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Kommunikative Gattungen in der interkulturellen Kommunikation

4. Kommunikative Gattung

4.2. Kommunikative Gattungen in der interkulturellen Kommunikation

abgeleitet“ sind, d. h. sie werden nicht von „einzelnen Interagierenden ständig neu konstituiert, sondern vom gesellschaftlichen Wissensvorrat ‚bereitgestellt‘“ (Luckmann, 1988). Folglich lösen verschiedene kulturelle Gruppen bestimmte kommunikative Aufgaben auch unterschiedlich.82

„Das Repertoire der Gattungen“83 variiert nach Günthner (2007) von Kultur zu Kultur,84 da eine kommunikative Gattung der einen Kultur beispielsweise in einer anderen Kultur nicht existiert oder es scheinbar gleiche Gattungen gibt, die aber unterschiedlich wahrgenommen werden. Es könnte auch sein, dass es hybride Formen einer kommunikativen Gattung in einer Kultur als Mischung und/oder Abweichungen von einer Gattung in anderen Kulturen gibt. Diesbezüglich erklärt Günthner (2007) weiter, dass kulturell verschiedene Gattungstraditionen Konsequenzen für die interkulturelle Kommunikation mit sich bringen, meist in Form von Missverständnissen.

Sie unterscheidet diese Konsequenzenfolgendermaßen:

(1) Nicht-Verfügen über die betreffende Gattung

Günthner (2007) beleuchtet, dass eine Kulturgemeinschaft für eine immer wiederkehrende kommunikative Aufgabe eine bestimmte konventionalisierte Form zur Lösung dieser Aufgabe hat, während in einer anderen Kulturgemeinschaft keine feste Gattung für das betreffende Problem zur Verfügung steht. Beispielsweise sind universitäre Sprechstundengespräche in Deutschland eine feste Institution, sodass StudentInnen mit der Gattung Sprechstundengespräche relativ rasch umgehen können und damit Erfahrung haben. Diese Erfahrung umfasst Wissen darüber, dass ein Sprechstundengespräch im Büro eines Professors bzw. eines Dozenten oder einer Dozentin stattfindet und es eine bestimmte festgelegte Zeit gibt (z.B. an einem bestimmten Wochentag und zu einer bestimmten Uhrzeit). Dieses Gespräch beinhaltet feste kommunikative Rollen, in diesem Fall Professor/DozentInnen vs. StudentInnen. In dieser Gesprächssituation weiß man auch, wie

78 Günthner/Knoblauch (1994: 704).

79 Dieser Begriff ist nach Bordieu (1990) in Günthner (2001: 20) zitiert.

80 Die Zitate von Bourdieu und Gumperz kommen in Günthner (2001: 20) vor.

81 Vgl. Günthner (2001: 20 f.).

82 Vgl. Günthner (2001).

83 Günthner (2007: 378).

84 Siehe auch Günthner (1993, 2001) und Günthner/Luckmann (2001, 2002).

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man das Gespräch beginnt, welche Fragen und Probleme man dort bespricht und welche nicht und wie man das Gespräch beendet.

In der indonesischen Kulturgemeinschaft existiert beispielsweise diese institutionelle Gattung nicht, was dazu führen kann, dass indonesische Studierende in Deutschland zunächst mehr oder weniger Probleme mit der kommunikativen Gattung des akademischen Sprechstundengesprächs an deutschen Hochschulen haben.85

(2) Unterschiedliche Realisierung scheinbar gleicher Gattungen

Ein weiteres Problem der interkulturellen Kommunikation tritt nach Günthner (2007) dann auf, wenn „scheinbar gleiche Gattungen kulturell unterschiedlich realisiert werden“86. Kotthoff (2002) verdeutlicht diese Problematik in ihrer Forschung über wissenschaftliche Vorträgen von deutschen und russischen Wissenschaftlern, die auf kulturspezifische Differenzen in der Ausführung der Gattung wissenschaftlicher Vorträge verweisen. Ein Beispiel für ihre Forschungsergebnisse ist, dass während deutsche Vorträge thematisch meist stark fokussiert sind, der thematische Skopus sehr weit reicht oder die Unterthemen bei den deutschen Vorträgen häufig explizit genannt werden, ist dies bei den russischen Vorträgen nicht der Fall. Laut Günthner (2007) sind kulturelle Unterschiede in der Aktualisierung kommunikativer Gattungen nicht nur auf mündliche Genres beschränkt, sondern auch auf schriftliche Genres, wie Kirkpatrick (1991) die Informationsdarlegung in chinesischen „letters of request“ im Unterschied zu amerikanischen analysiert.

(3) Unterschiedliche Funktionen und Bewertungen scheinbar gleicher Gattungen

Ein weiterer Aspekt der Gattungsforschung, der für die interkulturelle Kommunikation relevant ist, betrifft nach Günthner (2007) kulturell unterschiedliche Funktionen und Bewertungen scheinbar gleicher kommunikativer Gattungen. Sie gibt als Beispiel die Anwendung von Sprichwörtern in der deutsch-chinesischen Kommunikationssituation, da die chinesischen Interagierenden Sprichwörter sowohl in schriftlichen als auch in mündlichen Texten benutzen und sie nicht nur in informellen Kommunikationssituationen zitiert werden, sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten, die sie auf Deutsch verfassen. Die Benutzung von Sprichwörtern in der deutschen Kulturgemeinschaft hat aber eine andere Funktion, und zwar als eine „Volksmoral im weiteren Sinne“87. Dadurch zeigt Günthner in ihrer Forschung (1993) den Transfer der eigenen Gattungskonventionen und der damit verbundenen eigenkulturellen Bewertung in die andere Fremdsprache, dieser Transfer könnte eine neue hybride Form einer kommunikativen Gattung bilden.

(4) Die Emergenz neuer, hybrider Formen in der interkulturellen Kommunikation In einer interkulturellen Kommunikationssituation kehren die Interagierenden keineswegs nur zu ihren eigenen Gattungstraditionen zurück, sondern sie bilden anhand ihrer vorherigen Erfahrungen und ihres Vorwissens über die neue Fremdkultur, neue Formen oder Mischformen von Gattungen heraus. Dabei zeichnen sich nach Günthner (2001) immer wieder „hybride Formen“ ab, die sich eindeutiger Zuordnungen wie Übertragungen aus der einen oder anderen Kommunikationskultur entziehen.88 Zu diesen Mischformen und Hybriditätsphänomenen kommt es meistens in Kommunikationssituationen bei Migranten.

85 Als Vergleich siehe auch Günthners Forschung über die Problematik der zu Sprechstunden gehenden chinesischen Studierenden an den deutschen Hochschulen in Günthner/Knoblauch (1994).

86 Günthner (2007: 378).

87 Bausinger (1968) in Günthner (2007:379).

88 Mehr dazu siehe Günthner (2001).

Eine Forschung von Tanja Bücker (2006), die Günthner in ihrem Beitrag zitiert, über die ethnolektalen Varietäten und identitätskonstituierenden Praktiken bei männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund legt dar, dass sich „rituelle Beschimpfungen“ und „rituelle Beleidigungen“

bei den bei Jugendlichen verwendeten Gattungen nicht nur auf Themen wie Homosexualität und Männlichkeit beziehen, sondern sich auch mit Versatzstücken aus Komödienfilmen und Hip- Hop-Musik mischen. Diese spielerischen Angriffe basieren nach Günthner (2007) einerseits auf „geteilten kommunikativen Praktiken, einer gemeinsamen Gruppenidentität und geteiltem Medienwissen, zum anderen stellen die Jugendlichen durch den Gebrauch dieser Hybridgattungen wiederum co-membership her“89.

Anhand der Beispiele veranschaulicht Günthner (2007) unterschiedliche Aspekte kulturell variierender Gattungstraditionen und deren Folge für interkulturelle Kommunikation. Hierbei, fasst Günthner zusammen, kommen nicht nur eigenkulturelle Gattungskonventionen wie Formen, Funktionen und stilistische Bewertungen, die auf die interkulturelle Kommunikationssituation übertragen werden, vor. Sie zeigen zudem die „Eigendynamik interkultureller Begegnungen, die Raum für die Entstehung neuer (Misch)Formen liefert“90.

Diese Dynamik kommt auch bei dem deutsch-indonesischen Beratungsgespräch vor, das möglicherweise eine neue Hybridform der Gattung „Beratung“ bildet.

4.3. Zwischenfazit

Der Begriff „kommunikative Gattung“ wurde in Anlehnung an Luckmann (1986) und Günthner/

Knoblauch (1994) als festgelegtes, aber auch veränderbares Gesamtmuster des Sprechens verstanden, das als Orientierungsrahmen vom gesellschaftlichen Wissensvorrat bereitgestellt wird und die Kommunikation vereinfachen bzw. überschaubar machen kann. Die kommunikative Gattung fungiert als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Sprache und existiert durch Routinewissen in der Interaktion. Mit kommunikativen Gattungen sollen gesellschaftliche Probleme durch spezifisch historische und kulturelle sprachliche Verfestigungen gelöst werden.

Gattungen können nach Luckmann (1986: 198) einerseits ein Zwang sein, weil sie kulturell und gesellschaftlich verfestigt und somit vorgegeben sind, andererseits aber entlastend, weil sie den Interagierenden als Orientierungsrahmen dienen. In einer Kommunikationssituation wie in einer Erstkontaktsituation kommen beispielsweise bestimmte abrufbare Gesprächsthemen wie Fragen nach dem Heimatort, Grund des Aufenthalts usw.91 teilweise kulturübergreifend als Orientierungshilfe zur Anwendung.

Andere spezifische Kommunikationssituationen sind auch im universitären Kontext zu finden.

Wenn Studenten fachliche Fragen an die Professoren haben, bieten sich konventionell in verschiedenen Kulturen spezifische Gattungen an. In Deutschland gehen sie beispielsweise in die von den Lehrenden angebotene Sprechstunde, statt diesen zu Hause anzurufen oder eine SMS zu schicken, was aber als ein übliches Mittel der Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden in Indonesien gilt, wo Studierende Fragen auch telefonisch stellen und besprechen können. Während einer Kommunikationssituation zwischen deutschen und indonesischen Universitätsvertretern könnte sich zum Beispiel die indonesischen Sprecher an der Gattung

„Sprechstunde“ stoßen und möglicherweise irritiert falsche Schlüsse ziehen, weil sie in ihrem kulturellen Alltag und ihren kulturellen Erfahrungen diese Gattung nicht haben oder diese anders dargestellt wird.92

89 Günthner (2007: 380).

90 Ibid.

91 Vgl. Heinze (2006) über interkulturelle Erstinteraktion als kommunikative Gattung.

92 Diese gilt es, in dieser Arbeit ethnographisch-gesprächslinguistisch zu belegen.

40 Kommunikative Gattung

Aufgrund ihres theoretischen und methodologischen Hintergrunds der kommunikativen Gattung erweist sich die Gattungsanalyse nach Günthner (2007: 382) damit als passendes Mittel für die Analyse interkultureller Begegnungen. Sie bietet anhand ihrer drei gegebenen Analyseebenen, nämlich Binnenstruktur, situative Realisierungsebene und Außenstruktur, einen konzeptuellen, methodologisch und theoretisch fundierten Rahmen, um:

(a) konkrete Gesprächs- bzw. Textanalysen mit größeren soziokulturellen Fragestellungen zu verbinden;

(b) situative Aspekte der Verwendung kommunikativer Praktiken vor dem Hintergrund sedimentierter, soziokultureller Wissensbestände zu betrachten;

(c) die Emergenz neuer Formen, die Versatzstücke tradierter Gattungsvorlagen aufgreifen und neu zusammenzusetzen, mit ihnen spielen und sie zu vermischen, zu analysieren (Günthner, 2007: 382).

Im Zusammenhang mit der Erforschung interkultureller Kommunikation ist es bei der Analyse einer kommunikativen Gattung interessant zu betrachten, ob in anderen Kulturen bzw. anderen Sprechgemeinschaften vergleichbare Gattungen zur Verfügung stehen, und wenn ja, wie die for- male Gestaltung der betreffenden Gattung aussieht, ob die vergleichbaren Gattungen in den ver- schiedenen kulturellen Gruppen vergleichbare interaktive Funktionen haben und ob eventuell kulturell divergierenden stilistischen Bewertungen aber vielleicht im Grunde gleiche Textgat- tungen gelten. Zunächst stellt sich auch die Frage, wie diese Differenzen im Zusammenhang mit kulturell vorhandenen kommunikativen Praktiken zu erklären sind, in welchen Kontexten und zu welchen Zwecken von den kanonisierten Formen abgewichen, oder gar mit ihnen gespielt werden kann. Eine Hybridform von Gattungen kann auch bei einer interkulturellen Begegnung existieren.

Inwiefern in diesen interkulturellen Begegnungen neue kommunikative Praktiken, hybride Gat- tungsformen entstehen und welche Funktion diese für die betreffenden sozialen Gruppen haben, werde ich in dieser Arbeit empirisch weiter analysieren.