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6. Korpus und Methodeninventar: von teilnehmender Beobachtung zur

6.3. Gesprächsanalytische Grundlagen

6.3.1. Konversationsanalyse

Die Konversationsanalyse oder conversation analysis (im Weiteren als CA abgekürzt) ist ein Ansatz der talk-in-interaction Forschung, die aus der in den 1960er - 1970er Jahren entwickelten Ethnomethodologie stammt. Diese in der Soziologie entstandene Forschungsrichtung wurde von Harold Garfinkel entwickelt und bezieht sich auf „the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishment of organized artful practices of everyday life“ (Garfinkel, 1967: 11). Diese Form der Analyse versucht, durch das systematische Aufdecken der dem alltäglichen Handeln zugrunde liegenden Mechanismen eine Antwort auf die die Soziologie von jeher beschäftigende Frage zu geben, wie denn soziale Ordnung möglich sei (Garfinkel, 1967). Soziale Tatsachen, so eine der Prämissen von Garfinkel über die ethnomethodologische Konversationsanalyse, sind keine vorgegebenen Größen, sondern werden „erst durch wechselseitig aneinander orientierte und sich gegenseitig interpretierende Handelnde lokal, also Schritt für Schritt, hervorgebracht und verstanden“115. In der Praxis versucht Ethnomethodologie, Methoden bzw. Grundregeln von Handlungen und Ereignissen zu finden, die die Mitglieder einer Gesellschaft in ihrem Alltag gebrauchen. Diese Methoden bzw. Grundregeln werden später interpretiert und angedeutet, wie ten Have (2007) erwähnt, da Garfinkels Interessen ursprünglich nicht auf die in einer Interaktion verwendete Sprache bezogen waren, sondern darauf, wie „common-sense activities are accomplished by social actors“ (Limberg, 2010: 60).

Das von Garfinkel aufgestellte Forschungsprogramm wurde von Emanuel Schegloff, Harvey Sacks und Gail Jefferson als wichtige Vertreter der CA, die sich ein neues Paradigma in der Soziologie-Forschung mit neuen Ideen und anderen neuen Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse entwickelten116, auf die Untersuchung verbaler Interaktion übertragen und unter dem Begriff der „Konversationsanalyse“ bekannt gemacht:117

„Konversationsanalyse bezeichnet einen Untersuchungsansatz, dessen Ziel es ist, durch eine strikt empirische Analyse ‚natürlicher’ Interaktion die formalen Prinzipien und Mechanismen zu bestimmen, mittels derer die Teilnehmer an einem sozialen Geschehen ihr eigenes Handeln, das Handeln anderer und die aktuelle Handlungssituation in ihrem Tun sinnhaft strukturieren, koordinieren und ordnen“ (Bergmann 1994: 3)118.

115 Ibid.

116 Im Weiteren siehe u. a. ten Have (2007), Holly (2001), Egbert (2009).

117 Für einen Überblick vgl. Bergmann 1994, Levinson 1990: 283 - 367; Heritage 1985, Streeck 1983.

118 Zitat in Sonnenberg (2000: 23).

Der Fokus von CA liegt auf “(the) interactional organization of social activities“ (Hutchby und Wooffitt, 1998: 14). Der methodische Ansatz von CA geht davon aus, dass die soziale Struktur nicht a priori vorkommt, sondern von der Fähigkeit der Beteiligten während der Interaktion bedingt wird, und diese entwickelt sich dynamisch weiter. Dieser Ansatz stimmt mit Heritage (1997) überein: „social context is a dynamically created thing that is expressed in and through the sequential organization of interaction“(1997: 223).

Das Kennzeichen einer konversationsanalytischen Untersuchung ist also eine strikt phänomenologische, induktive Herangehensweise, die auf der Grundlage von authentischen Daten eine Rekonstruktion der gesprächsimmanenten Logik und Dynamik sowie der Interpretationen der Gesprächsteilnehmer durchführt; jedes Gesprächselement, auch wenn es zunächst noch so zufällig und irrelevant erscheinen mag, muss als prinzipiell wichtig für die Analyse erachtet werden;119 die

„orthodoxe“ Richtung der Konversationsanalyse bei Schegloff, Jefferson und Sacks geht dabei von der Annahme einer selbstexplikativen Qualität der Daten aus.120 Detaillierte Untersuchungen liegen hier etwa zu Bereichen der interaktiven Konstruktion von Redebeitragen (sog. „turns“)121, der sequentiellen Organisation des Sprecherwechsels („turn taking“)122, Reparaturmechanismen („repair“)123 und vielen Aspekten mehr vor.

Zentrales Erklärungsmoment beim Nachweis von Gesprächsstrukturen ist die Annahme von Er- wartbarkeitsbeziehungen, sog. „konditionelle“ oder „bedingte Relevanzen“ (Schegloff 1972: 363 zitiert von Sonnenberg 2000: 24) zwischen bestimmten Typen von Äußerungen. Ist beispielsweise ein erster Teil eines „Nachbarschaftspaars“ („adjacency pairs“)124 vorhanden, so wird ein zweiter Teil konditionell relevant, beispielsweise macht die Frage eines Sprechers eine Beantwortung durch seinen Gesprächspartner erwartbar. Potentiell sind immer mehrere „zweite Teile“ denkbar, die Bindungen zwi-schen dem ersten und dem möglichen zweiten Teil sind jedoch unterschied- lich stark ausgeprägt und in einer „Präferenzhierarchie“ (Schegloff, 1972) nach dem Kriterium

„bevorzugt“ vs. „nicht-bevorzugt“ angeordnet.125 Das Konzept der konditionellen Relevanz stellt ein für den Zusammenhang zentrales Untersuchungsinstrument dar; schließlich gibt erst die Art der Anschlusshandlung, also der „zweite Teil“, gleichsam retrospektiv Aufschluss darüber, ob der Gesprächspartner seinen Vorredner verstanden hat:

„In diesem Sinne liefern Erwartbarkeitsbeziehungen den Rahmen, innerhalb dessen Interaktionspartner ihre eigenen Handlungen und Partnerhandlungen in prospektiver und retrospektiver Beziehung zu folgenden und vorangegangenen Aktivitäten auf unterschiedlichen Ebenen einbetten und interpretieren und damit einerseits Verständigung herstellen und andererseits auch überprüfen“ (Selting, 1987: 43).

119 Aus diesem Grund existiert eine ausgearbeitete Methodologie im Sinne eines Katalogs konkreter Anweisungen, weil eine Einengung der Analyse durch vorformulierte Regeln und Kategorien verhindert werden soll; vielmehr soll der Analysierende die jeweiligen Methoden in Auseinandersetzung mit dem konkreten Untersuchungsmateri- al herausbearbeiten. Vgl. Günthner (1993: 31 f.)

120 Vgl. Schegloff (1987), darüber hinaus auch: Günthner (1993: bes. 30 ff.)

121 Vgl. hierfür Levinson 1990, bes. 285 ff. Die wechselseitige Bezugnahme der Konversationsanalyse: Sacks/Scheg- loff/Jefferson 1974. Vgl. auch dazu Sacks/Schegloff/Jefferson 1977 und Schegloff/Sacks 1973. Dazu wird gesagt,

„wir müssen sofort sagen, dass das hier eingeführte Konzept der Präferenz insofern kein psychologisches ist, als es sich nicht auf das von individuellen Sprechern oder Hörern Bevorzugte bezieht. Vielmehr lässt sich Gesprächs- partner beispielsweise ihre Redebeitrage zeigen, wie Bergmann erläutert: „Dieses Partikularisierunsprinzip des

„Recipient Design“ ist seiner Funktion nach darauf angelegt, rasches Verstehen zu ermöglichen und gleichzeitig der Entstehung von Verständigungsproblemen vorzubeugen“ (Bergmann, 1994: 14).

122 Dazu: Sacks/Schegloff/Jefferson 1974.

123 Vgl. dazu Sacks/Schegloff/Jefferson 1977.

124 Vgl. dazu Schegloff/Sacks 1973.

125 Vielmehr ist es eine strukturelle Vorstellung, die dem linguistischen Konzept der Markiertheit eng verwandt ist.

Im wesentlichen sind bevorzugte zweite Teile unmarkiert – sie kommen als strukturell einfachere Redebeitrage vor; dagegen sind nicht-bevorzugte zweite Teile durch verschiedene Arten struktureller Komplexität markiert“

(Levinson, 1990: 306).

60 Korpus und Methodeninventar: von teilnehmender Beobachtung zur ethnographischen Gesprächsanalyse

Untersuchungsgegenstand der Konversationsanalyse bilden nur diejenigen Phänomene, die tatsächlich im Gespräch realisiert werden. Die Phänomene, die bei den Gesprächspartnern ablaufen, wie mentale Prozesse, Intentionen und Motive, können bei der Konversationsanalyse nicht ohne sprachliche Belege berücksichtigt werden. Sonnenberg (2000: 25) hebt die Erläuterung von Hinnenkamp (1998: 64) über den Untersuchungsgegenstand der Konversationsanalyse folglich so hervor:

„Verstehen in der Konversationsanalyse ist also lokal bzw. genauer: lokal-retrospektiv. [...]

Dies heißt nun nicht, dass es keine Missverständnisse gibt, wo keine auffliegen; oder dass eine Frage keine Frage ist, weil sie nicht als solche behandelt wird. Dies heißt zunächst einmal, dass die Konversationsanalyse sich aus methodologischen Erwägungen dafür nicht interessiert.

Das konversationsanalytisch-ethnomethodologische Interesse ist die strukturell-sequentielle Aufschließung von kommunizierten Alltagspraktiken [...] und zwar durch die und anhand der nachweisbaren konversationellen Praktiken der Teilnehmer im Vollzug („as-they-go-along“) und wie sie sich diese Praktiken selbst reziprok als füreinander bedeutsam anzeigen. Verstehen ist somit gezeigter Vollzug von Bedeutung und Bedeutung ist angezeigtes Verstehen“ (Hinnenkamp, 1998:

64 f.).126

Nach den oben beschriebenen Erläuterungen können drei grundlegende Prinzipien der CA zusammengefasst werden, nämlich: (1) ein Gespräch schärft den relevanten Kontext, zum Beispiel: ein Sprecher deutete auf sich, um ein Gespräch zu beginnen; (2) der Sprecher schafft, erläutert oder erneuert den Kontext, indem er vorgibt, dass einige „Actions“ von den nächsten Sprechern übernommen würden oder übernommen werden könnten (Erneuerung von Kontext in dem Gespräch); und (3) durch die Erschaffung ihrer nächsten „Actions“, in dem der Sprecher die vorherige „Action“ versteht und ähnliche „Actions“ auf die nächste Ebene führt.127

Abgesehen von den soziodemographischen Attributen wie Geschlecht, soziale Schicht usw. oder von der psychologischen Interpretation z.B. der Intention organisieren die Gesprächsbeteiligten ihr Gespräch in bestimmter Art und Weise, um sich zu verstehen. Auf die Organisation eines Gesprächs durch die Gesprächsbeteiligten fokussiert die CA-Forschung. Verbale oder nonverbale Sprechhandlungen werden „kreiert“, um die folgenden „Actions“ oder „Handlungen“ durchzuführen, wie: „[…] asking, answering, disagreeing, offering, contesting, requesting, teasing, finessing, complying, performing, noticing, announcing, promising, and so forth. […] inviting, announcing, telling, complaining, agreeing, and so forth“ (Schegloff, 2007: 7).

Im Prinzip verläuft die konversationsanalytische Vorgehensweise, wie Nazarkiewicz (2010) zusammenfasste, wie folgt: (1) Erhebung und Aufbereitung natürlicher Daten, (2) sequenzielle Analyse von authentischem und feintranskribiertem Untersuchungsmaterial, (3) Suche nach Regelmäßigkeiten mit relativer oder zwingender Erwartbarkeit, (4) Rekonstruktion der Relevanzstruktur der Beteiligten (keine Spekulation über die Gedanken, was in den Köpfen der Beteiligten vor sich gehen mag), (5) Beachtung des Äußerungszuschnitts (recipient design), (6) Berücksichtigung der Kontextualisierung und gegebenenfalls Hinzunahme ethnographischen Wissens.

Die klassischen CA-Forschungen stellen die Organisationstruktur eines Gesprächs wie turn- taking, sequence organization, turn design und repair mechanism (e.g. Schegloff 1972; Schegloff und Sacks 1973; Sacks et al. 1974 bis Egbert 2009) dar. In ihrer Entwicklung ist die auf der Ethnomethodologie basierende CA nicht ohne Kritik, weil sich diese Forschung so sehr auf der Mikroebene bewegt, dass sie den Kontext herausnimmt und ahistorisch ist, wie ten Have (1991, 2007), Schiffrin (1994), Gumperz (1999), Deppermann (2000) oder auch Drew (2004) erläutern.

Von daher entwickeln sich innerhalb der letzten 20 Jahre weitere Forschungen im Bereich

126 Ibid.

127 Für weitere Erklärungen siehe Heritage (1997). Vgl. dazu auch Schegloff, Sacks (1973), Schegloff (1984), Herita- ge (1984), Schegloff (1992), Hutchby und Wooffitt (1998).

applied conversation analysis (Angewandte Gesprächsforschung), die andere Bereiche mit konversationsanalytischen Methoden analysieren, wie Spracherwerbs- und Sprachlehnforschung, Fremdsprachenlernen und -lehren, Sprachpathologie, sprachliche Schwierigkeiten sowie der Bereich interkultureller Kommunikation und institutioneller Kommunikation.128