt- und Wissenschaftsbildes, von welcher Position aus er beobachtet bzw. welche

„Spielregeln“ er hierfür als gültig erachtet: er stellt fünf Präsumtionen auf und „outet“ sich wie folgt:

1) „Es gibt die [reale] Welt, den [realen] Kosmos.

2) Doch der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zu ihr und kein unmittelbares Verständnis von ihr. Deshalb muss ihm die [Realität] vermittelt werden.

3) Ungeachtet der Unmöglichkeit der unmittelbaren Erkenntnis der [Realität] ist der Mensch Teil der [realen] Welt und damit [real] wie diese.

4) Die Vermittlung der Erkenntnis der [Realität] erfolgt in menschlichen Beziehungen.

5) Die Beziehungen sind bestimmt durch die Fähigkeit der Wahrnehmung von Phänomenen, die eigenen Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen von anderen zu vergleichen, die eigenen Wahrnehmungen sowie die Ergebnisse der Vergleiche der Wahrnehmungen von anderen zu bezweifeln, sich für eine bestimmte Deutung von Wahrnehmungen zu entscheiden und danach zu leben.“11

Pelzls (2011) Präsumtionen sind Axiome einer Rekonstruktion von Realität, an welche er nur glauben kann.

Damit teilt er die Ansicht Gordon Pasks (1961, S. 21), der in seinem Buch “An Approach to Cybernetics”

schreibt: “We take it, as a matter of belief, that the world is such and we are such that we see some order in the world [...] this must be admitted to make science possible”. Axiome erscheinen dabei als angenommene und in Folge „unverrückbare Fundamente“ auf welche Wirklichkeitsbilder aufgebaut sind. Zudem

beschreiben sie implizit den Kontext eines Bewusstseins (oder unbewusst Seins) – einer Information, die in der Kommunikation als Information „in der Information“ (oftmals unausgesprochen) vorausgesetzt wird.

3.5 Die (Um)welt des Beobachters

Die Wahrnehmung der Realität des Systems Mensch konstituiert sich

· aus der internen Korrelation von sensorischen Reizen und motorischen Kontraktion im Körper des Menschen (Kap. 3.3)

· und der darauf basierenden Rekonstruktion des Menschen der Realität auf Basis von Präsumtionen – Annahmen bzw. Voraussetzungen zur Beobachtung von Realität (Kap. 3.4).

Die erfahrbare (Um)welt des Systems Mensch existiert demnach nicht im Außen sondern nur im Innen des Systems Mensch, das in der Beobachtung einen betrachteten Teil – ein Phänomen aus der Gesamtheit der Welt durch seine Bobachtung herauslöst und sich so in seine (Um)welt aus- bzw. einschließt (Weller 2011, S.

2). Dabei ist und bleibt die Umwelt für den Beobachter prinzipiell unbekannt (Corsi 2005, S. 2020): „The environment contains no information. The environment is as it is“, so von Foerster in „Understanding Understanding” (2003, S. 189). Was der Mensch über seine Umwelt zu sagen hat „handelt von ihm selbst“,

11 In seiner Auseinandersetzung mit der Beziehung von Realität und Wirklichkeit benützt Pelzl (2011) die „umgekehrte“

Wortwahl, wie sie in dieser Arbeit verwendet wird: für Wirklichkeit Realität, und Realität Wirklichkeit. Der oben Zitierte Text wird angepasst wiedergegeben. Hier ist der Originaltext (Pelzl 2011, S. 30):

1. „Es gibt die wirkliche Welt, den wirklichen Kosmos.

2. Doch der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zu ihr und kein unmittelbares Verständnis von ihr. Deshalb muss ihm die Wirklichkeit vermittelt werden.

3. Ungeachtet der Unmöglichkeit der unmittelbaren Erkenntnis der Wirklichkeit ist der Mensch Teil der wirklichen Welt und damit wirklich wie diese.

4. Die Vermittlung der Erkenntnis der Wirklichkeit erfolgt in menschlichen Beziehungen.

5. Die Beziehungen sind bestimmt durch die Fähigkeit der Wahrnehmung von Phänomenen, die eigenen Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen von anderen zu vergleichen, die eigenen Wahrnehmungen sowie die Ergebnisse der Vergleiche der Wahrnehmungen von anderen zu bezweifeln, sich für eine bestimmte Deutung von Wahrnehmungen zu entscheiden und danach zu leben.“

so Krohn et al. (2005, S. 282): Das Selbstbild des Beobachters entspricht demnach auch dem Welt- bzw.

Wissenschaftsbild des Beobachters, wo eine Ordnung der Realität nicht auf eine „unsichtbare Hand“

zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf „die Identität“ des Menschen (Esposito 2005, S. 298). Die Umwelt erscheint aus diesem Blickwinkel solange werteneutral und unsichtbar, wie ihr der Mensch durch seine Beobachtung Bedeutung gibt.

3.6 Komplexität und Unsicherheit

Das Leben (des Menschen) konstituiert sich aus schier unendlichen Möglichkeiten des Seins bzw. Werdens und kann als „ständige Quelle von Überraschungen beschrieben werden“ (Ebd., S. 298). Der Beobachter, als der sich der Mensch in seiner (Um)welt widerfindet, kann deshalb durchaus zur Feststellung gelangen, dass das Leben komplex sei.

John H. Miller und Scott E. Page (2007) beschreiben in ihrem Buch „Complex Adaptive Systems. An Introduction to Computational Models of Social Life” die Welt als Netzwerk von Verbindungen und Interaktionen in dem sich der Mensch wiederfindet. In diesem ist er „enmeshed” und zugleich mit einer Vielzahl von Anpassungsprozessen in seiner Umwelt konfrontiert, die auf ununterbrochen stattfindenden Entscheidungen einzelner Akteure zurückzuführen sind:

„The remarkable thing about social world is how quickly such connections and change can lead to complexity. Social agents must predict and react to the actions and predictions of other agents. The various connections inherent in social systems exacerbate these actions as agents become closely coupled to one another. The result of such a system is that agent interactions become highly nonlinear, the system becomes difficult to decompose, and complexity ensues”

(Miller et al. 2007, S. 10).

Der Beobachter ist demzufolge bei Vorhersagen über die Entwicklung von beobachteten Phänomenen mit einer prinzipiellen Unvorhersehbarkeit12 und der sich daraus für den Beobachter entwickelnden Unsicherheit konfrontiert. Dessen Ursprung liegt nicht in der Realität, sonder ist vielmehr auf die Beobachtung des Beobachters zurückzuführen, der durch seine Auseinandersetzung mit seiner (Um)welt Komplexität in seiner Wirklichkeit entstehen lässt: „Uncertainty stems from ourselves and our contact with the world” (Pask 1961, S. 21). Herbert A. Simon (1996, S. 215) schreibt in seinem Buch „The Sciences of the Artificial“: „How complex or simple a structure is depends critically upon the way in which we describe it”.

Der Ursprung von Komplexität13 erscheint so als Phänomen, das der Beobachter durch die Beobachtung seiner(Um)welt erzeugt, welche er ausgehend von seinem Selbst- bzw. Welt- und Wissenschaftsbild

zusammenfasst, um mit (einem Gefühl von bzw. wegen seinem Bedürfnis nach) „Sicherheit“ entscheiden zu können. „Inhaltliche Widerstandfaktoren, die mit den Wert- und Lebensauffassungen der Rezipienten zu tun haben“ beschreibt Pelzl (2011, S. 81) als „Faktoren“, welche Komplexität entstehen lassen. Umgekehrt, kann der Beobachter seine selbst konstruierte Komplexität in seinem Bild von der Wirklichkeit dadurch

ausblenden, indem er schlichtweg Teile bzw. Aspekte davon in seiner Auseinandersetzung mit der Realität ausblendet (Füllsack 2011, S. 73) 14.

12 Kap. 5.3 wird auf den Sachverhalt der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit in der Beobachtung von Realität dezidiert eingegangen.

13 aus dem lat. complexum von complecti „umschlingen, umfassen ‚zusammenfassen“

14Füllsack (2011, S. 74) merkt hierzu an: „Wir kämen mit der Komplexität unserer Welt nicht zurande, wären wir nicht in der Lage, die gerade für uns relevanten Aspekte aus ihr zu selektieren und uns darauf - und nur darauf - zu

konzentrieren.“

Der Beobachter entscheidet sich auf diese Weise abhängig davon, welche Bedingungen zur Beobachtung für ihn relevant sind, selbstbestimmt und autonom, für sein Selbst- bzw. Welt- und Wissenschaftsbild. Diese Entscheidung trifft das beobachtende System Mensch immerwährend, was ihn dazu befähigt, in seiner (Um)welt selbstbewusst zu agieren und sich anzupassen: Der Mensch gestaltet sein Sein – seine Ontogenese bzw. Evolution indem er sich entscheidet, wie er sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen möchte und wird so in der Beobachtung seiner Umwelt immer wieder auf sich selbst – seine Welt bzw. Wirklichkeit zurückgeworfen.