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7. Institutioneller Interdiskurs: deutsch-indonesische Ko-konstruktion von Beratung 73

7.5. Direktheit vs. Indirektheit

Die Terminologien „Direktheit“ und „Indirektheit“ werden häufig in der linguistischen Beschrei- bung verwendet, so als ob sie sich selbstverständlich erklären lassen. In der Tat werden sie je- doch durch ganz andere Phänomene, die durch völlig unterschiedliche Werte geformt werden, wie Wierzbicka (1991: 88) ebenfalls erläutert. Sie meint, dass die Verwirrung, die diesen Be- griff begleitet, mit der weit verbreiteten Unterscheidung zwischen sogenannten „direkten“ und

„indirekten“ Sprechakten verbunden ist, insbesondere zwischen „imperativ“ und sogenannten

„whimperatives“187 im Sinne von Wierzbicka (1991). So wird allgemein angenommen, dass, wenn man zu jemandem sagt: „Schließen Sie die Tür!“, das auch als einen „direkten“ Sprechakt versteht, während „Fragesätze“ wie „Könnten Sie bitte die Tür schließen?“ oder „Machst du bitte die Tür zu?“ als „indirekter“ Sprechakt verstanden werden. Obwohl diese besonderen Beispiele klar zu sein scheinen, ist es nach Wierzbicka keineswegs deutlich, wie diese unterschiedlichen Formen von Fragesätzen zu anderen Phänomenen und anderen Sprachen angewendet werden sollten, weil Imperativsätze in mehreren Kulturen und Sprachen andere Formen und Bedeutungen haben. Der Imperativ wird oft mit verschiedenen Modalpartikeln kombiniert. Dadurch klingen einige von ihnen etwas „ungeduldiger“, andere eher freundlicher, einige Partikel erweichen eine Aufforderung, im Gegensatz dazu verhärten einige Modalpartikel die Aufforderung und so wei- ter. Dazu stellt man sich die Frage, ob die Kombination eines Imperativsatzes mit Modalpartikeln ein „direkter“ oder „indirekter“ Sprechakt ist. Demzufolge gibt es im Einklang mit Wierzbicka keine allgemeinen Regeln, die uns ermöglichen, diese Frage zu beantworten.

184 Vgl. Kistler (2003: 179).

185 Ibid.

186 Vgl. Kistler (2003: 180).

187 Unter „whimperatives“ versteht man einen Fragesatz mit auffordernder illokutiver Bedeutung.

Wie ich in vorherigen Kapiteln erwähnt habe, kann man eigentlich nicht über eine indonesische Kultur im Sinne von Indonesien als einheitliche Nation sprechen, weil die „indonesische Kultur“

aus vielen unterschiedlichen regionalen Kulturen besteht. Historisch und politisch gesehen, ver- allgemeinert man die „indonesische Kultur“ mit „javanischer Kultur“, die man als Repräsentant

„indonesischer Kultur“ bezeichnet. Eine davon ist „die Terminologie“ der „Direktheit“ und „In- direktheit“. Nach Geertz (1961: 244) ist diese „Direktheit“ oder der sogenannte „Umweg“ ein wichtiges Thema in dem javanischen Verhalten. Er gibt auch das Beispiel des „Kyai“ (Koran- bzw. islamischer Religionslehrer), der den Leuten niemals explizit sagt, ob diese etwas falsch machen oder nicht. Er erzählt stattdessen eine kleine Geschichte oder Gleichnisse, durch die der Betroffene den Punkt weniger schmerzhaft erfahren kann. Damit erklärt Geertz weiter, dass man rasa188 über etwas, das die Leute sagen, haben sollte, um den wirklichen eigentlichen Inhalt der Geschichte oder der Äußerung erhalten zu können. Es wird immer wieder betont, dass alus189 Leute als „zivilisierte Menschen“ oft nicht gerne ausdrücklich sagen, was sie im Kopf haben oder denken.

„Indirektheit“, wie oben beschrieben ist, hängt eng mit anderen javanischen kulturellen Normen zusammen, was Geertz „dissimulation or pretence“ nennt oder ‚étok-étok‘ auf Javanisch. Zu dem Begriff erklärt Geertz Folgendes: „The characteristic quality of étok-étok, in contrast to our patterns of dissemblance, is not merely that it is far more prevalent and that it is largerly approved […] but that it need not have any obvious justification, being merely gratuitous. […] In general, polite Javanese avoid gratuitous truths“ (Geertz, 1961: 245 f. Hervorheb.i.O.). Das heißt, es wäre besser, wenn man sein eigentliches Gefühl versteckt und nicht deutlich ausdrückt, sondern im Gegenteil, es ist höflicher, wenn man diese „grundlose Wahrheit“ vermeidet. Es klingt vielleicht wie eine Lüge, ist es aber nicht, weil einem gelehrt wird, dass man sein eigenes Gefühl gegenüber anderen nicht direkt ausdrücken sollte.

Diese allgemeine kulturelle Norm der „Verhüllung“ oder des „Versteckens“, dass man anderen Menschen, besonders Fremden oder Gästen, seine eigenen eigentlichen Gefühle oder sogar diese

„grundlose Wahrheit“ nicht direkt sagt und nicht erzählt, erörtert Geertz wie folgt:

„The same sort of pattern is involved in the nearly absolute requirement never to show one’s real feelings directly, especially to a guest. Any kind of negative feeling towards another must be dissimulated. […] Strong positive feelings are also supposed to be hidden except in very intimate situations. The effort is to keep a steady level of very mild positive affect in interpersonal relations, an étok-étok warmth behind which all real feelings can be effectively concealed“ (Geertz, 1961:

246. Hervorheb.i.O.).

Dieses Prinzip gilt nicht nur für Gefühle, sondern auch für Wünsche, indem man seine Wünsche und seine Absichten verbergen sollte, vor allem wenn sie sich mit anderen Wünschen und Absichten überschneiden, zum Beispiel sollte man Bekannte oder sogar erst neu kennengelernte

„Fremde“ anrufen und einladen, vorbeizukommen. Es ist auch höflicher, ein Angebot für Essen und Trinken erst einmal abzulehnen, obwohl man Hunger oder Durst hat, bis der Gastgeber oder die Gastgeberin einen zum Essen oder zum Trinken „zwingt“. Im Gegensatz dazu sollte man es nicht ablehnen, wenn jemand um Hilfe bittet.

Dieses Konzept, dass man versuchen sollte, sein Gesicht sowie seine Ausdrücke neutral zu zeigen, manifestiert sich sowohl im verbalen als auch im nonverbalen Verhalten während der Interaktion. Somit verläuft Kommunikation wesentlich indirekter, indem man viele Andeutungen,

188 „Rasa“ wird hier als „Gefühl“ übersetzt, da das Wort „rasa“ nach dem deutsch-indonesischen Wörterbuch von Krause und Simon-Bärwinkel (1994: 381) auch andere Bedeutungen hat, nämlich „Geschmacksempfindung“,

„Empfinden oder Erachten“ und auch „Meinung“.

189 „Alus“ oder „halus“ bedeutet im deutsch-indonesischen Wörterbuch von Krause und Simon-Bärwinkel (1994:

104) 1. fein, zart, weich; 2. fein Benehmen; kultiviert, gepflegt Sprache; feinfühlig, edel; 3. immateriell; geistig, nicht körperlich. „Alus“ im Kontext von Geertz entspricht der zweiten Bedeutung des Wortes.

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Fragen und Beispiele verwendet, um seine Meinung auszudrücken und „Neutralität“ insbesondere gegenüber Fremden zu wahren. Man wird nie ein klares „Nein“ bzw. ein klares „Ja“ oder eine direkte Ablehnung hören, stattdessen gibt es Worte wie „mungkin“ (dt. vielleicht, wahrscheinlich, eventuell), „belum“ (dt. noch nicht) oder auch ein langgezogenes „i:ja::“, das in Interaktion manchmal Ablehnung symbolisiert. Auch das Schweigen, das manchmal vom Gesprächspartner als Ignorieren verstanden wird, könnte „nein“ bedeuten. Diskussionen, in denen konträre Ansichten aufeinander treffen, widersprechen dem indonesischen Harmoniestreben und werden vermieden, denn Ziel solcher Dissimulationen ist es letztendlich, gesellschaftliche Harmonie zu erzeugen. Dies steht im Gegensatz zu dem allgemeinen deutschen Kulturstandard, in dem Sprache und Formulierungen so exakt wie möglich gewählt werden, um Informationen möglichst deutlich zu übermitteln.

Diese indirekte Ausdrucksweise der Indonesier macht es aber notwendig, den gesamten Kontext einer Interaktion zu beachten: Wer spricht mit wem zu welcher Gelegenheit in welchem Tonfall etc., um den Inhalt der Mitteilung genau zu verstehen. Die indonesische Sprache ist aber auch dafür bekannt, dass sie von einem hohen Kontextbezug lebt, in dem es eine Vielzahl verbaler, nonverbaler und paraverbaler Zeichen gibt, die zu beachten sind.

Gerade in der deutsch-indonesischen Überschneidungssituationen, in diesem Fall die Interaktion in akademischen Beratungsgesprächen, sind die bekannte „indonesische Indirektheit“ und die

„deutsche Direktheit“ potentielle Punkte für Critical Incident-Situationen. Im Kapitel 8 wird dieses Phänomen empirisch detailliert analysiert.

7.6. Zwischenfazit

In konkreten interkulturellen Interaktionen, in diesem Fall in der Interaktion zwischen deutschen und indonesischen Interaktanten, findet ein komplexes Zusammenspiel von Prozessen statt, von denen manche normativ vorgeformt sind und andere eher als Ergebnis des interaktiven Wechselspiels gelten. Mit normativen Präferenzen könnte man nicht viel machen, da die Normen bisher in ihrem eigenen Alltag schon fest etabliert und sozialisiert werden.

Die geopolitischen, historischen und sprachlichen Verhältnisse in Indonesien sind durch jahrhun- dertelangen interkulturellen Kontakt mit anderen Kulturen geprägt. Dabei wurden Strukturen der Arbeitsteilung im Umgang mit Fremden entwickelt und tradiert. Eine hierarchische Gesellschaft wurde durch das Aufeinandertreffen von neuen Bevölkerungs- bzw. Migrantengruppen automa- tisch gebildet und beeinflusst die Interaktionsnormen in Indonesien. Königliche Herrschaften u.

a. Majapahit und Mataram auf Java etablierten ihre Fremdherrschaft über Tributzahlungen und die reziproke Vergabe von Titeln für lokale Herrscher.190 Die 350 Jahre dauernde holländische Kolonialherrschaft und die Unabhängigkeit Indonesiens 1945 änderten die feudalen Interaktions- normen der lokalen Machthaber. Kistler (2003: 104) zeigt eine Dichotomie der Interaktionsnor- men in Indonesien, indem die ursprünglich kosmologisch motivierte, quasi-feudale und später von den Holländern aufgegriffene Diskriminierung zwischen pribumi („Söhne der Erde“)191 und non-pribumi zwischen Inländern und immigrierten Arbeitskräften immer noch besteht. Sozial- psychologisch gesehen ist die indonesische Interaktionswelt klar in Kommunikation zwischen Mitgliedern von in-groups und Nicht-Mitgliedern, Fremden, Außenseitern, also Angehörigen von out-groups aufteilbar. Fremde könnten als potentielle Herrscher interpretiert werden. Damit ver- halten sie sich gegenüber Fremden in Form der sogenannten Patron-Klient-Beziehung. Diese Beziehung ist an den verbalen und nonverbalen Interaktionsformen erkennbar.

190 Vgl. Kistler (2003: 104).

191 Pribumi ist eine Bezeichnung für Einheimische. In Malaysia heißen die „Söhne der Erde“ bumiputera (bumi ist Erde, putera ist Sohn).

Aufgrund der vielfältigen Sprache und Kulturen in Indonesien ist es nicht möglich, von indonesischen Normen generell zu sprechen, wenn man an konkretem Sprach- und Datenmaterial arbeitet. Man kann aber durch die politische Bezeichnung des indonesischen Mottos „Einheit in der Vielfalt“ (bhinneka tunggal ika) und den im Jahr 1928 geschichtsträchtigen programmatisch verkündeten Jugendschwur „satu nusa, satu bangsa, satu bahasa: Indonesia“ (dt. „ein Land, ein Volk, eine Sprache: Indonesien) die „indonesische Kultur und Normen“ identifizieren, die das Verhalten und die Wahrnehmung auf konkreter Handlungsebene beeinflussen. Diese entsprechen Thomas‘ Kulturstandards (1991, 1993, 1996). Die konkrete Ausformung abstrakter Normen wie Harmonie, Gruppen- bzw. Kollektivorientierung, Familiensinn, Konfliktvermeidung etc. kann jedoch völlig unterschiedlich sein.

Das Beratungsgespräch im akademischen Bereich ist ein „kleines“ konkretes Beispiel für das Bild der indonesischen Gesellschaft. Eine Bildungsinstitution ist eine formelle Institution, die aber alle gesellschaftlichen Schichten direkt berührt. In dieser Institution findet man strenge hierarchische Formen, indem Lehrende beispielsweise eine größere mächtigere Rolle als „guru“ spielen, die manchmal für „das Leben der Studierenden“ mitverantwortlich sind. Die einzige persönliche Gelegenheit, mit den Lehrenden als „Wissender“ zu interagieren, bietet das Beratungsgespräch.

Informationen aus erster Hand, in diesem Fall von den Lehrenden, sind „valider“. Außerdem ist die Beziehungspflege mit den Lehrenden wichtig. Dies entspricht den durch Hierarchie maßgeblich strukturierten zwischenmenschlichen Beziehungen, die wiederum vom Prinzip des gegenseitigen Gebens und Nehmens geprägt sind.

Die für Lehrende angewandte Anrede wie „Bapak“ (dt. Vater) oder „Ibu“ (dt. Mutter) fordert Respekt und Gehorsam. Die „Untergebenen“, in diesem Fall Studierende, dienen ihm oder ihr folgsam, erwarten von ihm oder ihr aber eine wohlwollende Haltung und Hilfe in Notlagen. Dies verstärkt die Patron-Klient-Verhältnisse. Deshalb werden Kritik, Meinungsunterschiede oder Proteste in solchen Beziehungen nur indirekt vermittelt, damit man die Harmonie nicht stört oder das Gesicht nicht verliert. Hier gilt auch das Prinzip, dass man das Gesicht der anderen nicht verletzten darf. Neutrale Ausdrücke oder sogar Schweigen könnten als Zeichen der Unzufriedenheit oder Ablehung interpretiert werden.

Die Universität ist auch ein Ort, wohin Studierende aus verschiedenen Kulturgruppen und Sprach- räumen Indonesiens kommen, um dort zu studieren. Daran kann man die Pluralität der Kulturen Indonesiens erkennen. Jedoch bilden die universitären Angehörigen ihre eigenen Kulturen, näm- lich universitäre Kulturen nach dem Motto „Einheit in der Vielfalt“. Im Zusammenhang mit der Interaktion gegenüber Fremden ist die Universität, insbesondere in einer Beratungssituation mit nicht-indonesischen Interaktanten, ein geeignetes Beispiel. So kommt es auch oft zu einer Mi- schung aus formellen institutionellen Situationen sowie informellen Themen und Handlungen in der Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden.

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