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9. Zusammenfassung und Ausblick

9.1. Schlussfolgerung und Diskussion

9.1.2. Aufbaustruktur des Beratungsgesprächs

Unterschiedliche institutionelle Kontexte bieten verschiedene interaktionale Möglichkeiten bei dem turn-taking System. Diese interaktionalen Möglichkeiten sind anders als das gewöhnliche Gespräch sind und sich der situativen Kontingenz des institutionellen Settings (Drew und Heritage, 1992) anpassen. Die vorliegende Studie untersucht akademische Sprechstunden- bzw.

Beratungsgespräche auf verschiedenen Analyseebenen, die sowohl die gesamte Interaktion der Sprechstunde als auch ihre sequentiellen Strukturen innerhalb der einzelnen Gesprächsphasen umfassen. Die gesprächsanalytische Methode als qualitative Methode bietet ein Analysemittel zur Untersuchung der Dimensionen von interaktivem Verhalten der Gesprächsteilnehmer, um die Gespräche im akademischen Bereich von anderen Gesprächstypen unterscheiden zu können und deren spezifische Charakteristika herauszuarbeiten zu können.

Eine Sprechstunde bildet eine in sich geschlossene Diskurspraxis im wissenschaftlich- akademischen Kontext. Basierend auf dieser Annahme wurden Teile dieser Diskussion extrahiert und in einer bestimmten Reihenfolge nach dem Verlauf der Interaktion angeordnet, genauer sind das Gesprächseröffnung, Anliegensformulierung, Diskussion und Gesprächsbeendigung. Der empirische Prozess der vorliegenden Stuide weist bei Sprechstundengesprächen eine umfassende strukturelle Zusammensetzung von Sprechstundengesprächen auf, die von Lehrenden und Studieren konstruiert werden. Sie richten ihr Gesprächsverhalten aufeinander aus, um das

Gespräch bzw. die Diskussion durchzuführen.

Wie in anderen institutionellen Gesprächen haben Sprechstunden- bzw. Beratungsgespräche ein Kernschema des Gesprächsverlaufs, nämlich Prä-interaktion mit summons-answer-Sequenz;

Gesprächseröffnung einschließlich Begrüßungen, Identifizierung/Anerkennung und andere non- verbale Aktivitäten wie Betreten des Raumes oder Platz nehmen; Anliegensformulierung; Prob- lembearbeitung einschließlich Problemidentifikation, Diskussion und Bearbeitung, indem Infor- mationen, Vorschläge, Diskussion und feedback gegeben werden; eventuelle Wiedereröffnung des Themas oder Bildung eines neuen Themas; wrapping-up talk mit implizierten Gesprächsbeendi- gungszeichen wie Verabredung treffen, künftige Aufgabe organisieren; Gesprächsbeendigung mit rituellem Dankesaustausch, Verabschiedung, pre-closing; Post-Interaktion der Gesprächsbeendi- gung wie Nachbesprechung des Themas in einer weiteren Sprechstunde, in der Klasse oder per E-Mail.

Trotz der klaren Liste dieser Kernkomponenten ist die Gesprächsstruktur eines Sprechstunden- und Beratungsgesprächs komplexer als die oben genannte Übersicht. Es gibt mehrere Teilphasen in der Diskussion, die zusätzlich auftreten, zum Beispiel können mehrere neue Themen in der Diskussion mit einem zweiten oder sogar dritten Anliegen von den Studierenden auftauchen.

Zusätzlich kann es zu Pre- und Post-Interaktion kommen. In der Pre-Interaktion zeigen die Teilnehmer ihre Orientierung auf das Gespräch während der Sprechstunde, das entweder im Voraus geplant ist oder unmittelbar bevorsteht, wenn die Studenten außerhalb des Büros auf die Sprechstunde warten.240 Die Interaktanten können danach über das gleiche Problem in einem anderen Beratungsgespräch oder nach dem Unterricht erneut diskutieren. Das Ergebnis dieser Gesprächsorganisation ist ein Beratungszyklus, bei dem auf eine Lehrende-Studierende- Interaktion in der Regel andere Sequenzen folgen, wenn auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge. In dem akademischen Kontext bilden Sprechstunden- und Beratungsgespräche einen wichtigen Bestandteil der Kontakte zwischen Lehrenden und Studierenden.

Die Hauptphase eines Sprechstunden- und Beratungsgesprächs, nämlich die Diskussion und die Bearbeitung des Anliegens, ist oft die komplexeste Phase, weil sie von der Anliegenformulierung abhängig ist. Es kann passieren, dass die Phase „nur“ aus einer einfachen Antwort auf die Frage der Studenten oder aus einer nonverbalen Aktion wie das Bereitstellen einer Unterschrift auf einem Formular besteht, obwohl auch diese Aktion meist von einem kurzen Gedankenaustausch beglei- tet wird. Im Falle einer komplizierteren wissenschaftlichen Agenda kann diese Hauptphase sich ausweiten. Normalerweise ist eine Sprechstunde zeitlich begrenzt. Dieses Phänomen erscheint in meinem Datenkorpus nicht, da die Sprechstunde nach Vereinbarung erfolgt. Wenn das nicht der Fall ist, kommen nur wenige Studenten bzw. Klienten zu der Sprechstunde, sodass sie mehr Zeit erhalten, über ihr Anliegen zu besprechen. In meinen Daten dauert das längste Gespräch gut eine Stunde, was für eine Sprechstunde eine angemessene Zeit ist, um über ein Problem zu diskutieren.

Die lineare Organisation im Hinblick auf Diskursphasen ist kein fester Bestandteil einer Sprechstundenstruktur, sondern sie gilt als eine koordinierte Verwirklichung der Teilnehmer in ihrem Versuch, eine erfolgreiche Beratung durchzuführen. Lehrende und Studierende nutzen verschiedene Wege bei der Herstellung ihrer Gesprächsaktivitäten, die für die Erforschung der Interaktion im institutionellen Kontext relevant sind. Viele Gesprächsaktivitäten kommen wiederholt in verschiedenen Formen vor, z.B. bei den Frage-Antwort-Sequenzen oder bei der Formulierung der Zusammenfassung. Einige Aktivitäten sind identisch mit Aktivitäten in den üblichen Sprechstundengesprächen und verweisen auf ihren institutionellen Kontext, wie beispielsweise bei der Wahl der Themeneröffnung, bei der Verwendung der kategorialen Identifizierung der Studenten oder beim Ausdrücken der Dankbarkeit. Im Gegensatz zu den bereits entstandenen Forschungen über Sprechstundengespräche im akademischen Bereich241

240 Vgl. pre-beginning in Whalen und Zimmerman (1987).

241 Vgl. u.a. Boettcher und Meer (2000), Meer (2003), Rost-Roth (2003), Limberg (2010).

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erscheint in meinen Daten das Phänomen der Frage nach dem Befinden. Diese „HowAreYou- Sequenzen“242 treten in den vorherigen Forschungen nur selten auf. Sie tauchen aber in allen in Hamburg aufgenommenen Gesprächen auf und gehören zu einer rituellen Gesprächseröffnung auch in der Sprechstunde. Ebenfalls zu der Gesprächseröffnung gehört in meinen Daten das Anbieten von Tee oder Kaffee. Dieses Phänomen wurde aber bei den in Indonesien aufgenommenen Daten nicht gefunden. Die Gespräche dort entsprechen der „normalen“ Struktur eines Sprechstundengesprächs in Deutschland. Deshalb zeigen diese Abweichungen, dass die Organisation eines Sprechstundengesprächs sowohl personenabhängig als auch diskurs- und kulturspezifisch ist. Jedoch ermöglicht uns die Fokussierung auf die Sprechhandlungen der Interaktanten zu sehen, wie flexibel und dynamisch die Handlungsstruktur einer Sprechstunde ist.

Obwohl es in der Tat nicht ungewöhnlich ist, dass eine bestimmte Aktivität verschoben oder durch eine andere Aktivität ergänzt wird, wurden die Gesprächsphasen trotzdem komplett eingeführt und behandelt. Ein Beispiel dafür ist bei der Selbstidentifikation der Studenten in der Eröffnungsphase zu finden. Studenten stellen sich eher selten mit Namen vor, wenn es nicht für die weitere Tätigkeit im Laufe der Sprechstunde nötig ist. Dies zeigt, dass persönliche Informationen im Allgemeinen für die weitere Bearbeitung des Anliegens irrelevant sind. In meinen Daten ist der Grund dafür, dass sich die Lehrenden und die Studierenden kennen, sodass es nicht mehr nötig ist, sich mit dem Namen vorzustellen. Die Namensbenennung kommt hingegen sogar eher von der Seite der Lehrenden vor, und zwar mit Vornamen. Dieses Phänomen ist nicht nur kulturspezifisch für Deutschland und Indonesien und hat die Funktion, die soziale Distanz zwischen den beiden Interaktanten zu verringern. Die einzige Selbstidentifikation mit Namensbenennung kommt in dem Gespräch GI-4 vor.

Wenn man über die Struktur eines institutionellen Gesprächs spricht, liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen mehreren verschiedenen institutionellen Gesprächen in der Identifizierung eines „Problems“. Das von den Studenten präsentierte Problem am Anfang der Sprechstunde zeigt einen gewissen „Plan der Handlung“, der sehr typisch für eine Beratung ist.243 Die Teilnehmer verwenden dieses Muster als eine Ressource, an der sie ihr Verhalten orientieren, um die Diskussion des Problems voranzutreiben und letztendlich zu einer Lösung bringen zu können.

Sprechstunden, in denen eine Haus- oder Abschlussarbeit diskutiert wird oder die Studierenden eine Auskunft über ein Praktikum oder Studium im Ausland holen möchten, verlaufen anders als ein allgemeines Beratungsgespräch. In solchen Fällen ist der Teil der Problempräsentation meistens nicht vorhanden.

Trotz bestehender Unterschiede in den Besonderheiten der Diskussion haben Sprechstundenge- spräche eine einzigartige Gesprächsstruktur. Ein Sprechstundengespräch besteht mindestens aus vier Gesprächsphasen, nämlich Gesprächseröffnung, Problempräsentation, Problembearbeitung und Gesprächsbeendigung. In jeder Phase sollte alles artikuliert und gegenseitig interaktiv bestä- tigt werden. Damit werden eventuell vorkommende Missverständnisse während des Gesprächs bearbeitet und geklärt. Die Besonderheiten eines Sprechstundengesprächs sind verschiedene Ge- sprächsaktivitäten, die die Weitergabe von Wissen, die Beratung oder die Bearbeitung anderer praktischer Fragen umfassen. Die Gesprächseröffnung und die Gesprächsbeendigung gehören ebenfalls zu den Kernphasen dieses Diskurstyps.

Wir können anhand dieser Besonderheiten feststellen, dass Sprechstunden- bzw. akademische Beratungsgespräche zu einer größeren kommunikativen Gattung der Experten-Laien-Interaktion gehören, die sich von gewöhnlichen Gesprächen unterscheiden lässt. Die Gesprächsteilnehmer befassen sich mit einzelnen Positionen im akademischen Kontext und verfestigen ihre Rollen, eine als Experten und eine als Laien, in der Sprechstunde. Die aktive Durchführung bestimmter Tätigkeiten innerhalb dieser Gesprächsphasen zeigt, wie die Gesprächsteilnehmer ihre Ziele in

242 Dieser Begriff ist von Limberg (2010).

243 Siehe Nothdurft et al. (1994), Nothdurft (1984) und Kallmeyer (1985, 2000).

der Sprechstunde oder Beratung als eine Form des institutionellen Gesprächs anzeigen und wie sie relevante Funktionen insbesondere der institutionellen Praxis charakterisieren.

Schließlich erfolgt in dieser Arbeit ein Vergleich zu früheren Studien über akademische Sprech- stunden- und Beratungsgespräche anhand der folgenden drei allgemeinen Beobachtungen: Ers- tens ist die zur Verfügung gestellte Zeit für die Sprechstunde in meinen Daten eher unbeschränkt, sodass das Anliegen sowie die Probleme der Studierenden ruhig und ausführlich bearbeitet wer- den können. Zweitens ist die Phase der Anliegensformulierung und der Problempräsentation, die als Basis für die weitere Bearbeitung des Anliegens und der Probleme gilt, zu nennen. Diese Phase ist von großer Bedeutung als Grundlage für den Lehrer, um Hilfe zu leisten, die sich speziell nach dem Empfänger richtet. Drittens gibt es Unterschiede in den strukturellen Rahmenbedingungen in jeder akademischen Institution und Kultur, besonders auch wenn die Gesprächsteilnehmer aus unterschiedlichen Kulturräumen kommen. Diese ergeben sich in bestimmten aufgabenbezogenen Aktivitäten während des Gesprächsverlaufs.