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6. Korpus und Methodeninventar: von teilnehmender Beobachtung zur

6.2. Datenrepräsentation

Die aufgenommenen Beratungssituationen werden zunächst transkribiert. Transkribieren als eine Verschriftlichung von authentisch Gesprochenem ist nach Redder (2001: 1038) „eine Tä- tigkeit, die wissenschaftliche Ausbildung und beständige Reflexion, ja Interpretation verlangt“.

Die Flüchtigkeit des Gesprochenen wird mittels einer Transkription verfestigt, sodass man es für Analysezwecke wiederholt betrachten kann. Dadurch unterscheidet sich die Transkription von anderen Schriften bzw. Schriftsystemen, da ein Transkriptionssystem nicht nur für kommunika- tive, sondern auch für analytische Zwecke erstellt wird. Der Transkriptionsprozess verläuft aber nicht ohne Probleme. Einerseits soll ein Transkript die original im Gespräch auftretenden sprach- lichen Handlungen (Face-to-Face Kommunikation) im Medium der Schriftlichkeit ausdrücken können, andererseits gibt es bei der Präsentationsform nach Redder noch mangelhafte Systeme für die systematische Verschriftlichung aller nichtsprachlichen bzw. parasprachlichen begleiten-

den Faktoren. Redder (2001: 1038) bezeichnet es als „eine paradoxe Problemstruktur“, wenn ein Transkript „der Situationsentbindung und Überlieferung im Wissenschaftsprozeß“ dient und da- her Züge eines Textes trägt. Dieser „Text“ soll jedoch zugleich in seinen originalen, situationsge- bundenen Mündlichkeitsmerkmalen so vollständig wie möglich durchsichtig bleiben, beispiels- weise bei prosodischen Merkmalen wie Akzent oder Intonation. Damit soll die Präsentationsform als Text und Inhalt differenziert werden und beide sind sogleich in eine rezipierbare Einheit zu bringen. Deshalb wurden Transkriptionssysteme entwickelt, um wiederholt auftretende Proble- me empirischer Linguistik und anderer kommunikationsbezogener Disziplinen mit Verfahren der Feldforschung, wie Gumperz/Hymes (1964) sie begonnen haben, zu lösen.

In der Entwicklung der Transkriptionssysteme und ihrer aktuellen Systematisierung ist es laut Redder (2001: 1039) wichtig, dass ein Transkriptionsverfahren grundsätzlich für arbeitsteilige Spezifikationen offen sein sollte. Dies erweist sich aber zugleich als eine klare Differenzierung von Besonderheiten und allgemeinen Sprachbegriffen, die nicht nur sprachliche Teile repräsentieren können, sondern auch paraverbale, nonverbale, aktionale oder proxemische Anteile. In Bezug auf Gumperz/Hymes‘ Ethnographie des Sprechens verweist Redder (2001: 1040) weiter darauf, dass die Transkription über das Verbale hinaus diejenigen Ausdrucksmittel wiedergeben sollte, die den Zwecken der sprachlichen Interaktion dienen, die also solche für das gesellschaftlich verbindliche Verstehen des kommunikativen Geschehens wesentlichen Handlungselemente darstellen.

Zusammen mit der Entwicklung der Konversationsanalyse (conversation analysis) erarbeiteten Schegloff und Jefferson ein Transkriptionssystem, das in den anglosächsischen Ländern weit ver- breitet ist. In den deutschsprachigen Ländern wurde Ende der 1970er Jahre ein computerbasier- tes Transkriptionssystem namens HIAT (halb-interpretative Arbeitstranskription) von Ehlich und Rehbein (1976) entwickelt. Dieses partiturbasierte Transkriptionssystem ist in Deutschland und in den Niederlanden weit verbreitet und gilt als Basis für die weitere Entwicklung der ebenfalls par- titurbasierten und computergestützten Transkriptiossysteme wie EXMARaLDA oder ELAN.108 Die jüngst vorgelegten und weiterentwickelten Transkriptionsverfahren sind GAT (gesprächs- analytisches Transkriptionssystem) (1998) und GAT 2 (2009) von Selting et al. Im Gegensatz zum partiturbasierten Transkriptionssystem wie HIAT oder EXMARaLDA hat GAT ein laufen- des Textformat. Es ermöglicht, einen Gesamteindruck explizierter auf Anhieb zu gewinnen. Der Verzicht auf Partituren sowie die verschiedenen Notationslayouts und Sonderzeichen ist ein Aus- druck der explizierten Auffassung, dass einerseits beliebige Textprogramme wie Word genutzt werden sollen, andererseits Möglichkeiten in bestimmten Systemen selbstverständlich sein mö- gen. GAT enthält auch die Notationsvorschläge für paraverbale oder nonverbale Sonderzeichen.

Des Weiteren verschieben sich die Zeilenzählungen von GAT bei Korrekturen oder Präzisierun- gen erheblich, was in der Regel manuell nachgebessert werden muss.109

Aus diesem Grund nutzte ich GAT 2 als Transkriptskonvention für meine erhobenen Datenmaterialien. Das Transkribieren selber erfolgte mit der Hilfe des Transkriptionsprogramms F4.110 Weil eine Transkription immer von den konkreten und sich gegebenenfalls verändernden Analyse- und Darstellungsinteressen abhängig ist, wird deshalb ein Mindeststandard für Transkriptionen gesprochener Sprache, v.a. im Rahmen von Gesprächsanalysen, festgelegt.111 Dieser Mindeststandard (Basistranskript) kann dann im weiteren Forschungs- und Arbeitsprozess wie auch für Spezialfragestellungen und -bedürfnisse nach dem „Zwiebelprinzip” weiter ausgebaut und verfeinert werden. Deshalb treten in dieser Arbeit zwei Arten von Transkriptionen

108 Mehr über diese Transkriptionsprogramme sind unter folgender Website zu finden: http://www.exmaralda.org/ und http://tla.mpi.nl/tools/tlatools/elan/elan-description/

109 Vgl. auch Redder (2001: 1056).

110 Mehr über dieses Programm siehe http://www.audiotranskription.de/f4.htm?refID=go/f4 Software/f4%20transkri ption&emsrc=kw&gclid=CNe2jtvr8akCFQIt3wodRmtsYg (zugegriffen am 14.12.2011, um 21:22 Uhr).

111 Vgl. Selting et al. (1998).

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auf, nämlich die Basistranskription und die fein detaillierte Transkription. Für die Analyse wird die Basistranskription anhand des gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT 2)112 von Selting et al. (2009) weiter bearbeitet und verfeinert.

Die insgesamt 406:66 Minuten von 16 basistranskribierten Beratungsgesprächen sind meine primär-empirischen Daten, auf die sich diese Arbeit stützt. Als „primär“ bezeichne ich solche Daten, die in natürlichen Interaktionssituationen aufgezeichnet wurden. Im Einklang mit dem Arbeitsvorgehen der Konversationsanalyse, die ich hier als Hauptmethodik nutze, um die Gespräche zu analysieren, suchte ich nach der Erhebung und Aufbereitung natürlicher Daten sequentielle Auffälligkeiten von authentischen und transkribierten Untersuchungsmaterialien, die meines Erachtens mit dem Ziel meiner Forschung übereinstimmen. Daraus entwickelte ich die Hypothesen und Fragestellungen dieser Arbeit.

Diese transkribierten Materialien habe ich als Fragmente nach dem Prinzip der Fallbeispiel-Me- thodik für die weitere Analyse ausgewählt.113 Die ausgewählten Fragmente vertreten in meiner Beobachtungsperspektive markierte und unmarkierte Auffälligkeiten in den deutsch-indonesi- schen akademischen Beratungssituationen im Gesprächsverlauf einer Beratung wie Eröffnungs- situation, Anliegensformulierung, Anliegensbearbeitung bzw. Lösungfindung, Vorschläge bzw.

Beratung und Beendigungssituation. Für diese Einteilung des Gesprächsablaufs einer Beratungs- situation stütze ich mich besonders auf die Theorie von Nothdurft (1984), Boettcher und Meer (2000) sowie Meer (2003).114 Außerdem haben die ausgewählten Fragmente ausreichende Ähn- lichkeiten, die bei der Außenstruktur der kommunikativen Gattung Beratungsgespräch, in diesem Sinne Sprechstunde im akademischen Bereich, auftreten, und zwar ist dies eine ähnliche Kommu- nikationssituation von institutioneller Beratung, ähnliche ethnische und kulturelle Gruppierung, nämlich deutsche und indonesische Gesprächsbeteiligte, sowie ein ähnliches Bild der sozialen Position, nämlich Ratgebende und Ratsuchende, in diesem Sinne Dozenten und Studenten. Die ausgewählten Fragmente beinhalten auch Gesprächssituationen, in denen meines Erachtens Über- schneidungen bzw. Missverständnisse sowohl unmarkiert als auch markiert entstehen könnten, die ich für die Analyse fokussiere.

Die für die Fallanalyse ausgewählten Fragmente werden fein transkribiert und im Kapitel 8 als Basis für die weitere sequentielle Analyse eingefügt. Diese feintranskribierten Fragmente können sich über bis zu zwei Seiten erstrecken, weil ich die Transkription anhand der Intonationsphase nach der GAT-Konvention teile und interlineale und freie Übersetzung vom Indonesischen ins Deutsche für Äußerungen auf Indonesisch einsetze. Die grobe Transkription von den 15 Gesprächen wird im Anhang dieser Arbeit dokumentiert.

Die weiteren sequentiellen Analysen werden verwendet, um auffällige Phänomene während der Interaktion zu finden und sie gesprächanalytisch zu kategorisieren. Anhand welcher Kriterien ein Phänomen als auffällig gilt, werde ich im Kapitel 6 weiter erklären. Diese Kategorisierung könnte als Voraussetzung für die Musterhaftigkeit der deutsch-indonesischen Beratungssituation im akademischen Bereich gelten, die dann mit ähnlichen Auszügen im ganzen Datenkorpus zunächst weiter belegt werden. Das Ergebnis sollte danach in die Erarbeitung einer Gattung einbezogen werden.

Basierend auf diesen Überlegungen und Kategorisierungen wurden folgende Fragmente hergestellt und lassen sich in der folgenden Tabelle als Überblick sichtbar machen:

112 Mehr dazu siehe Selting et al. (1998) und (2009).

113 Über diese Methodik werde ich im Kapitel 6.3 ausführlicher berichten.

114 In neueren Forschungen werden Abweichungen vom Hauptschema der Beratungssgespräche aufgezeigt. Diese sind zum Beispiel in den Arbeiten von Zegers (2004), Limberg (2010) oder Kiesendahl (2011) enthalten.

Überschneidungssituation Titel der Fragmente Gesprächssituation Gespräch- shandlung

Unmarkiert-verlaufend

„seLAmat PAgi.“

(dts. „Guten Morgen“) Gesprächseröffnung Begrüßen

„nama saya‘ fe[ri“

(dts. „mein Name ist Feri“) Gesprächseröffnung Identifizieren

„ich habe ZWEI sachen dabei“

Anliegensformulie rung

Formulieren des

Anliegens

„saya mau bertanya-“

(dt. „ich möchte (etw.) fragen“)

“teri[ma kasih banyak ya;”

(dt. „vielen Dank, ja“)

Gesprächs-beendigung

Bedanken

Markiert-verlaufend

„apa kabar miriam.“

(dt. „wie geht’s Miriam“) Gesprächseröffnung Begrüßen

„DIA masih es em pe.-“

(dt. „er ist noch in Mittelschule“) Gesprächseröffnung Identifizieren

„katanya kuliah di jerman itu:“

(dt. „das Studium in Deutschland sollte …“)

Anliegensformu- lierung

Formulieren des Anliegens

„abe: er kommt aus de ä:

ehemaligen de de [ER. (.)“

Diskussion Bewerten

„das ist typisch jawa“

„mein SOHN hat einen

unfall gemacht-“ Diskussion Erzählen

„aber ich BIN ja immer da ne.“

Gesprächsbeendi- gung

Anbieten

„kita bertemu lagi minggu depan.“

(dt. „wir sehen uns nächste Wo- che wieder.“)

Verabschieden

Tabelle 4: Übersicht der Fragmente

58 Korpus und Methodeninventar: von teilnehmender Beobachtung zur ethnographischen Gesprächsanalyse

Dieses Kapitel stellt den Forschungsüberblick und dessen Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit dar, die ich als Basis für die weitere Analyse und Interpretation nutzen werde.

Die gesprächslinguistischen Grundlagen erlauben eine Übersicht über die Perspektiven und Arbeitsverfahren der sprachlichen Interaktionsforschung wie Konversationsanalyse (6.2.1), funktionale Pragmatik (6.2.2), Gesprächsanalyse (6.2.3) und Ethnographische Gesprächsanalyse (6.2.4). Anhand dieser ausgewählten gesprächslinguistischen Arbeitsverfahren soll eine passende Methode für die Analyse meiner Daten bestimmt werden.

Die folgenden Kapitel geben Forschungsüberblicke über gesprächslinguistische Ansätze und Studien, die für diese Arbeit relevant sind.