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Einflussgröße Variabilität des Grundkörpers

Im Dokument Die Struktur der Stoffe (Seite 188-195)

7.3 Vielfalt der Kristalle

8.1.5 Nematische Phasen

8.1.5.5 Einflussgröße Variabilität des Grundkörpers

Im vorigen Abschnitt waren die Grundkörper eine mehr oder weniger lange Reihe von Benzolringen. Eine recht langweilige Angelegenheit ist das, und wenn Grundkörper im-mer so aussehen würden, wäre das Kapitel über Flüssigkristalle kurz.

Also haben die Forschenden begonnen, Grundkörper aus unterschiedlichen Baustei-nen aufzubauen. Eine große Vielfalt von BausteiBaustei-nen haben sie gefunden, und allein dar-über könnte man ein ganzes Buch schreiben. Aber ich will mich beschränken.

Der Maßstab für den Vergleich Ich habe 4–Pentyl–4’–cyano–biphenyl gewählt und werde diesen Stoff mit einer Reihe anderer, im Grundkörper ähnlich aufgebauter, Stof-fe vergleichen. 4–Pentyl–4’–cyano–biphenyl ist relativ lange bekannt und gut untersucht.

Seine Kurzbezeichnung ist 5CB, seine Summenformel lautet C18H19N und seine Struk-turformel und eine Molekülansicht finden Sie in Bild 8.18.

C N 8

Bild 8.18: Formel und Molekülansicht von 4–Pentyl–4’–cyano–biphenyl (5CB) (8)

Seine Moleküle bestehen aus mehreren Bausteinen :

ã Pentylgruppe : Es ist eine aliphatische Gruppe, relativ kurz, völlig unpolar und nicht polarisierbar, aber recht beweglich.

ã 2 Benzolringe : Sie sind starr miteinander verbunden, aber um die Bindung zwi-schen ihnen drehbar. Damit sich die Wasserstoffatome benachbarter Ringe nicht gegenseitig behindern, sind sie auch tatsächlich verdreht, so wie ich es schon im vorigen Abschnitt bei den Polyphenylen beschrieben habe. Wichtiger sind die de-lokalisiertenπ–Orbitale, die, wie in Bild 3.21 zu sehen, oberhalb und unterhalb des Ringes liegen (dort gelbbraun gezeichnet). In diesen Orbitalen sind natürlich

Elektronen. Das heißt, die Benzolringe sind polarisierbar, und zwischen den π–

Orbitalen der Benzolringe benachbarter Moleküle wirken van–der–Waals–Kräfte.

ã Cyanogruppe : Sie ist stark polar.

Die Phasenübergänge von8will ich hier nicht begründen, sondern als gegeben hin-nehmen und später mit anderen Stoffen vergleichen. Alle Phasenübergänge der Stoffe dieses Abschnitts habe ich in Tabelle 8.5 zusammengefasst. Für8selbst sind sie

5CB (8) : krist 24 N 35 isoFl.

8hat nur einen kleinen Temperaturbereich, in dem es eine Mesophase bildet, gerade mal 11 °C. Er liegt etwa bei Raumtemperatur, was für technische Anwendungen sicher ein Vorteil ist.

Varianten Hier werde ich die beiden Benzolringe von8in einer systematischen Wei-se (entsprechend den untersuchten Stoffen und orientiert an [43], S. 158 und [44], S. 97) durch 2 andere Strukturen ersetzen.

Diese beiden Strukturen sind

ã Der Cyclohexan–Ring. Er ist ein aliphatischer Sechsring. Durch die fehlende Aro-matizität entfallen die van–der–Waals–Wechselwirkungen aufgrund derπ–Orbitale, und der Ring ist kaum polarisierbar. Seine Form ist nicht mehr scheibenförmig flach wie der Benzolring, sondern linsenförmig. Damit nimmt er eine Zwischenstellung zwischen dem Benzolring und dem im nächsten Punkt folgenden Ring ein.

ã Der Bicyclo–octan–Ring. Er ist wie der Cyclohexan–Ring aliphatisch, kaum pola-risierbar und zeigt nur wenige Wechselwirkungen mit Ringen benachbarter Mole-küle. Seine Form ist annähernd kugelförmig8. In Bild 8.19 sehen Sie Form und Raumerfüllung der beiden Ringe.

Ersetzt man schrittweise die Benzolringe von8durch die anderen beiden Ringe, erhält man die Moleküle9,10,11und12, bei Ersetzung in anderer Ordnung13. Ihre Struktur-formeln finden Sie in Bild 8.20, die Phasenübergänge in Tabelle 8.5.

Überraschung Was ist wohl von diesen Molekülen zu erwarten ? Statt 2 Benzolrin-gen ist nur noch einer oder gar keiner mehr vorhanden. Die van–der–Waals–Wechselwir-kungen zwischen Benzolringen benachbarter Moleküle werden schwächer oder fallen ganz weg. Zwischen den unpolaren und Cyclohexan– und Bicyclo–octan–Ringen be-nachbarter Moleküle gibt es so gut wie keine Wechselwirkungen. Die Ordnung der ne-matischen Mesophase (vgl. Bild 8.14) bricht also bereits bei niedrigeren Temperaturen als bei8zusammen. Die Übergänge zwischen nematischer Phase und isotroper Flüssig-keit sollten also niedriger liegen. Und, tun sie das ? Nein, von einer Ausnahme abgesehen (13). Tabelle 8.5 zeigt viermal Übergänge bei immer höherer Temperatur.

8 Die Strukturformeln in Bild 8.20 führen in die Irre, denn sie suggerieren ein eher ebenes Molekül. Tatsächlich ist seine Form kaum mit irgend etwas aus dem Alltag vergleichbar, am ehesten vielleicht noch mit einem dreiflügeligen Propeller.

Bild 8.19:

3 Ringe mit unterschiedlicher Raumerfüllung, die in diesem Abschnitt vorkommen. Von links nach rechts ist es der Benzolring, der Cyclohexanring in der Sesselform und schließ-lich der Bicyclo–2,2,2–octanring.

Nummer Summenformel Ringe Phasenübergänge (in °C)

8 C18H19N Phenyl Phenyl krist 24 N 35 isoFl

9 C18H25N Cyclohexan Phenyl krist 31 N 55 isoFl 10 C18H31N Cyclohexan Cyclohexan krist 62 N 85 isoFl 11 C18H27N Bicyclooctan Phenyl krist 62 N 100 isoFl 12 C18H33N Bicyclooctan Cyclohexan krist 104 N 129 isoFl 13 C18H25N Phenyl Cyclohexan krist ?? N –25 isoFl

Tabelle 8.5: Einige mesophasenbildende Stoffe und ihre Phasenübergänge

Ist die eben beschriebene einfache und leicht zu verstehende Erklärung also falsch ? Einmal erklärt sie die Phänomene, viermal nicht. Man sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass mehrere Einflüsse gegeneinander spielen, und mal gewinnt der eine, mal der andere. Die Erklärung wäre dann nicht komplett falsch, nur unzureichend, wie oft bei komplexen Situationen.

Richtung und Orientierung Stehen mehrere Menschen nebeneinander, sind die Köpfe ungefähr auf der gleichen Höhe, ebenso die Füße. Das ist eigentlich immer so, und deshalb ist unser Gehirn seit der Kindheit darauf programmiert, sich nebeneinan-der stehende Menschen so vorzustellen, Kopf neben Kopf, Fuß neben Fuß. Niemandem käme es in den Sinn, etwas anderes anzunehmen, und schon die Idee, dass es einmal nicht so sein könnte, ruft Heiterkeit hervor. Und ganz automatisch, ohne nachzudenken, legt man diese Moleküle, die so aussehen, als hätten sie Kopf und Beine, genauso ne-beneinander. Auch ich habe das im ersten Moment getan.

Unausgesprochene und unbewusste Annahmen sind immer, nicht nur in der Wissen-schaft, eine Quelle von Fehlern.

C N 9

C N 10

C N 11

C N 12

C N 13

Bild 8.20: Formeln einiger von 4–Pentyl–4’–cyano–biphenyl (5CB) abgeleiteter Moleküle

Macht man sich die Annahme bewusst, sieht man das Ergebnis in Bild 8.21a. Die Ben-zolringe der beiden Moleküle liegen nebeneinander und ziehen sich durch die van–der–

Waals–Kräfte an. Die beiden Cyanogruppen liegen ebenfalls nebeneinander. Aufgrund der höheren Elektronegativität tragen die beiden Stickstoffatome eine negative Teilla-dung (durch einen roten Kreis markiert). Obwohl diese TeillaTeilla-dungen auf dem Bild recht weit voneinander entfernt erscheinen, ist die abstoßende Kraft doch so groß, dass diese Lage nicht stabil ist.

Die tatsächliche Situation zeigt Bild 8.21b. Die beiden Moleküle liegen immer noch nebeneinander, haben also die gleiche Richtung. Jedoch haben sie verschiedene Ori-entierung, so dass die Cyanogruppen weit voneinander entfernt sind. Man nennt diese Ausrichtung antiparallel (im Gegensatz zur Ausrichtung von Bild 8.21a, die parallel heißt).

Die Varianten Der Rest ist nun einfach. Man muss nur die Moleküle9bis12, und na-türlich auch die Ausnahme13, antiparallel nebeneinander legen und genau betrachten.

Die Bilder 8.22 und 8.23 zeigen solche Situationen.

Bild 8.21:

Zwei Moleküle von 4–Pentyl–4’–cyano–biphenyl (5CB) lagern sich in einer nematischen Phase aneinander. Die leicht polarisierbarenπ–Orbitale der Benzolringe habe ich durch einen Farbverlauf von schwach rot (wenig negativ geladen) zu schwach blau (wenig po-sitiv) markiert. Dieser Farbverlauf ist eine reale Momentaufnahme der Ladungsvertei-lung und veranschaulicht die Anziehungskräfte. Die Stickstoffatome sind von einem ro-ten Kreis (deutlich negative Ladung) überlagert, so dass ihre blaue Färbung nur noch schwach sichtbar ist.

a.) Die gezeigte parallele Ausrichtung der beiden Moleküle ist unrealistisch, da sich die Stickstoffatome zu sehr abstoßen.

b.) tatsächlich vorhandene antiparallele Ausrichtung.

Molekül 9 – Cyclohexanring und Benzolring 9 unterscheidet sich von 8 durch einen Cyclohexanring, der die Stelle eines Benzolrings einnimmt (Bild 8.22). Dieser Ring ist nicht polar und nur wenig polarisierbar. Van–der–Waals–Kräfte wirken hauptsächlich zwischen dem verbliebenen Benzolring des einen Moleküls und seinem Gegenpart im anderen Molekül. Da sich nur diese beiden Ringe anziehen, liegen nur diese beiden nebeneinander. Als Konsequenz wird das Ensemble aus 2 Molekülen länger. Die Konse-quenzen einer größeren Moleküllänge haben Sie im vorigen Unterabschnitt (Kap. 8.1.5.4) kennen gelernt. Schmelzpunkt und Klärpunkt liegen höher, und das wurde beobachtet.

Beide liegen nicht allzuviel höher, denn auch das andere Argument gilt noch immer : Geringere durch den Cyclohexanring verursachte van–der–Waals–Kräfte resultieren in niedrigen Schmelz– und Klärpunkten. Die beiden Effekte (Moleküllänge, wenig

polarisier-barer Cyclohexanring) wirken gegeneinander, der erste gewinnt, aber nicht allzu hoch, beim Fußball wäre es vielleicht 3 : 2.

C N C

N

Bild 8.22:

Zwei Moleküle von9lagern sich in einer nematischen Phase aneinander. Dieπ–Orbitale des Benzolrings habe ich wie in Bild 8.21 markiert. Das Dimer (Paar aus 2 Molekülen) ist länger als bei 5CB.

Molekül 11 – Bicyclooctanring und Benzolring 11unterscheidet sich vom vorigen Molekül9nur dadurch, dass statt dem Cyclohexanring ein Bicyclooctanring vorhanden ist. Lineares Weiterdenken hilft, das Verhalten dieses Moleküls zu verstehen. Der Bicy-clooctanring ist dicker als der Cyclohexanring (Bild 8.19). Die Entfernung zwischen ihm und allem, was in seine Nähe kommt (Nachbarmoleküle) ist geringer als beim Cyclohex-anring, die van–der–Waals–Kräfte stärker, Schmelz– und Klärpunkt höher als bei9.

Molekül 10 – Cyclohexanring und Cyclohexanring 10 ist 9 am ähnlichsten. 9 hat einen Cyclohexanring und einen Benzolring. Bei 10ist der Benzolring durch einen zweiten Cyclohexanring ersetzt. Auch um das Verhalten dieses Moleküls zu verstehen, braucht man nur linear weiterdenken.

5CB hatte 2 Benzolringe, deren π–Orbitale Wechselwirkungen mit den beiden Ben-zolringen eines zweiten gleichen Moleküls eingehen konnten. Bei 9 war nur noch ein solcher Ring vorhanden. Bild 8.22 zeigt die Auswirkungen : Längeres Dimer, dadurch hö-herer Schmelz– und Klärpunkt als erster Effekt, weniger Wechselwirkungen, da nur noch ein Benzolring, dadurch Absenkung von Schmelz– und Klärpunkt als zweiter Effekt. Der erste gewinnt.

10besitzt überhaupt keinen Benzolring mehr, es gibt also überhaupt keine Wechsel-wirkungen durchπ–Orbitale mehr. Zur Bildung von Dimeren tragen nur noch die beiden Cyanogruppen bei, deren Atome (Stickstoff und Kohlenstoff) polar sind. Bild 8.23 zeigt den Aufbau des Dimeren. Es ist lang. Dadurch steigen Schmelz– und Klärpunkt, auch gegenüber9. Das ist der erste Effekt. Der zweite Effekt sind die nochmals geringeren van–der–Waals-Kräfte. Deren Auswirkung ist die Absenkung von Schmelz– und Klär-punkt. Wieder gewinnt der erste Effekt. Schmelz– und Klärpunkt von10liegt höher als der von9(Tabelle 8.5).

C N N C

Bild 8.23:

Zwei Moleküle von10lagern sich in einer nematischen Phase aneinander. Das Dimer (Paar aus 2 Molekülen) ist länger als bei 5CB und länger als das Dimerenpaar von9in Bild 8.22.

Molekül 12 – Bicyclooctanring und Cyclohexanring Man kann12mit10und11 vergleichen.

Vergleicht man es mit 10 (2 Cyclohexanringe), so wurde ein Cyclohexanring durch einen Bicyclooctanring ersetzt. Man kann die Argumentation übernehmen, die ich bei11 benutzt habe, denn dort wurde gegenüber9ebenfalls ein Cyclohexanring durch einen Bicyclooctanring ersetzt. Hier wie dort ergibt sich ein höherer Schmelz– und Klärpunkt.

Vergleicht man es mit11(Bicyclooctanring und Benzolring), so wurde ein Benzolring durch einen Cyclohexanring ersetzt. Man kann die Argumentation aus dem Abschnitt über Molekül10übernehmen. Es ergab sich ein höherer Schmelz– und Klärpunkt.

Insgesamt ist zu erwarten, dass12den höchsten Schmelz– und Klärpunkt aller 4 ver-glichenen Moleküle (9,10,11und12) hat. Tatsächlich ist die Erwartung eingetreten.

Molekül 13 – Benzolring und Cyclohexanring 13hat wie9einen Cyclohexanring und einen Benzolring. Es unterscheidet sich nur in der Reihenfolge der beiden Ringe (Bild 8.20). Trotzdem ist sein Klärpunkt 80 °C niedriger als der von9(Tabelle 8.5).

Warum ist das so ? Die Reihenfolge der beiden Ringe ist der einzige Unterschied, und da liegt es nahe, zu vermuten, dass er auch der Grund für das unterschiedliche Verhalten ist. Die nächste Frage wäre, welche Auswirkungen eine solch unterschiedliche Reihenfolge zweier Ringe haben könnte. Bei sehr vielen Fragen in diesem Buch spielen elektrische Ladungen eine große Rolle. Ob das auch hier so ist ?

Die Frage kann jetzt so formuliert werden : Ändert sich das Zusammenspiel der elek-trischen Ladungen in 13 gegenüber dem in 9 aufgrund der anderen Reihenfolge der Ringe ?

Ja, das tut es. Dieπ–Orbitale des Benzolrings sind polarisierbar. Das heißt, sie können einen Dipolcharakter annehmen. Sie können das, wenn elektrische Ladungen in ihrer Nähe sind. Bei9hat die stark polare Cyanogruppe (Kohlenstoffatom mit positiver, Stick-stoffatom mit negativer Teilladung) diese Aufgabe übernommen. Dadurch konnten sich Dimere, wie in Bild 8.22 gezeigt, entstehen. Bei 13 ist die Cyanogruppe zu weit vom

Benzolring entfernt, um das leisten zu können. Der Benzolring ist so gut wie gar nicht polarisiert, es wirken nur sehr geringe Kräfte zwischen 2 Molekülen, es bilden sich keine Dimere, und der Klärpunkt ist niedrig.

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