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Eine erweiterte Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Lernen III“

6 Lernen

6.1 Das vier-Stufenmodell von Gregory Bateson

6.1.6 Eine erweiterte Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Lernen III“

Bateson (1994, S. 395) weist darauf hin, dass solch ein Versuch des Seins bzw. der Veränderung auf der Ebene „Lernen III“ auch „gefährlich“ sein kann und einige daran „scheitern“ werden – und führt dies wie folgt aus: „Diese werden von der Psychiatrie oft als psychotisch etikettiert, und viele von ihnen sehen sich daran gehindert, das Pronomen der ersten Person zu benutzen.“ So wird durch „Lernen III“ die aus „Lernen I und II“ erworbene soziale definierte moralische Selbstbezüglichkeit durch eine sich in „Lernen III“ formende ethische Selbstbezüglichkeit ersetzt. Dies kann mehr oder weniger vollständig bzw. erfolgreich erfolgen, was dazu führt, dass der Mensch sich nur begrenzt erfolgreich im sozialen Wertegefüge orientieren kann – bzw.

eine Ökologie der Ideen ausbildet, die im Umgang mit dem nichttrivialen Charakter des Lebens nicht zu Stabilität führt. Abgesehen von dem eher drastischen Bild, das Bateson (1994) als Folge von „Lernen III“

beschreibt, ist klar, dass eine Transformation der Ökologie der Ideen, die durch „Lernen III“ stattfinden kann, „einen langen Atem, Geduld und tiefes Mitgefühl mit sich selbst“ braucht, so Walch (2011, S. 121).

Dies liegt nicht nur daran, dass es immer wieder zu Rückschritten kommt – sondern auch an der

tiefgreifenden und bewegenden emotionalen und gefühlsbetonten Auseinandersetzung mit sich selbst und den Antwort-Ideen (vom „Selbst, dem „Ich“, dem „Ego“ etc.59) auf die Frage: „Wer bin Ich?“.

Der Geist und das Bewusstsein des Menschen nehmen ihren Ausgang in den „einzigartigen Zügen menschlichen sozialen Lebens und dessen intensive sprachliche Kopplung“ (Maturana et al. 2012, S. 241).

Durch die Sprache wird erst die Idee des „Ich“ geboren und bietet zugleich Möglichkeit zur Reflexion über die Frage: „Wer bin ich?“. Mehr Klarheit über die Bedeutung der Sprache für den Menschen, seiner Auseinandersetzung mit sich selbst und den Herausforderungen, denen er dabei begegnet, bietet eine Betrachtung von Menschen, dessen beide Gehirnhälften (durch eine Kommissurektomie) voneinander getrennt wurden (den sogenannten Split-Brain-Patienten)60. Durch die Trennung bildet jede

Gehirnhemisphäre mit dem Nervensystem eine geschlossene operationale Einheit, die unabhängig

voneinander existieren. Mit einem Versuchsaufbau, der die Anatomie des optischen Systems des Menschen berücksichtigt, kann visuell mit den beiden Hemisphären getrennt voneinander Kommuniziert werden.

Dabei stellt man fest, dass die „linke Hemisphäre stärker mit der sprachlichen und analytischen Verarbeitung assoziiert“ ist und die rechte Hemisphäre „nur ganz einfache sprachliche Anweisungen verstehen“ kann (Anderson 2007, S. 28). Dabei zeigt sich auch, dass die „rechte Gehirnhälfte mehr mit

wahrnehmungsgebundenen und räumlichen Prozessen zu tun hat“ und „bei der Ausführung manueller Aufgaben“ die linke Hemisphäre „bei weitem“ übertrifft (Ebd.).

Jene Beobachtung leitet sich aus der folgenden experimentellen Situation ab: Nur der rechten Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten wird mit Hilfe einer Versuchsapparatur ein Kärtchen mit dem Bild von einem Löffel gezeigt. Der Patient bekommt dann die Anweisung jenen Gegenstand am Kärtchen tastend unter mehreren Gegenständen zu finden – was ihm gelingt. In einem weiteren Durchgang wird der rechten Hemisphäre des Patienten das Kärtchen mit dem Wort „Löffel“ gezeigt – worauf der Patient jedoch nicht reagiert. Fragt man diesen, was er gerade sieht, entgegnet dieser lediglich, nichts zu sehen. Im nächsten Durchgang wird der rechten Hemisphäre des Patienten das Bild einer schönen nackten Frau gezeigt, woraufhin dieser errötet und Verlegenheit zeigt. Fragt man diesen, was denn gerade los sei, hat dieser für sein Verhalten keine plausible Antwort: „So sagt sie vielleicht nur (wie tatsächlich geschehen):»He Doktor,

59 Anm.: Auf die Konzepte des „Selbst“, dem „Ich“, dem „Ego“ etc. wird weiter unten (v.a. in Kap. 6.2.3) eingegangen.

60 Eine Trennung der beiden Gehirnhälften wird in den meisten Fällen bei Menschen vorgenommen, die an schwerer Epilepsie leiden. Durch die Trennung des breiten Bandes an Nervenfasern (den Corpus callossum, oder auch Balken) kann schweren epileptischen Anfällen vorgebeugt werden. Eine solche Operation verläuft „in der Regel erfolgreich, und die Patienten sind im Alltag unauffällig“ (Anderson 2007, S. 28).

da haben sie aber einen schlimmen Apparat!«“ (Maturana et al. 2012, S. 247). Was ist geschehen? Der zu wahrnehmungsgebundenen und räumlichen Prozessen fähigen rechte Hemisphäre wurden Bilder gezeigt, die es auch verarbeiten kann – im Gegensatz zu dem Kärtchen mit dem Wort „Löffel“. Diese konnte wiederum die zu sprachlichen und analytischen Verarbeitung von Reizen ausgeformte linke Hemisphäre wahrnehmen – welche hingegen keine Bilder verarbeiten kann. Aus dem Experiment wird zudem sichtbar:

„Alles, was die linke Gehirnhälfte tun kann, ist auf eine Weise zu antworten, die sich aus ihrer Verbindung mit dem Rest des Nervensystems und des Körpers ergibt. Dort finden die

Aktivitäten von Erröten und Verlegenheit statt, die durch die rechte Gehirnhälfte erzeugt wurden. »Da haben sie aber einen schlimmen Apparat« ist die Weise, auf die der Patient über seine linke Hemisphäre von der rechten Hemisphäre erzeugten emotionale Erregung

verarbeitet“ (Ebd., S. 248).

In ihrer Darstellung nehmen Maturana et al. (2012) Bezug auf die von Michael S. Gazzaniga und Joseph E.

LeDoux (1978) in „The Integrated Mind“ dargestellten experimentellen Ergebnisse mit Split-Brain-Patienten.

Darin beschreiben Gazzaniga et al. (1978) auch Forschungsergebnisse die in Zusammenarbeit mit einem fünfzehnjährigen Jungen Namens Paul gewonnen wurden. Abgesehen von seinen voneinander getrennten Gehirnhälften weist er die Besonderheit auf, dass seine beiden Gehirnhälften unabhängig voneinander Sprache erzeugen und verstehen können. Man kann also mit beiden Gehirnhälften getrennt sprechen. Diese konkrete Eigenschaft besitzt nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen (Maturana et al. 2012, S. 248).

Mittels demselben Versuchsaufbau (wie oben erläutert) wurden Paul auch Fragen gestellt: Eine davon lautete „Welcher Tag ist morgen?“. Worauf beide Gehirnhälften dieselbe Antwort formulierten: „Sonntag“.

Auch wurde beiden Hemisphären des Gehirns die Frage gestellt: „Was willst du einmal werden, wenn du älter bist?“. Die Antworten unterschieden sich hier jedoch. Die linke Hemisphäre antwortete, ein

Rennfahrer werden zu wollen. Von der rechten Hemisphäre kam die Antwort, Designer werden zu wollen (Gazzaniga et al. 1978, S. 143). Der Versuch zeigt, dass das menschliche Gehirn prinzipiell zu voneinander unabhängigen Beobachtungen bzw. Verhaltensweisen fähig ist (jedoch im Normalfall nur von der linken Hemisphäre des Gehirns formuliert werden kann). Diese sind (in einem trivialen Sinn)

Vergangenheitsabhängig und Ergebnis der Interaktion mit der (Um)welt (und im Normalfall bei der linken Hemisphäre des Gehirns, Ergebnis der Sozialisation durch „Lernen I und II“) des Menschen.

Um herauszufinden, auf welche Weise die Vergangenheit einen Zusammenhang mit der Sprache aufweist, wurden mit Paul weitere Versuche gemacht. Zunächst wurde dessen rechte Gehirnhälfte aufgefordert zu lachen und seine linke Gehirnhälfte im Anschluss gefragt, warum er denn gelacht habe. Von ihr kam die Antwort: „Oh you guys are really something“ (Ebd.). In einem anderen Fall wurde Pauls rechte Gehirnhälfte der Befehl gegeben, sich zu kratzen. Paul kratzte sich. Wieder wurde Paul über die linke Gehirnhälfte gefragt, warum er das getan habe. Ihn hatte es „gejuckt“, so seine Antwort. Was ist hier passiert? Als Paul

„was asked, »Why are you doing that?« his talking left hemisphere was faced with the cognitive problem of explaining a discrete overt movement of great clarity carried out for reasons truly unknown to it“ (Ebd., S.

146).

Pauls Antworten zeigen, dass der Mensch zu einer Erklärung für eine Beobachtung gelangen kann, ohne dass diese in einem „wirklichen“ Zusammenhang mit einem aktuellen Reiz steht. Sie ist vielmehr das Ergebnis von Erfahrung in der Vergangenheit, die einem vergangenen Kontext entsprechend, trivial zu einer Antwort führt:

„Im sprachlichen Bereich von Paul kann es keine Inkohärenz geben. Wenn er deshalb aufgefordert wird, etwas, das sich in diesem Bereich ereignet, zu reflektieren, muss er mit

einem Ausdruck dieser Kohärenz antworten: »Weil sie so komische Typen sind« oder »Weil es mich juckt«. In seiner Geschichte werden Identität und Anpassung erhalten“ (Maturana et al.

2012, S. 250).

In diesem Sinne kann das von Bateson (1994) geschilderte Problem näher betrachtet werden, wonach

„Lernen III“ gefährlich sei bzw. zu Psychosen führen könne. Dies kann dann der Fall sein, wenn es dem Mensch nicht gelingt ein „Ich“ in „Lernen I und II“ auszubilden, welches fähig ist,

· der in „Lernen III“ entstandenen Selbstverständlichkeit zu entsprechen

· bzw. diese in einer funktionierenden Sprache (wo zugleich Identität und Anpassung aufrechterhalten werden) zur Anwendung zu bringen.

Die Bedeutung hierfür wurde bereits in Kap. 2 erläutert, wonach die Aufrechterhaltung der Funktionalität – die Autopoiesis für die Ontogenese eines Lebewesens vorausgesetzt werden muss. Wie im biologischen Sinn, gilt dies auch (weil durch die Biologie bedingt) für den über die Sprache kommunizierenden Menschen, welcher anhand dieser „sieht und ordnet“ und auf Basis dessen „funktioniert“ (Krohn et al. 2005, S. 283-284):

„Daraus ersehen wir, dass wir in dem Netzwerk der sprachlichen Interaktionen, in dem wir uns bewegen, eine andauernde Rekursion aufrechterhalten, die wir unser »Ich« nennen. Sie erlaubt uns, unsere sprachliche operationale Kohärenz zu bewahren sowie unsere Anpassung im Reich der Sprache“ (Maturana et al. 2012, S. 250).

Die Liebe und das Vertrauen eines Menschen für seine Mitmenschen sind in dieser Beziehung wesentlich und ermöglichen erst seine Existenz in einer sozial geteilten Identität, die sich in der Sprache erhält und anpasst. Maturana (in Ludewig et al. 2006, S. 59) sagt hierzu: „Nach meiner Auffassung sind nur solche Situationen soziale Beziehungen, in denen dem anderen als Menschen ein Existenzbereich neben einem geöffnet wird.“ Die Liebe erscheint in diesem Zusammenhang als „Dialog“, der sich in der Philosophie (durch

„Lernen III“ in „Lernen II“) als „logische Klärung der Gedanken“ und in der Ausformung der Sprache (in

„Lernen I“) wiederfindet, der die Grenzen einer (geteilten) Welt bedeutet (Wittgenstein 2013, S. 38 und vgl.

S. 86). „Lernen III“ kann demnach als herausfordernder Prozess der Veränderung beschrieben werden, den Bateson (1994, S. 395) mit zwei Ergebnis-Bilder veranschaulicht:

„Für andere, Erfolgreichere, kann die Auflösung der Gegensätze ein Zusammenbruch von vielem sein, was auf Ebene II gelernt wurde, und zur Offenbarung einer Einfachheit führen, in der Hunger direkt zum Essen führt und das identifizierte Selbst nicht mehr für die Organisation des Verhaltens verantwortlich ist. Sie sind die unbestechlichen Unschuldigen dieser Welt.

Für andere, Kreativere, offenbart die Auflösung der Gegensätze eine Welt, in der die

persönliche Identität in all den Beziehungsprozessen einer umfassenden Ökologie oder Ästhetik der kosmischen Interaktion aufgeht. Dass irgendwer von ihnen überleben kann, erscheint fast wie ein Wunder, aber einige werden vielleicht durch ihre Fähigkeit, sich auf die Kleinigkeiten des Lebens zu konzentrieren, davor bewahrt, vom ozeanischen Gefühl weggeschwemmt zu werden. Jede Einzelheit des Universums wird so gesehen, als ermögliche sie eine Sicht des Ganzen.“

Komplementierend führt Bateson (1994) einen Ausschnitt des Gedichts „Auguries of Innocence“ von William Blake an:

To see the World in a Grain of Sand, And a Heaven in a Wild Flower, Hold Infinity in the palm of your hand, And Eternity in an hour.

(Blake 2017)

Es vermag auszudrücken, welches menschliche Bewusstsein Bateson (1994) in seiner Formulierung einer Lerntheorie in der Ebene „Lernen III“ erdachte: Einen Mensch, der sich seinen Bedürfnissen entsprechend und durch seine Ökologie der Ideen differenzierend, fernab von Ideen von Raum und Zeit bzw. Moral, um seine Verbundenheit mit der Welt – dem Leben in Liebe – weiß. Der Analogie seiner Formulierung des

„Lernen III“ zur Mystik und dem Zen-Buddhismus ist sich Bateson (1994) bewusst und weist mehrmals dezidiert darauf hin (bspw. auf S. 390). Dabei, so merkt Lutterer (2000, S. 133) an, „erzielt“ Bateson „eine Beschreibung des Erlebens alter wie neuer Mystiker.“