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3. Lesesozialisation

3.2 Instanzen der Lesesozialisation

3.2.1 Lesen in der Familie

Prägende Einflüsse für die Lesekarrieren von Kindern sind beispielsweise der Ausbildungsgrad der Eltern, die ökonomischen Verhältnisse der Familie, die Sprachkultur sowie Lese- und Mediengewohnheiten der Familie und inwiefern gesellschaftliche und kulturelle Angebote innerhalb der Familie genutzt werden (vgl.

Bertschi-Kaufmann 2011: S. 9).

Während ‚Literalität’ in der Schule erworben wird, da viele Kinder Lesen und Schreiben erst dort lernen, findet die ‚Literarisierung’ bereits innerhalb der Familie statt, da dieser Prozess auch über das Erzählen von literarästhetischen Texten und das Vorlesen erfolgt (vgl. Plath/Richter 2012: S. 487): Bereits im Kleinkindalter wirken Gute-Nacht-Geschichten, Lieder und Bilderbücher auf die Lesesozialisation von Kindern ein (vgl. ebd. S. 487f.). Auch Wortspiele, Rollenspiele, das Wahrnehmen und Erzählen von Geschichten oder das Erlernen von Kinderreimen und Kinderliedern beeinflussen die spätere Leseentwicklung maßgeblich (vgl.

Hurrelmann 2000: S. 912). Diese „prä- und paraliterarischen“ Kommunikationsformen fördern Voraussetzungen für das Lesen wie die phonologische Bewusstheit (vgl.

Böck 2000: S. 134) und bereiten „das Lesen im Bereich der Mündlichkeit“

(Hurrelmann 2004: S. 178) vor. Eine emotionale Verbundenheit zwischen den Erwachsenen und den Kindern wirkt sich positiv auf diese Kommunikationssituationen aus (vgl. ebd. S. 179).

Nach Rauch (2012: S. 39) beginnen die Anfänge für die Entwicklung von stabilen Lesegewohnheiten innerhalb der Familie. „Eine Kindheit, in der literarische Kommunikation zum Alltag gehört, ist die lebensgeschichtliche Basis nicht nur für literarästhetisches Lesen, sondern insgesamt für die Leseentwicklung und den Erwerb der Schriftsprachlichkeit“ (Rosebrock 2003: S. 157). Der Familie kommt die Aufgabe zu, den Kindern neben dem Vermitteln der mündlichen Sprachkompetenz auch die Schriftsprachlichkeit näherzubringen (vgl. Garbe 2010: S. 181).

Die Einstellung der Eltern zum Lesen beeinflusst die Lesesozialisation: „Kinder sehen und erleben von Anfang an mit, welchen Stellenwert ihre zentralen Bezugspersonen der Schriftlichkeit und dem Lesen im Alltag geben“ (Böck 2007a: S.

33). Sie ahmen gerne ältere Geschwister oder ihre Eltern nach, so auch beim Lesen

(vgl. Steinbrecher 2007: S. 11). Vor allem Mütter gelten meist als Lesevorbild, was daran liegen könnte, dass Frauen meist mehr lesen als Männer (vgl. Böck 2000: S.

134). Der Umgang mit dem Gelesenen, in welchen Situationen gelesen wird, ob das Lesen einen hohen Stellenwert innerhalb der Familie einnimmt und ob man sich über das Gelesene gemeinsam austauscht, beeinflusst das Leseverhalten von Kindern (vgl. Steinbrecher 2007: S. 11). Wenn sich Eltern für das Leseverhalten ihrer Kinder interessieren und Gespräche zwischen den Familienmitgliedern stattfinden, hat das einen positiven Einfluss auf die Lesesozialisation der Kinder, während eine negative elterliche Einstellung gegenüber dem Lesen hemmend auf Kinder wirken kann (vgl.

Plath/Richter 2012: S. 487f.). Auch Steinbrecher (2007: S. 10) geht von einem starken Einfluss der literalen Gewohnheiten innerhalb der Familie auf die kindlichen literalen Fähigkeiten aus.

Des Weiteren ist es bedeutend, dass Eltern ihren Kindern das Gefühl geben, dass sie selbst wirklich gerne lesen und nicht nur versuchen, ihre Kinder zum Lesen zu animieren (vgl. Steinbrecher 2007: S. 12). Wenn Kinder sehen, dass ihre Eltern gerne und oft lesen, dann ist es naheliegend, dass sie mit dem Lesen etwas Positives verbinden und es für sich ausprobieren wollen (vgl. Schönbaß 2008: S. 27).

Eltern, die ihre Kinder zum Lesen motivieren und eine hohe Leseleistung erwarten, selbst aber nicht lesen, können dagegen einen negativen Einfluss auf ihre Kinder haben, da hier ein Widerspruch besteht, der Kinder irritieren kann (vgl. Steinbrecher 2007: S. 12). Eltern, die nicht oft lesen, da sie es nicht gerne tun, können kein positives Vorbild für ihre Kinder sein (vgl. Schönbaß 2008: S. 30). Hier zeigt sich in einer Studie von Bucher (2004) ein deutlicher Unterschied zwischen den sozialen Schichten: 42% der Kinder aus höheren sozialen Schichten haben den Eindruck, dass ihre gesamte Familie gerne liest. Bei Kindern aus niedrigeren sozialen Schichten können dies nur 17% für ihre Familie bestätigen. Bemerkenswert ist, dass nur 8% der Kinder aus höheren sozialen Schichten, jedoch 26% der Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten von den Eltern zum Lesen aufgefordert werden (vgl.

Bucher 2004: S. 168).

Lesen wird von Kindern und Jugendlichen mitunter dazu genutzt, sich von der Familie abzugrenzen. Da es eine häusliche und von den Eltern gewünschte Tätigkeit ist, wenden sich Kinder und Jugendliche oft bewusst davon ab (vgl. Hurrelmann 2004: S. 185). Eine Studie von Hurrelmann et al. (1993) zeigte, dass sich Kinder aus buchorientierten Familien manchmal gegen das Lesen entschieden, um die

Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu gewinnen. Um ihre Kinder zum Buchlesen zu motivieren, mussten sich die Eltern mit ihren Kindern auseinandersetzen und Zeit mit ihnen verbringen (vgl. Hurrelmann et al. 1993: S. 331ff.).

Der Besitz eigener Bücher, Comics und Zeitschriften oder das Vorhandensein einer Tageszeitung wirkt sich positiv auf das Leseverständnis aus (vgl. Steinbrecher 2007: S. 12). Ein Umfeld, in dem Bücher zum Alltag gehören und die Beschäftigung mit ihnen als selbstverständlich empfunden wird, regt Kinder zum Lesen an. Das bedeutet, dass ein Bücher’reichtum’ wertvoll für die literale Sozialisation sein kann (vgl. Steitz-Kallenbach 2003: S. 29f.).

Der Besuch von Bibliotheken und Buchhandlungen im Kindesalter ist wichtig für die Lesesozialisation, da Kinder dabei lernen, wie sie mit Büchern umgehen und wo sie sie ausleihen oder erwerben können. Mit Hilfe der Familie knüpfen sie erste Kontakte zu solchen Institutionen (vgl. Steinbrecher 2007: S. 12).

Sahr (2009: S. 30f.) stellt bei der Vermittlung von Kinderbüchern drei Forderungen an die Eltern:

1. Es ist wichtig, dass Eltern ihren Kindern zeigen, dass sie Interesse an den Büchern der Kinder haben. Dies können sie tun, indem sie mitlesen und sich anschließend mit ihnen über das Gelesene unterhalten.

2. Eltern sollen sich (kinder)literarisch weiterbilden und die Lesesozialisation in der Schule unterstützen.

3. Den Eltern muss bewusst sein, dass sie durch ihr eigenes Verhalten, was das Lesen und Fernsehen betrifft, Einfluss auf ihre Kinder nehmen.

Weit vor dem Schuleintritt und dem Erwerb der Schriftsprache wird das Interesse an Büchern schon geweckt (vgl. Hurrelmann/Hammer/Nieß 1993: S. 11, zit. nach Plath/Richter 2012: S. 488). Neurophysiologische und kinderpsychologische Untersuchungen zeigen, dass „die Basis für das Lesenlernen bereits im frühen Alter der Kinder gelegt wird. Fehlt im frühen Kindesalter die Förderung der Erstsprache und der sogenannten ‚Vorläuferfertigkeiten’ für das Lesen, kommen Kinder bereits mit schweren Defiziten in die Schule“ (Böck 2012b: S. 6). Sowohl die Lesemotivation, als auch die Häufigkeit des Lesens in der Freizeit wird durch die frühen Erfahrungen, die mit dem Lesen gemacht werden, geprägt (vgl. Philipp 2011: S. 93).

Böck (2007a: S. 34) hält fest: „Kinder und Jugendliche, die nicht gerne lesen, kommen zumeist aus lesefernen Familien, während begeisterte LeserInnen weit überwiegend in lesefreundlichen Elternhäusern aufwachsen. Traditionen des Lesens

setzen sich sozusagen über Generationen hinweg fort.“ Kinder, bei denen eine Förderung der Lesefreude im Elternhaus stattfand, haben darüber hinaus meist ihr ganzes Leben lang eine starke Bindung zu Büchern, lesen mehr und besitzen häufig viel mehr Bücher als andere (vgl. Sahr 2009: S. 29).

Sozialer Status und Lesen

Der soziale Status der Familie ist ein starker Einflussfaktor auf die Leseentwicklung eines Kindes (vgl. Bertschi-Kaufmann 2010: S. 231).

Laut Scarborough/Dobrich (1994) hat der sozioökonomische Status der Eltern eine starke Auswirkung auf die kindliche literale Entwicklung. Dieser Faktor soll sogar mehr Einfluss auf die Lesesozialisation von Kindern haben als die im familiären Kontext gemachten Leseerfahrungen. Mehrere Studien zeigen, dass ein engerer Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und literarischen Fertigkeiten als zwischen literarischen Fertigkeiten und gemachten Leseerfahrungen innerhalb der Familie besteht (vgl. Steinbrecher 2007: S. 23). Das Leseverhalten von Kindern steht in enger Verbindung mit der Bildung der Eltern und der sozialen Schicht, der diese zuzuordnen sind (vgl. Rauch 2012: S. 39).

Aus der sogenannten Erfurter Studie zur Entwicklung der Lesemotivation in der Grundschule (vgl. Richter/Plath 2005) geht hervor, dass der Buchbesitz je nach sozialem Status der Familien stark variiert (vgl. Richter/Plath 2005: S. 44f., zit. nach Plath/Richter 2012: S. 488). Böck (2012b: S. 4) erachtet Schulbildung und berufliche Position der Eltern als maßgeblich für ihren Bücherbesitz. Eltern in höheren beruflichen Positionen besitzen demnach mehr Bücher, unter anderem auch mehr Kinderbücher. Die KIM-Studie 2008 (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009) bestätigt, dass die Bindung an Printmedien stärker ist, je höher die formale Bildung von Eltern ist (vgl. Pieper 2010: S. 124). Unterschiede sind bezüglich der Genres erkennbar: Eltern mit einer höheren Bildung lesen öfter Belletristik, während bei Personen mit einer niedrigeren sozialen Bildung einfache Unterhaltungsliteratur bevorzugt wird (vgl. Böck/Wallner-Paschon 2002a: S. 16).

Fenkart (2013: S. 21f.) schreibt in Bezug auf die Ergebnisse von PIRLS und TIMSS 2011 (vgl. Suchan et al. 2012), dass „der Leistungsvorsprung der 9-/10-Jährigen aus Haushalten mit mehr als 100 Büchern gegenüber Haushalten mit maximal 100 Büchern [...] in Österreich etwa neun Prozent [beträgt].“

Groeben und Schroeder (2004) haben die Rolle der Eltern bei der Lesesozialisation untersucht und herausgefunden, dass Eltern aus niedrigen

sozialen Schichten ihre Kinder zuhause weniger im Lesen fördern als Eltern aus mittleren sozialen Schichten. Während Eltern aus niedrigen sozialen Schichten diese Aufgabe eher der Institution Schule überlassen, fördern Eltern aus mittleren sozialen Schichten ihren Nachwuchs schon vor dem Schuleintritt mit spielerischen literalen Aktivitäten (vgl. Philipp 2011: S. 89). Familien aus höheren sozialen Schichten kommunizieren öfter und altersentsprechender medial mündlich, aber konzeptuell schriftlich mit ihren Kindern als Eltern aus niedrigen sozialen Schichten. Diese Kinder treten dann mit besseren literalen Voraussetzungen in die Schule ein (vgl. Rosebrock 2003: S. 158).

Zusätzlich hat das Ausmaß des Sprechens von Erwachsenen mit Kindern einen positiven Einfluss auf die literarischen Fähigkeiten von Kindern (vgl.

Snow/Burns/Griffin 1998, zit. nach Steinbrecher 2007: S. 23). In einkommensschwachen Familien ergibt sich seltener die Gelegenheit, dass Kinder mit ihren Eltern sprechen, als in Familien mit einem höheren Einkommen (vgl.

Snow/Tabor/Dickinson 2001, zit. nach Steinbrecher 2007: S. 23). Philipp (2011: S.

100) weist darauf hin, dass Kinder, die in Familien aus niedrigen sozialen Schichten aufwachsen, weniger sprachliche Stimuli erhalten und dass ihre Eltern oft überfordert sind, wenn sie ihren Kindern positiv, dialogisch und flexibel vorlesen sollen.

Verbote und negative Äußerungen bezüglich des allgemeinen Verhaltens von Kindern in den ersten Lebensjahren haben eine nachhaltige negative Wirkung auf ihre sprachliche und kognitive Entwicklung (vgl. Steinbrecher 2007: S. 23). Wie Hart und Risley (1995) belegen, hängt die Menge der positiven Aussagen gegenüber Kindern stark mit dem sozioökonomischen Status zusammen. Eine Längsschnittuntersuchung konnte darlegen, dass von einkommensschwachen Eltern doppelt so viele Verbote an ihre Kinder gehen als an Kinder aus Familien mit einem mittleren bis hohen Einkommen.

Manchmal treten bei Kindern sogar Lesehemmungen auf. Kinder, die der niedrigeren Bildungsschicht angehören, bevorzugen ihren Aussagen zufolge deshalb eher das Fernsehen, weil sie häufig nicht so gute LeserInnen sind. Als Ursache für die schlechtere Leseleistung nennen sie oft den Grund, keine Ahnung zu haben, welche Bücher interessant sind (vgl. Steinbrecher 2007: S. 23).

Zusammenfassend kann gesagt werden: „Je höher der Bildungsgrad der Eltern und ihre berufliche Position sind, umso positiver ist ihre Einstellung zum

Lesen, umso mehr Freude am Lesen haben sie und umso häufiger lesen sie“ (Böck 2012b: S. 26).

Die Bedeutung des Vorlesens

Beim Vorlesen kommen Kinder erstmals in Kontakt mit Schrift. In vielen Studien wurde der positive Einfluss des Vorlesens auf den späteren Wortschatz, die frühe Sprachentwicklung und ein besseres Verständnis von Texten bereits nachgewiesen (vgl. Steinbrecher 2007: S. 12). Laut Bus (2001) ist die Menge des Vorlesens vor dem Schuleintritt entscheidend für die weitere literale Entwicklung von Kindern.

Feneberg (1994) konnte zeigen, dass Kinder motivierter sind, Lesen zu lernen, wenn ihnen in der Vorschule regelmäßig vorgelesen wird. Kinder, denen mehrmals die gleiche Geschichte vorgelesen wurde, waren im Gegensatz zu jenen, denen nur selten vorgelesen wurde, in der Lage, komplexere Sätze zu formulieren (vgl.

Steinbrecher 2007: S. 13). Kinder, denen vorgelesen wurde, haben eine positivere Einstellung gegenüber dem Buchlesen als solche, denen nicht vorgelesen wurde.

Das Leseverhalten und die Lesedauer werden ebenfalls beeinflusst: Kinder und Jugendliche, denen vorgelesen wurde, lesen öfter und länger als solche, die keine Erfahrungen mit dem Vorlesen gemacht haben (vgl. Ehmig/Reuter 2013: S. 9f.).

Wie Richter und Plath 2005 in ihrer Studie zur Lesemotivation in der Grundschule herausfanden, lesen vorwiegend Mütter ihren Kindern zuhause vor und fühlen sich als Verantwortliche für die Lesesozialisation (vgl. Plath/Richter 2012: S.

488). Lesedauer und Lesehäufigkeit der Mütter nehmen großen Einfluss auf die Lesefreude und Lesehäufigkeit der Kinder (vgl. Steinbrecher 2007: S. 11).

Lesen wird daher oft als eine „weibliche Tätigkeit“ verstanden. Positiv wäre, wenn auch Väter als Lesevorbilder auf ihre Kinder einwirken würden (vgl. Rauch 2012: S. 40). Steinbrecher (2007: S. 13) schreibt, dass das Vorlesen dann mehr Interesse an Büchern bewirken würde, wenn Väter vorlesen würden. Lyytinen, Laakson und Poikkeus (1998) zeigten in einer Studie über vorlesende Väter, dass Kinder beim Zuhören mehr Geduld hatten und wollten, dass der Vorleseakt länger anhält. Eine Studie von Mullan (2010) in Großbritannien belegte, dass Jungen mehr lesen, wenn sie ihre Väter als Lesevorbilder haben (vgl. Philipp 2011: S. 91). Nicht nur Mütter, sondern auch Väter nehmen eine wichtige Rolle ein, wenn es darum geht, Kinder zum Lesen anzuregen (vgl. Steinbrecher 2007: S. 13).

Lonigan (1994) fand heraus, dass ein früherer Vorlesebeginn durch die Eltern das Leseinteresse erhöht: Das frühe Vorlesen machte Kinder selbst zu

regelmäßigeren LeserInnen, die es mehr genossen, wenn ihnen vorgelesen wurde, interessierter zuhörten und das Interesse am Buch nicht so leicht verloren (vgl.

Steinbrecher 2007: S. 13f.).

Sowohl die Sächsische Studie zur Lesemotivation, bei der von Plath und Richter (2010) 750 sächsische GrundschülerInnen befragt wurden, als auch die Erfurter Studie (vgl. Richter/Plath 2005) unterstreichen die Wichtigkeit des Vorlesens innerhalb der Familie. Kinder, denen zuhause oft3 vorgelesen wird, weisen eine höhere Lesemotivation auf als Kinder, denen nie vorgelesen wird (vgl. Plath/Richter 2012: S. 488). Aus den beiden Studien geht deutlich hervor, dass sich Kinder, denen ohnehin schon viel vorgelesen wird, wünschen, noch mehr vorgelesen zu bekommen. Kindern, denen gar nicht vorgelesen wird, fehlt dieses ‚Ritual’ scheinbar nicht, denn sie äußern keinen Wunsch nach dem Vorlesen (ebd. S. 490). Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Vorlesens und der Entwicklung von Lesefreude, Lese- und Freizeitverhalten sowie den schulischen Leistungen: „Je häufiger in der Kindheit vorgelesen wurde – am besten täglich –, desto wahrscheinlicher eine positive Entwicklung“ (Ehmig/Reuter 2013: S. 27). Damit die Kinder möglichst viel profitieren, wird den Eltern geraten, ihnen täglich oder zumindest mehrmals die Woche vorzulesen und Geschichten zu erzählen (vgl. ebd.

S. 27f.).

Wieler (1997) erforschte in ihrer Studie zum Vorlesen in der Familie die Qualität des Vorlesens. Sie untersuchte den Zusammenhang zwischen den ersten Erfahrungen der Kinder mit Literatur und den Interaktions- und Gesprächsroutinen innerhalb der Familie in verschiedenen sozialen Milieus (vgl. Wieler 1997: S. 111).

Die Vorlesegespräche zwischen vierjährigen Kindern und ihren Eltern aus unterschiedlichen sozialen Schichten unterschieden sich dahingehend, ob Eltern die Bilderbuch-Kommentare ihrer Kinder berücksichtigten oder nicht. Es zeigte sich, dass Eltern aus niedrigeren sozialen Schichten das kindliche Nachfragen eher abwehrten oder nur kurz beantworteten, während Eltern aus mittleren sozialen Schichten auf die Fragen der Kinder ausführlich eingingen. Vorlesesituationen in Familien aus höheren sozialen Schichten bezeichnet Wieler als ‚offene’ familiale Vorlesepraxis, da sie meist in einen ausführlichen dialogischen Austausch zwischen Eltern und Kindern münden. Im Gegensatz dazu bezeichnet sie Vorlesesituationen in Familien aus niedrigeren sozialen Schichten als ‚geschlossen’, da es sich hierbei

3 Oft bedeutet hier täglich oder mehrmals wöchentlich.

meist um ein monologisches Vorlesen handelt, bei dem das Kind nur als ZuhörerIn fungiert (vgl. Wieler 1997: S. 313-317). Da Vorleseprozesse, bei denen ein Text lediglich mitgeteilt wird, jüngere Kinder nicht erreichen, setzt sich Wieler (1997: S.

319) dafür ein,

die gemeinschaftliche Bilderbuch-Rezeption in der Familie verstärkt auch als Anlaß für den kommunikativen Austausch mit dem Kind wahrzunehmen. Wie die Untersuchung zeigt, entscheidet die dialogische Struktur des Vorlesens darüber, inwieweit es den Vierjährigen gelingt, ihre Verstehensfragen und Verstehensprobleme bei der Bilderbuch-Rezeption zur Sprache zu bringen und einer Lösung zuzuführen (Wieler 1997: S. 319).

Nicht nur das Vorlesen selbst, sondern auch die Vorlesesituation ist von Bedeutung, um das Vorlesen als etwas Positives zu erfahren. Diese sollte als etwas Außergewöhnliches angesehen werden und sich vom Alltag abgrenzen. Zwischen dem Kind und dem/der Erwachsenen, der/die vorliest, wird für die Zeit des Vorlesens eine intime Beziehung aufgebaut (vgl. Steitz-Kallenbach 2003: S. 30f.), die sich positiv auf die Lesemotivation in der Grundschule auswirken kann. Kinder, die viel-lesende Eltern haben, lesen häufiger, wenn ihnen in vertrauten, von Nähe und Dialogizität geprägten Situationen vorgelesen wird (vgl. Philipp 2011: S. 93ff.). Beim Vorlesen ist es besonders wichtig, als Vorlesende/r auf die Forderungen des Kindes einzugehen. Dies bedeutet, dass das Kind entscheidet, wann umgeblättert wird und dass sich der/die VorleserIn auf Fragen und Gedachtes des Kindes bewusst einlässt (vgl. Steitz-Kallenbach 2003: S. 31). Nachweislich sind Mütter aus mittleren sozialen Schichten im Vergleich zu Müttern aus niedrigen sozialen Schichten besser in der Lage, beim Bilderbuchlesen einen Dialog zwischen ihnen und ihren Kindern aufzubauen und die Kinder dazu zu bringen, sich auf die Geschichte zu konzentrieren (vgl. Philipp 2011: S. 100). Für Mütter aus einer niedrigeren sozialen Schicht ist es wichtig, dass ihre Kinder den Sinn eines Textes ‚begreifen’, während Mütter aus höheren sozialen Schichten eher der Verständigung über den Text und der Anschlusskommunikation zum Gelesenen Bedeutung zuschreiben (vgl.

Hurrelmann 2000: S. 912). Schon in den 1990er-Jahren konnten Hurrelmann et al (1993) nachweisen, dass bereits in der frühen Lesesozialisation die Qualität der Gespräche über das Gelesene eine bedeutendere Rolle spielt als die Quantität des Vorlesens (vgl. Hurrelmann 2000: S. 912). Sonnenschein und Munsterman (2002) fanden heraus, dass die Lesemotivation in der ersten und zweiten Klasse stark von den erlebten positiven Interaktionen beim Vorlesen abhängt (vgl. Philipp 2011: S.

90).

Da die Familie einen so starken Einfluss auf die Lesesozialisation hat, gestaltet es sich meist schwierig, später die Einstellungen gegenüber dem Lesen und den Lesegewohnheiten zu verändern (vgl. Böck 2007a: S. 34). Für die Schule ist es oft schwer, dieser Chancenungleichheit entgegenzuwirken (vgl. Garbe 2010: S. 178).