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3. Lesesozialisation

3.2 Instanzen der Lesesozialisation

3.2.2 Lesen in der Schule

Literalität wird vorwiegend in der Schule erworben, da viele Kinder Lesen und Schreiben erst mit dem Schuleintritt lernen (vgl. Plath/Richter 2012: S. 487). Kinder, die das Lesen vor dem Schuleintritt als etwas Positives wahrgenommen haben, werden die Mühen des Lesenlernens viel eher auf sich nehmen, da sie diese Fähigkeit, die sie als etwas Erstrebenswertes kennengelernt haben, gerne erlernen wollen (vgl. Schönbaß 2008: S. 48).

Der Grundstein für das schulische literale Lernen wird in der Grundschule gelegt (vgl. Büker 2006: S. 120). Die Aufgabe der Familie von Schulkindern ist es,

„Misserfolgserfahrungen abzufedern und die Lesemotivation aufrecht zu erhalten“

(Philipp 2008a: S. 32). Kindern soll Freude und Genuss an Literatur in der Schule möglich gemacht werden (vgl. Pieper 2010: S. 123).

Die Schule hat Einfluss auf die Lesemotivation, das Leseverhalten und die Lesekompetenz. Unter anderem kommen der Schule die Aufgaben zu, die Persönlichkeit der SchülerInnen zu fördern, die SchülerInnen darüber hinaus noch zu bewerten und bildungsabhängige gesellschaftliche Positionen zuzuteilen (vgl. Philipp 2011: S. 102ff.). Drei Ebenen – die Systemebene, der Unterricht selbst und die Lehrkräfte – nehmen Einfluss auf die schulische Lesesozialisation (vgl. ebd. S. 119).

Diese drei Ebenen werden im Laufe des Kapitels näher beschrieben.

Auch Faktoren wie Bildungsnähe und sozioökonomischer Status spielen in der Schule eine Rolle (vgl. Bertschi-Kaufmann/Kassis/Schneider 2004: S. 31).

Schwierigkeiten treten in der Schule zum Beispiel deshalb auf, weil SchülerInnen unterschiedlich gut lesen können, wenn sie in die Schule eintreten und aus unterschiedlichen Lesekulturen stammen (vgl. Gölitzer 2004: S. 122). Kinder kommen mit völlig unterschiedlichen Grundlagen in die Schule (vgl. Garbe 2010: S.

186) und „das (prototypische) Mittelschicht-Kind hat in allen Dimensionen seiner literalen und literarischen Kompetenz deutlich bessere Voraussetzungen als das Kind aus der Unterschicht-Familie“ (ebd.). Für Kinder aus buchfernen Familien gestaltet sich das Lesen- und Schreibenlernen oft als sehr schwierig (vgl. Rauch 2012: S. 41). Während Philipp (2011: S. 143) geht davon aus, dass diese

Unterschiede nur schwer ausgeglichen werden können, schreibt Böck (2007a: S.

34), dass die Schule es schaffen kann, die Defizite von Kindern in Bezug auf die Lesekompetenz auszugleichen.

Für Gölitzer (2007: S. 214f.) hat die Schule bezüglich der Lesesozialisation zwei Funktionen zu erfüllen: Erstens muss sie die SchülerInnen zu einer Teilhabe an der Schriftkultur im weiteren Sinne und einer literarischen Kultur im engeren Sinne befähigen. Das bedeutet, dass SchülerInnen lernen müssen, Literatur kritisch zu lesen, von literarischen Texten auf Bilder und andere Ausdrucksgestalten zu schließen, unterschiedliche Leseweisen anzuwenden und verständigungsorientiert zu handeln. Zweitens ist es Aufgabe des Unterrichts, die Lesekompetenz und literarische Rezeptionskompetenz von SchülerInnen zu verbessern und komplexe Fähigkeiten durch möglichst vielfältige Lesesituationen zu unterstützen (vgl. Gölitzer 2007: S. 214ff.).

In der Schule soll nicht nur die Kulturtechnik Lesen erworben werden, sondern auch die literarästhetische Bildung und das Sprechen über die Literatur sind wichtige Bestandteile der schulischen Lesesozialisation (vgl. Plath/Richter 2012: S. 493f.).

„Die Schule sollte die Schülerinnen und Schüler von Anfang an mit der Vielfalt der Lesestoffe und Textgattungen, den verschiedenen Lesemedien sowie der Funktionsvielfalt des Lesens bekannt und vertraut und so das Lesen für sie attraktiv machen“ (Böck 2007a: S. 34). Ziel eines lesefördernden Unterrichts ist es, durch den Aufbau und die Arbeit an Lesehaltungen das Leseverhalten von jungen LeserInnen zu stabilisieren, sodass die Kinder in der Lage sind, dieses eigenständig zu steuern (vgl. Bertschi-Kaufmann 2011: S. 10). Im Literaturunterricht sollen SchülerInnen Handlungsschemata erwerben, ihre Lesegewohnheiten ausbilden und die Möglichkeit bekommen, am literarischen Leben und der literarischen Kultur teilzuhaben. Dies bedeutet, dass sie lernen, Literatur kritisch und auf verschiedenste Arten zu lesen, sich gemeinsam mit der Lehrperson und ihren MitschülerInnen mit Literatur beschäftigen und zum Beispiel literarische Texte in andere Textsorten übersetzen (vgl. Gölitzer 2004: S. 123).

Die Buchauswahl in der Schule ist entscheidend dafür, ob SchülerInnen gerne lesen, denn meist wird anderes und anders als in der Familie oder unter Freunden gelesen (vgl. Gölitzer 2007: S. 209). Während sich Kinder und Jugendliche Lesestoffe für ihre Freizeit selbst aussuchen, bestimmt in der Schule meist die Lehrperson, was gelesen wird. In Studien äußern sich Kinder und Jugendliche nur

selten positiv über die Leseempfehlungen von LehrerInnen (vgl. Philipp 2011: S.

110). Ganz im Gegenteil: Einige Studien bestätigen, dass Teenager in der Schule selten Bücher lesen, die ihnen wirklich gefallen (vgl. ebd.). Die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen mit dem Lesen und die Anforderungen der Schule unterscheiden sich meist stark voneinander (vgl. Böck 2007a: S. 34). Mit dem Buchlesen verbinden viele SchülerInnen ab dem ersten Buchleseknick zwischen zehn und zwölf Jahren – so Böck (2007a: S. 34) – meist ‚Pflicht’ und ‚Arbeit’. Wenn sich Erwachsene an den Deutschunterricht erinnern, können sie oft nicht viel Positives nennen und machen ihn meist dafür verantwortlich, ihnen die ‚Lust am Lesen’ verdorben zu haben (vgl. Eggert/Garbe 2003: S. 135). Schönbaß (2008: S.

30) merkt an, dass die SchülerInnen Lesen oft nicht mehr als ein Hobby ansehen können, da es in der Schule zur ‚lästigen Pflicht’ gemacht wurde. Als Gründe für eine eher negative Beurteilung des Deutschunterrichts werden eine falsche Textauswahl und falsche Unterrichtsmethoden genannt (vgl. Eggert/Garbe 1995: S. 139ff., zit.

nach Fritzsche 2004: S. 225).

Negativen Einfluss auf die Lesesozialisation in der Schule nimmt eine kanonische Verengung der schulischen Lesestoffe und die Kluft zwischen den Büchern, die privat gelesen werden und solchen, mit denen sich SchülerInnen in der Schule auseinandersetzen müssen (vgl. Garbe 2010: S. 215). Diese kanonischen Werke „gehen meist gänzlich an den Interessen der Heranwachsenden vorbei und zerstören nicht nur das Interesse am Literaturunterricht, sondern häufig das Interesse an Literatur überhaupt“ (Garbe 2005: S. 19, zit. nach Philipp 2008b: S. 34).

Die starke Abgrenzung von schulischen und außerschulischen Lesemedien, Lesestoffen und Leseweisen wirkt sich negativ auf die Lesemotivation und das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen aus (vgl. Philipp 2011: S. 128).

Wie schon zu Beginn des Kapitels erwähnt, beeinflussen verschiedene Ebenen, nämlich die Systemebene, der Unterricht und die Lehrkräfte, die Lesesozialisation in der Schule (vgl. ebd. S. 127). Studien von Guice et al. (1994) und Duke (2000) zeigen, dass Schulen materiell sehr unterschiedlich ausgestattet sind. So besitzen manche Schulen zum Beispiel doppelt so viele Bücher in der Schulbibliothek als andere. Philipp (2011: S. 119) schreibt, dass diese Studien auch belegen, dass Schulen die von SchülerInnen mit einem höheren sozialen Status besucht werden, meist mit Plakaten mit Text und Wandbildern geschmückt sind und die SchülerInnen außerhalb des Muttersprachenunterrichts viel mehr lesen als

andere SchülerInnen an Schulen mit einem niedrigeren sozialen Status. Die SchülerInnen solcher Schulen können bei der Bücherwahl meist selbst mitentscheiden, ihnen werden neuere und längere Texte angeboten, sie nutzen die Klassenbibliothek öfter und schreiben ihre Texte für Lehrkräfte, Klassenkameraden und sich selbst. Daraus lässt sich schließen, dass gerade SchülerInnen, die Leseförderung dringend benötigen würden, keinen oder nur wenig Zugang zu Texten haben (vgl. Philipp 2011: S. 119).

Im Hinblick auf den Einfluss der Lehrkräfte haben Rowan, Correnti und Miller (2002) in einer amerikanischen Längsschnittstudie herausgefunden, dass sich der Leseverstehens-Zuwachs je nach Lehrkraft zwischen SchülerInnen an Primarschulen um 60% unterscheiden kann. Hamre und Pianta (2001) kamen bei ihren Untersuchungen zum Ergebnis, dass sich gute, unterstützende Beziehungen zu Lehrkräften positiv auf das Leseverstehen auswirken (vgl. Philipp 2011: S. 115). Für Rosebrock (2003: S. 165) haben DeutschlehrerInnen, die folgende Eigenschaften aufweisen, eine große Chance, dass ihnen eine erfolgreiche schulische Leseförderung gelingt: Die LehrerInnen sollten selbst gerne lesen, sich für das interessieren, was SchülerInnen in ihrer Freizeit lesen, sich auf dem Gebiet der Literatur gut auskennen, es schaffen, die SchülerInnen zu einer interessanten Anschlusskommunikation nach dem Lesen zu motivieren und in der Lage sein, Leseempfehlungen zu formulieren, die das Interesse der SchülerInnen wecken (vgl.

Rosebrock 2003: S. 165). Böck (2000: S. 149) hält auf Basis der Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das im Schuljahr 1998/99 an österreichischen Pflichtschulen und AHS-Unterstufen durchgeführt wurde, fest, dass nur wenige LehrerInnen ihre SchülerInnen regelmäßig auf Bücher aufmerksam machen, die sie in ihrer Freizeit lesen könnten. Des Weiteren geben nur 1% der 12- bis 14-Jährigen an, dass sie von ihren LehrerInnen oft gefragt werden, was sie in ihrer Freizeit lesen. 22%

beantworteten die Frage mit manchmal, 36% mit selten und 40% mit nie (vgl. Böck 2000: S. 150).

Eine erfolgreiche schulische Lesesozialisation setzt voraus, dass die Interessen und Wünsche der Kinder und Jugendlichen gekannt und verschiedene Medien eingesetzt werden (vgl. Plath/Richter 2012: S. 503). Die Ziele des Literaturunterrichts können – so Gansel (2010: S. 89) – nur dann erreicht werden, wenn sowohl Lesemotivation und -vergnügen, als auch eine Rezeptionskompetenz, die über das literarische Lernen transportiert wird, entwickelt werden. Für den

Literaturunterricht, der beides zu vermitteln hat, handelt es sich dabei um keine leichte Aufgabe (vgl. Gansel 2010: S. 89). In der Schule wird mitten in einer Mediengesellschaft der Umgang mit literarischen Texten geübt. Gansel (2010: S. 90) verweist darauf, dass nicht nur mit literarischen Traditionstexten gearbeitet werden muss, sondern sich auch die KJL gut dafür eignet. Hurrelmann (2006: S. 145) vertritt die Ansicht, dass die KJL zur Lesesozialisation in der Schule mehr als je zuvor benötigt wird, denn mit KJL ist „ein reichhaltiges, nach Themen, Gattungen, Qualitätsschichten und Gebrauchsmöglichkeiten differenziertes Textreservoire gegeben“ (Hurrelmann 2006: S. 145).

Schule und Unterricht können es doch schaffen, das Lesen sozial einzubinden, denn LehrerInnen können SchülerInnen durch offene Unterrichtsformen oder Nachfragen zum Buchlesen in der Freizeit motivieren (vgl. Gölitzer 2004: S.

132). Hurrelmann et al. (1993: S. 78ff.) nennen die Familie als wichtigen Einflussfaktor des Freizeitlesens. Aber auch die Leseförderung der Schule kann zum Lesen in der Freizeit anregen, beispielsweise durch Schul- oder Klassenbibliotheken, die Anreize zum Buchlesen außerhalb des Unterrichts geben (vgl.

Hurrelmann/Hammer/Nieß 1993: S. 204, zit. nach Bertschi-Kaufmann/Kassis/Schneider 2004: S. 31). Schulbibliotheken, die gut ausgestattet sind, können einen großen Beitrag zur Lesesozialisation und Leseförderung leisten, am meisten für jene Kinder, die innerhalb der Familie keinen oder fast keinen Zugang zu Büchern haben (vgl. Böck 2000: S. 147).

Aus der DESI-Studie (vgl. Klieme et al. 2006) geht hervor, dass sich ein verständlicher, anspruchsvoller Unterricht, der ohne Tempodruck und mit vielen Methoden gestaltet wird, positiv auf die Lesekompetenz von Kindern auswirkt (vgl.

Philipp 2011: S. 117).