• Keine Ergebnisse gefunden

Seit mindestens 5 Milliarden Jahren verändert sich das Leben auf der Erde. Francisco J. Varela und Humberto R. Maturana (2012) beschreiben in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ die dem

zugrundeliegende Onto- und Phylogenese u.a. mit den Begriffen der „Organisation“, der „Struktur“ und der

„Autopoiesis“. Mit diesen machen die Beobachter Maturana und Varela das Leben nicht nur für eine

konzeptuelle Auseinandersetzung sichtbar, sondern auch in einem sich daraus formenden Denkgebäude des kybernetischen Paradigmas nutzbar. Dieses Kapitel beschreibt, was in dieser Arbeit unter Leben und im weiteren Sinn unter dem Phänomen „Mensch“ verstanden werden soll: Miteinander interagierende Systeme, die sich auf Basis ihrer Organisation und Struktur im Rahmen ihrer Autopoiesis lernend verändern (können).

2.1 Das Leben und seine Organisation

Ein Prozess der kontinuierlichen Veränderung bzw. Transformation hat die Welt als solche entstehen lassen, wie wir sie heute kennen. Diese dauert nunmehr schon seit mindestens 5 Milliarden Jahre an: Aus einer zu Anfangs molekularen Homogenität entwickelte sich Leben, indem sich organische Moleküle anhäuften und diversifizierten. Das geschah und geschieht

· auf Basis von Kohlenstoffatomen, die eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten zur Bildung von chemischen Verbindungen mit anderen Elementen besitzen.

· im Verbund aus organischen Molekülen, die sich aus ihrem Verbund heraus selbst erzeugen, sich darin integrieren und sich zu ihrer Umgebung abgrenzen können.

Solch ein System aus miteinander in Interaktion stehenden organischen Molekülen lies und lässt Lebewesen entstehen (Maturana et al. 2012, S.

44- 47). Durch das beobachten der Interaktion organischer Moleküle – der Systemelemente des Systems – lässt sich (für den Beobachter) dessen Organisation beschreiben.

Die Forscher Francisco J. Varela und Humberto R.

(2012, S. 49) Maturana betrachten das Auffinden einer solchen Organisation als Bedingung, etwas als lebendig zu bezeichnen. Es ist eine ihrer vielen Entscheidungen als Beobachter, sich für konkrete Kriterien zur Beobachtung zu

entscheiden aus denen sie ihre Formalismen der Beobachtung ableiten4, die soweit erwähnt in dieser Arbeit übernommen werden.

4 Über die Bedeutung von Präsumtionen als Ausgangspunkt von Beobachtung wird v.a. in Kap. 3 „Die Beobachtung“

näher eingegangen.

2.2 Autopoiesis: Die Charakterisierung der Organisation eines Systems

Durch die Beobachtung der Organisation des Lebewesens wird eine Gemeinsamkeit aller Lebewesen sichtbar: sie erzeugen sich andauernd aus sich selbst heraus. Diesen Charakterzug der Zirkularität in der Organisation beschreiben Maturana et al. (1980) mit dem Begriff der Autopoiesis5. Er wurde 1980 erstmals umfassend in „Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living“ näher erläutert. Das Lebewesen erscheint darin als funktional geschlossenes System, das sich auf Basis seiner eigene Struktur und zirkulären Organisation immerwährend selbst erzeugt (Füllsack 2011, S. 230).

Es ist jenes selbstreferentielles Verhalten, dass dem Lebewesen Autonomie ermöglicht (Weiss 2005, S.244), welches sich so im Rahmen der zirkulären Organisation und Struktur selbst verwirklicht und spezifiziert (Krohn et al. 2005, S. 284): Das Produkt (seiner Organisation) ist es selber – die Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis wird aufgehoben – das Sein wird mit dem Tun des Systems ident, so Maturana et al. (2012, S.

56) in „Der Baum der Erkenntnis“.

2.3 Funktionalität und die Struktur eines Systems

Die autopoietische Organisation des Lebewesens wird erst durch die Struktur des Lebewesens ermöglicht.

Mit Struktur ist der Verbund aus Systemelementen (den organischen Molekülen) gemeint. Bedeutend ist, dass sich verschiedene Lebewesen zwar hinsichtlich ihres autopoietischen Charakters gleichen, aber unterschiedliche Strukturen – eine sich unterscheidende Funktionalität bzw. Identität aufweisen können (Ebd., S. 54-55).

Ausgehend hiervon besitzt jedes autopoietische System die Möglichkeit über seine zirkuläre Organisation seine Struktur zu verändern. Funktionalität beschreibt, dass dies (die Verwirklichung und Spezifizierung des Lebewesens) nur unter der Prämisse der Erhaltung der Einheit des Lebewesens stattfinden kann. Sie ist eine notwendige Bedingung des Systems, um die Existenz des Systems aufrechterhalten zu können (Krohn 2005, S. 283-285).

Es ist jenes Werden – ein Prozess der kontinuierlichen Transformation aller Möglichkeiten im Rahmen des Möglichen, dem jedes Lebewesen entstammt, welches sich auf eine (zufällige) Anordnung von organischen Molekülen zurückführen lässt. Das Leben erscheint darin als unbegrenzte Phänomenologie und gleichzeitig als mögliche Beobachtung des Lebens.

2.4 Ontogenese

Die Ontogenese6 beschreibt eine individuelle Veränderung bzw. Transformation eines Lebewesens. Sie entsteht durch die Veränderung der Struktur des Systems im Rahmen der Dynamik der zirkulären

Organisation des Systems. Der Auslöser hierfür ist die Interaktion mit dessen Umwelt (Abbildung 2): bspw.

einem konkreten Milieu oder anderen autopoietischen Systemen. Die Entwicklung von Leben ist aus dieser Perspektive ein interaktiver Prozess und führte beim Menschen zu einem Metazeller: einem Verbund von Zellen, der komplementär Leben konstituiert. Das Leben vollzieht sich dabei im Operieren autopoietischer Bestandteile, lässt sich aber nicht durch die Eigenschaften der Bestandteile bestimmen (Maturana et al.

2012, S. 83-93).

5 aus dem gr. autos „selbst“; poiein „machen“

6 aus dem altgr. ὀντογένεση; „das Seiende“ und „Geburt“, „Entstehung“

Abbildung 2 Interaktion von autopoietischen Systemen in einem Milieu

Quelle: Maturana et al. 2012, S. 84

Die Ontogenese gestaltet sich so auf Basis von Interaktion, welche durch die Struktur (Verbund an Systemelementen) eines jeden autopoietischen Systems determiniert ist: „Die zelluläre Einheit sieht und ordnet ihre ständigen Interaktionen mit dem Milieu immer im Sinne ihrer Struktur, welche wiederum im Zuge ihrer inneren Dynamik ebenfalls in ständigem Wandel begriffen ist“ (Ebd., S. 84). Das autopoietische System wird im Rahmen dessen alles machen, was funktioniert. Sogar seine Funktion und somit seine Struktur verändern: Es passt sich an. Die Entwicklung bzw. die Evolution des Lebens ist somit das Ergebnis der Aufrechterhaltung von Anpassung und lässt sich als natürliches strukturelles Driften in Form einer ständigen Stabilisierung und Diversifizierung von Systemen beobachten (Ebd., S. 129). Die Ontogenese eines

Lebewesens wird dabei als kollektives Phänomen sichtbar, in der sich eine Vielfalt von Arten innerhalb eines Stammes oft über hunderte Millionen Jahre durch Interaktion und in Abhängigkeit von der Umwelt

entwickeln. Die kollektive bzw. komplementäre Dimension von Veränderung eines Lebewesens wird mit dem Begriff der Phylogenese7 beschrieben.

2.5 Subjektivität: Das Leben und der Mensch

Im Mittelpunkt der Ontogenese von Leben steht somit dessen Struktur und dessen autopoietische Organisation. Leben wird in diesem Sinn dadurch sichtbar, insofern sie andauernd Struktur bzw. Identität aufbaut, so Varela (1997, S. 79) in seinem Artikel „Patterns of Life: Intertwining identity and cognition“.

Weber (2014, S. 48) knüpft hier wie folgt an:

„Ein Gebilde lebt, wenn es sich über eine längere Zeit von selbst als Ganzes erhält – auch gegen Störungen von außen. […] Leben ist keine Kaskade von Reaktionen, sondern ihr Gegenteil:

Autonomie.“

Erst die Autonomie eines Lebewesens bzw. des Menschen ermöglicht es diesem aus kybernetischer

Perspektive eine Struktur bzw. Identität zu erzeugen und aufrecht zu erhalten – sie ist die Basis des eigenen Zustandekommens und des autopoietischen Prozess der „Selbstschöpfung“ aus der die „materielle

Umsetzung des Prinzips der Subjektivität“ folgt (Ebd., S. 50). Bezugnehmend auf Varela (1997) findet Weber (2014, S. 50) die folgende Definition von Subjektivität, die ihm zufolge allem Lebendigen innewohnt:

„Der Prototyp aller Subjektivität ist somit eine Subjektivität des Körpers, nicht eine des Geists.

Ihr ureigenster Charakter besteht in der Autonomie der Form über die Materie. Die lebende Zelle beherrscht die Atome, aus denen sie aufgebaut ist. Die Identität, die sie beibehält, bündelt den Stoff.“

7 aus dem altgr. phýlon „Stamm“ und génesis „Ursprung“

Die Biologie des Lebens wird auf diese Weise als ein Phänomen sichtbar, das sich selbst über das eigene Zustandekommen definiert, abgrenzt und dabei neu erschafft. Dem liegt eine Wertigkeit zugrunde, die dem Leben durch sein eigenes Zustandekommen innewohnt und als Folge das „Schädliche“ meidet und das

„Förderliche“ sucht: „Um sich als Form über den Stoff zu erhalten, ist eine Tendenz nötig, ein Interesse des lebenden Systems an seiner Fortexistenz“ (Ebd., S. 52). Weber (2014, S. 52) zieht hieraus die folgende Schlussfolgerung: „Wer aber ein Interesse hat, der nimmt die Welt nicht wahr, »wie sie objektiv ist«, sondern entsprechend seinen Bedürfnissen.“ Das Leben erscheint so als subjektives Phänomen – ein System,

umgeben von und Teil von Systemen –, das auf Basis seiner Struktur „sieht und ordnet“ und im weiteren Sinn entsprechend seiner subjektiven „Sprache“ funktioniert (Krohn et al. 2005, S. 283-284).

Selbiges gilt für den Mensch, der sich als Beobachter in seiner Beobachtung im eigenen Zustandekommen bzw. seiner Struktur bedingt – welche in dessen Sprache zum Ausdruck kommt und sich in seiner

Auseinandersetzung mit dem Leben ausformt bzw. lernend verändert. Dieser - der Sprache liegt, der Analogie Weber (2014) folgend der Körper zugrunde, in dem sie entsteht – und diesen rückwirkend – selbstreferentiell zu formen Vermag: in einem Lernen dem die Eigenschaft der Autopoiesis innewohnt.