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8. Fallanalysen

8.1. Analyse unmarkiert verlaufender Überschneidungs- situationen

8.1.4. Situationsbeschreibung des Fragments (4 ): „ich hab ZWEI sachen dabei“

8.1.4.1. Direkt-modalisierte Anliegensformulierungen

Anliegensformulierungen sind ein wichtiger und konstitutiver Bestandteil in Sprechstunden- oder Beratungsgesprächen. Sie gehören zu der zentralen Aktivität in institutionellen Diskursen, indem Probleme behandelt und Rat eingeholt werden. Das Wort „Anliegen“ selbst wird oft als substantivierter Infinitiv benutzt. Rost-Roth (2003: 1) betrachtet den Begriff

„Anliegensformulierung“ nicht nur in dem Kontext des Beratungsgesprächs, sondern auch im Kontext der Antragsbearbeitungsgespräche, indem das Anliegen die Funktion hat, zu erfahren, ob man etwas erhalten kann, etwas genehmigt wird oder Ähnliches.203 In Anlehnung an diese Erklärung wird die Anliegensformulierung so beschrieben, wie die Gesprächsbeteiligten ihre Sache, die ihnen auf dem Herzen liegt, formulieren. Die ihnen auf dem Herzen liegende Sache kann als Problem betrachtet werden, das durch die Beratung bewältigt werden kann.

Meer (2000)204 erläutert in ihrem Beitrag über positionsspezifische Aktivitäten in Sprechstundengesprächen, dass die Aktivitäten der an Sprechstundengesprächen Beteiligten positionsspezifisch unterschiedlich verteilt sind. Diese Verteilung geht einher mit der von Nothdurft, Reitemeier und Schröder (1994) erläuterten Definition, dass das Beratungsgespräch als asymmetrischer Interaktionstyp gilt. Die Asymmetrie zwischen den Beteiligten, ist bereits unmittelbar sinnfällig durch die Bezeichnungen „Ratsuchender“ und „Ratgeber“205 für die beiden komplementären Beteiligungsrollen, die sich in Differenzen im Fachwissen, unterschiedlichen Sichtweisen auf den Gegendstand der Beratung, unterschiedlicher Distanz zum Problem, unterschiedlicher Betroffenheit und Unterschiede in den Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten manifestieren.206

Ausgehend von der Annahme, dass Lehrende und Hochschulmitarbeiter als VertreterInnen und AkteurInnen der Institution Hochschule gegenüber den Studierenden interaktionell in einer bevorzugten Position sind, soll es in der Analyse nach Meer (2000: 24) darum gehen, zu verdeutlichen, ob und wenn ja, welche Konsequenzen diese Tatsache für die konkret beobachtbaren Kommunikationsverläufe in Sprechstunden hat. Meer betrachtet die Anliegensformulierung in den Sprechstundengesprächen aus Sicht der Studierenden. Diese Anliegensformulierung bildet im Anschluss „an die meist kurzen Formen der Begrüßung im Regelfall thematisch den Ausgangspunkt des Sprechstundengesprächs“ (Meer, 2000: 24). Die Anliegensformulierung spielt also eine wichtige Rolle als Einstieg in das Gespräch, die zunächst einmal deutlich durch die Studierenden als „Ratsuchende“ bestimmt werden kann. Der Grund liegt nach Meer weiterhin darin, dass die Studierenden hier im Regelfall sich selbst anhand ihres Anliegens in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen müssen. Damit kommen den Studierenden an dieser

203 Vgl. Rost-Roth (2003: 1).

204 Vgl. Meer (2000: 23) in Boettcher und Meer (2000).

205 In einem anderen Beitrag benutzt Nothdurft den Begriff „Klient“ für Ratsuchende und „Agent“ für Ratgebende.

Vgl. Notdurft (1984).

206 Vgl. Nothdurft, Reitemeier, Schröder (1994: 7).

Stelle strukturell vordefinierte Initiativrechte und damit Einflussmöglichkeiten zu, mit denen sie in jedem Fall über den weiteren Verlauf der Sprechstunde mitentscheiden. In diesem Fall läuft das Gespräch anhand des Anliegens der Studierenden weiter. Im Umkehrschluss heißt das aber, dass die Lehrenden oder die Vertreter der Universität in dieser ersten Phase tendenziell in der Rolle der Reagierenden sind, dass sie abwarten müssen, welches Anliegen Studierende vortragen, um hierauf in irgendeiner Form reagieren zu können.207

Ausgehend von dem Ergebnis der im Rahmen des Projekts Sprechstundengespräche an der Hoch- schule durchgeführten Forschung erläutert Meer, dass Studierende ihre Anliegen zu Beginn der Sprechstunde zwar in unterschiedlicher Deutlichkeit (Umständlichkeit) formulieren, in einzelnen Fällen jedoch auch mehr als das anfänglich angeführte Anliegen vorbringen. Oft kommt es vor, dass Studierende ihre Möglichkeiten der Themenbestimmung gar nicht nutzen.

Die typische Form studentischer Anliegensformulierung, die auch häufig in der Untersuchung u. a. von Meer (2000) und Limberg (2010) erscheint, ist erst einmal die explizitierte Äußerung, worum es geht, wie im folgenden Auszug zu sehen ist:

D (15)

154 DSW1 : ä:hm-

155 [saya akan kuliah di manaDO:? (.) [ich werden studieren in Manado.

[Ich werde in Manado studieren.

156 [((Finger zeichnet etwas Metaphorisches auf dem Tisch)) 157 IDW : AW:H.

158 DSW1 : [di mm:- (.) [in mm:- (.)

160 [((Finger zeichnet etwas Metaphorisches auf dem Tisch, Blick zu IDW))

161 IDW : [auslandssemester?

162 DSW1 : [MUsim paNA:S.

[Jahreszeit heiss [Sommer.

163 [((nickt einmal, schluckt)) 164 ä:h dePAN?

vorNE?

nächsTER (Sommer)?

165 IDW : hm-mm. (.) 166 DSW1 : (.) dan:- (.)

und:- 167 itu:- (-)

das:-

168 [hanya untu:k ä:h tiga buLAN?

[nur fü:r ä:h drei MOnate?

169 [((Finger zeichnet etwas auf dem Tisch)) 170 IDW : ((nickt))

171 DSW1 : dan setelah saya mau (.) äh:m- und danach ich möchte

und danach möchte ich 172 mengam[bi:l- (.)

neh[me:n- (.)

173 [((ikonische Handgeste: etwas nehmen)) 174 semester libuRAN,

207 Meer (2000: 24) erläutert weiter, dass aus einer solchen Perspektive die übliche Eingangsformel von Lehrenden oder Universitätsvertretern „nehmen Sie doch Platz (.) was kann ich für Sie tun?“ wesentlich ambivalenter ist, als dies auf den ersten Blick erscheint. So liegt hier nach Meer vor dem Hintergrund des Gesagten die Vermutung nahe, dass diese Formel keineswegs nur dazu geeignet ist, die eigene Zugänglichkeit und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Darüber hinaus hilft die genannte Formel vor allem die an dieser Stelle einseitigen Initiativrechte der Rangniedrigen dadurch zu entschärfen, dass Lehrende sowie Universitätsvertreter in Form einer „Einladung zum Gespräch“ selbst initiativ werden. Mehr dazu siehe auch Meer (2000) in Boettcher, Meer (2000).

108 Fallanalysen

180 [((Handgeste, Blick zu IDW)) 181 IDW : [seperti PRAKtiKUM.

185 ((steht auf und geht zur anderen Seite)) 186 <<pp>hm-mm>(--)

189 [udah punya (.) tempat praktikumnya atau- (-) schon haben (.)ort Praktikum oder- (-)

Haben Sie den Praktikumsplatz gefunden oder

190 [((nimmt den Wasserkocher und tut in den DSW1s Becher rein)) 191 DSW1 : NE. oder [(-) ä:h miriam wollen suchen selbst oder [(-) ä:h wollen Sie (es) selber suchen.

200 [((geht zur anderen Seite))

201 DSW1 : [((rührt den Kaffee, Blick zum Becher)) 202 ÄH (.) ja.

209 IDW : bagus (--) kalau miriam mau (.) belajar.(-) gut (--) wenn miriam wollen (.)lernen.(-) gut (--) wenn Sie lernen (.) wollen.(-)

In dieser Sequenz formuliert DSW1 ihr Anliegen nach einem kurzen Überlegungssignal „ähm“

(Z. 154) mit gleichbleibender Intonation. Das Anliegen wird dann mit der „Hintergrundgeschich- te“ begonnen, indem sie Informationen über das Auslandssemester und Praktikum in Indonesien (Z. 155 - Z. 180) benötigt. Ihr Beitrag bzw. ihre Frage fordert Informationen von IDW mit der

„Hoffnung“, dass sie ihr helfen kann, einen Praktikumsplatz zu finden. Diese Hilfe wird aber von IDW initiiert, indem sie DSW1 fragt, ob DSW1 ihre Hilfe benötige oder DSW1 ihren Prakti- kumsplatz selber suchen wolle:

D (16)

198 mau saya toLONG? (.) wollen ich helfen? (.) soll ich Ihnen helfen? (.)

199 atau [(-) ä:h miriam mau cari sendiri. (-) oder [(-) ä:h miriam wollen suchen selbst oder [(-) ä:h wollen Sie (es) selber suchen.

200 [((geht zur anderen Seite))

Diese Fragen mit kurzen Pausen wären eine mögliche Redeübergaberelevanzstelle, die von DSW1 benutzt wird, um ihre Frage bzw. ihr Anliegen zu formulieren. DSW1 verwendet in diesem Fall eine typische Form explizierter studentischer Anliegensformulierung, die auch nach der aus Sicht des linguistischen Verfahrens durchgeführten Untersuchung der Anliegensformulierung von Rost-Roth (2003) u.a. durch Modalverben wie „(ich) wollte ...“, „ich möchte“, Konjuktivformen und anderen Modalisierungen, wie „würde“, „hätte“, „wollte“, eingeleiteten/indirekten Fragen, bestimmten Konjunktionen und Konjunktionaladverbien („allerdings“, „zwar“) charakterisiert ist, und zwar mit dem Modalverb „mau“ (dt. möchten, wollen) und dem Infinitiv „bertanya“ (dt.

fragen):

D (17)

203 saya mau bertanya- (.) ich wollen fragen danach möchte ich fragen 204 saya bertanya-

ich fragen ich frage

DSW1 scheint in ihrer Äußerung unsicher, da sie nach der kurzen Pause ihre Äußerung wiederholt.

Die kurze Pause als potentielle Stelle für die Redeübergabe wird von IDW noch nicht benutzt, um die Frage zu beantworten. Sie lässt DSW1 ihr Anliegen bzw. ihre Frage weiter formulieren (Z. 208). In diesem Fall spielt IDW ihre Rolle als Fremdsprachenlehrerin, die ihre Studentin auffordert, DSW1, die Fremdsprache im Gespräch anzuwenden. Diese Gelegenheit wird auch gegeben, weil DSW1 selber am Anfang des Gesprächs erläutert, dass sie versuchen wolle, ihre Frage auf Indonesisch zu stellen:

D (18)

152 DSW1 : ich hätte auf indo[nesisch formuliern,.

Im Gegensatz dazu verwendet DSM2 eine andere Form von Anliegensformulierung, und zwar mit direkt gegliederter Ankündigung, die er mit „zwei Sachen dabei“ (Z. 038) einrahmt:

110 Fallanalysen

D (19)

036 IDW : [äm mengobrol.

sich unterhalten 037 [JA.

038 DSM2 : [ja und bin halt JA[:H äh ich hab ZWEI sachen dabei

039 ich=

Da die Formulierung seines Anliegens nicht am Stück formuliert werden konnte und unterbrochen werden musste, weil IDW etwas vergisst, formuliert er danach sein Anliegen noch einmal mit dem Operator „wie gesagt“ als einem Erinnerungsaufruf. Dann kündigt DSM2 mit der vorstrukturierenden pre-pre-sequence (Z. 076 – Z. 077) das Thema an, das er mit IDW in der Sprechstunde besprechen möchte (Z. 077), wie es in der folgenden Sequenz sichtbar ist:

D (20)

075 DSM2 : ((hört auf zu schreiben, kein Blickkontakt)) 076 ja äh wie gesagt des ist zwei sachn die ich 077 <<acc>hier mit dir besprechn [möcht.>

078 [((Blickführung zu IDW))

079 IDW : [ja;

Die zu besprechenden Themen sind „diese sachen mit dem proJEKT.“ (Z. 081) und „wegen dem sprachtan[dem.“ (Z. 087), wie esin dem folgenden Auszug zu beobachten ist:

D (21)

080 DSM2 : [das ist einmal diese sachen mit dem proJEKT.

081 IDW : [ach du hast die sachen mit sehr gut.

082 DSM2: [ich hab das- 083 [((nickt)) 084 das da[bei.

085 IDW : [äh he;

086 DSM2 : und: wegen dem sprachtan[dem.

087 IDW : [ja.

088 DSM2 : das WOLlte ich <<pp>besprechn.>

089 ((schreibt weiter))

Der Rahmen des Anliegens wird mit „das WOLlte ich <<pp>besprechn.>“ (Z. 089) abgeschlossen.

Auf diese klar strukturierte Anliegensformulierung reagiert IDW sofort, als ob es als eine Erinnerung für sie gilt:

D (22)

091 IDW : ACH genau da ich muss unbedingt eine liste machen (0.1) um (.) 092 <<acc>herauszufinden.> (.) <<rall>WER braucht TAndem.>

093 DSM2 : [((schreibt)) 094 (2.0)

Da DSM2 keine Rückmeldesignale, weder verbal noch nonverbal, gibt und weiter schreibt (Z.095, Z.096), reformuliert IDW das Anliegen von DSM2 mit tag-positioniertem Partikel: „ja“ (Z. 095), das DSM2 auch mit der Begründung des Bedarfs an Sprachstandem ratifiziert:

D (23)

095 IDW : aber DU brauchst ja unbedingt [ja?=

096 DSM2 : [JA weil ich hab:keine-=

097 IDW : =werde ich gleich KUCKen.

098 DSM2 : =ÜBung mehr <<acc>ich merke das dass du->

099 ich hab vor [ZWEI jahrn,

100 [((ikonische Handgeste für die Zahl zwei)) 101 habe ich SO: gut indonesisch gesprochn.

102 ((Blickkontakt zu IDW))

Von dieser Begründung des Bedarfs wird aber dann direkt zu der Hervorhebung von Kenntnissen geleitet (Z. 098 – 102) und mit einem fixierten Blickkontakt zu IDW (Z. 102) versucht DSM2, IDW zu sichern. Diese Strategie ist gelungen, indem IDW seinen Kenntnisse zustimmt und ihm Lob und Wertschätzung gibt:

D (24)

103 IDW : ich MERke noch.(.)

104 du hat du KANNST <<h>noch>? (.)

105 ich weiss <<rall>dass ES bei dir so viel noch 106 [übrig bleib:t> das heisst vorher hast du bestimmt=

107 [((Zeigegeste)) 108 =schon sehr viel (.) 109 DSM2 : JA. das [ist=

110 IDW : [ja‘ ja‘,

Die Beispiele zeigen einen anderen Fall im Vergleich zu der Studie von Nothdurft (1994), in dem den Dozenten bzw. den Ratgebenden im Zuge der Problempräsentation oder Fragestellen eine eher passive Rolle zufällt. IDW versucht hier bei DSW1 und DSM2 durch anregende Fragestel- lungen sowie durch Lob und Wertschätzung, das Anliegen bzw. die Frage stärker einzugrenzen und voranzutreiben. Weiterhin ermutigt sie DSW1 und DSM2, in dem sie die Aufmerksamkeit auf noch nicht oder bisher unzureichend berücksichtigte Aspekte lenkt.

Diese Aufmerksamkeit sowie die Ermutigung zeigt IDW auch in dem Gespräch mit DSW1 mit relativ vielen Rückmeldesignalen wie „AW:H.“(Z. 158), „hm-mm. (.)“ (Z. 166, Z. 209) oder „äh- he.“ (Z. 177) oder mit Nicken sowie mit Entscheidungsfrage wie „[auslandssemester?“ (Z.

162) oder mit „Verstärkungsfrage“ wie:

D (25)

188 IDW : mau di mana. (.) wollen wo. (.)

wo wollen Sie (das machen).

189 [udah punya (.) tempat praktikumnya atau- (-) [schon haben (.)ort Praktikum oder- (-) [Haben Sie den Praktikumsplatz gefunden oder

Diese Rückmeldesignale bzw. -fragen zeigen nicht nur das Dabeisein von IDW, sondern auch ihre Ermutigung für DSW1, damit sie weiter versucht, auf Indonesisch zu sprechen und ihre Beteiligung in dem Gespräch bzw. an dem von DSW1 dargestellten „Problem“, um eine Antwort bzw. eine Lösung zu geben. Dieses Phänomen kommt in allen Gesprächen vor.

Die spezifische Akzentuierung der Problempräsentation sowohl implizit als auch explizit durch die „Anliegensformulierung“ (z. B.: ich möchte mich gern ..., ich möchte wissen ..., können Sie mich bitte aufklären ..., ich weiss nicht ..., ich interessiere mich für ..., oder Ähnliches) fordert laut Nothdurft den Ratsuchenden und den Ratgebenden zur Beteiligung an der Lösung des Problems auf. Diese „Aufforderung zur Lösungsbeteiligung“ hat zwei Aspekte: Einmal wird die Beteiligungsleistung des Beraters nach Art einer Vorgabe inhaltlich vorstrukturiert, zum anderen wird ihm – im formaleren Sinne – überhaupt erst die Aufgabe gestellt, sich an der Lösung des Problems zu beteiligen. Sie wird ihm durch die Aktivitäten des Ratsuchenden zugeschrieben.

Die Form der Anliegensbearbeitung ist normalerweise durch eine Frage-Antwort-Sequenz gekennzeichnet, wie es auch in diesem Fragment dargestellt ist.

112 Fallanalysen

Im anschließenden Gespräch mit IDW habe ich erfahren, dass sie versucht, sich mit ihren StudentInnen außerhalb der Klasse so viel wie möglich auf Indonesisch zu unterhalten, auch in ihren Sprechstunden. Didaktisch gesehen ist es natürlich sinnvoll, weil die Sprechstunde auch eine Gelegenheit darstellt, diese Fremdsprache außerhalb der Klasse mit Muttersprachlern zu üben.