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Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Philosophische Fakultät I Institut für Ethnologie & Philosophie Seminar für Ethnologie

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Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Philosophische Fakultät I

Institut für Ethnologie & Philosophie Seminar für Ethnologie

Postkoloniale Subjektivitäten - Ethnizität, Entwicklung und Eliten im Kontext formeller Bildung in Benin

Masterarbeit von

Sophie Knabner

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Inhalt

1. Einleitung 4

1.1. „Das ist mit der Schule nicht zu vereinbaren“ 4 1.2. Fragestellung und theoretischer Hintergrund 5

2. Hintergründe von Zugehörigkeit und Differenz: Die Erfindung der Fulbe 10 2.1. Koloniale Politik: Die Anfänge von Ethnifizierung und Traditionalismus 11 2.2. Rasse, Romantik & Scham: Der Mythos der Fulbe in

Völkerkunde und Ethnologie 13

2.3. Postkoloniale Identitätspolitiken und die Fulbe 17 2.3.1. Ethnischer Lobbyismus im Sozialismus: Das comité fulfulde 17 2.3.2. Überförderung und Außenabhängigkeit: NGOs in Benin 20 2.3.3. Bildung in Benin und „Die Fulbe gehen nicht zur Schule“ 23 2.4. Zwischenfazit und theoretischer Ausblick: Stereotype,

Subjektivität und Handlungsmacht 26

3. Die Forschung: Setting, Positionierung und Distanzen 30

3.1. Fragestellung, Methoden und Zugang 30

3.2. Distanz als Dilemma und Potential: Weiß-Sein im Feld und danach 33

4. Bildungsbiographien: Erwartungen, Entfremdung und Erfolg 37 4.1. Von Tatenlosen zu Einzelkämpfern: Der eigene Wille

und das eigene Handeln 38

4.2. Wandlung des Selbst: Differenz, Entfremdung und Ausgrenzung 43 4.3. Bildungserfolge: Selbstverwirklichung, Aufstieg und Prestige 49 4.4. Zusammenfassung: Subjektivität des Selbst und die Unmöglichkeit

des Kolonialen 54

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5. „Entwicklungssprech“: Schule bewerben und die Politiken von

Zugehörigkeit und Anerkennung 56

5.1. Kampagnen, Netzwerke und die Rolle der Anthropologin 58 5.2. Marginal sein und modern werden - Kultur verteufeln,

Kultur inszenieren 63

5.3. Mittler – Für Schule werben und die Eltern erziehen 70

5.4. Situationale Ethnizität 79

5.5. Zusammenfassung: Fulbeismus und Dritter Raum 81

6. Schlussbemerkung 83

Literatur Anhang

Eidesstattliche Versicherung

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1. Einleitung

1.1. „Das ist mit der Schule nicht zu vereinbaren“

Als ich 2013 drei Monate in Nordbenin verbrachte um die NGO APIDev (Association pour la Promotion des Initiatives de Développement durable) bei ihrer Arbeit zu begleiten, wurde ich fortwährend mit einem Diskurs über Fulbe in Schulen und Universitäten konfrontiert. Auf ei- nem Seminar der Organisation über den Aufbau einer lokalen Milchwirtschaft für eine Gruppe von Fulbe-Frauen zeigte sich eine der beiden Mitarbeiterinnen nach kurzer Zeit entmutigt. In der Mittagspause erklärte sie mir, dass die ‚Probleme der Fulbe‘ eigentlich an einer anderen Stelle zu verorten seien:

„Die Fulbe melden ihre Kinder nicht in der Schule an. Wenn wir unsere Kinder nicht in die Schule schicken, sie nicht ausbilden – die anderen Ethnien werden uns für immer dominieren. Überall werden Fulbe betrogen, nicht nur in der Politik, auch auf dem Markt, selbst in der Schule! Aber Fulbe sind intelligent, sehr intelligent... Wenn man die Kinder in die Schule schicken würde, dann wären wir es, die über den Anderen stehen würden – wir wären die Größten in diesem Land“

(Feldnotiz 1, 30.6.2013).

Diese und verwandte Argumentationsmuster begegneten mir immer wieder, sowohl im institu- tionellen Kontext der lokalen Entwicklungszusammenarbeit als auch bei der Schilderung von persönlichen Erfahrungen in Gesprächen in Gastfamilien im ländlichen wie im städtischen Raum. Am Ende meines Aufenthaltes war ich bei einer älteren Dame in der Hauptstadt Cotonou eingeladen. Sie stammt aus einer politisch sehr einflussreichen und historisch bedeutenden Fulbe-Familie. In unseren Gesprächen beschrieb sie ihre schulische Ausbildung als dem Leben auf dem Land diametral entgegengesetzt:

„Die Schule war sehr schwierig für mich. Ich mochte sie nicht, bin nach Hause und habe meine Hefte in die Ecke geworfen – ich mochte nur die Ferien. Ich bin zu den Rindern, die Frau meines Bruders war manchmal nicht da, also habe ich ihren Platz eingenommen: Ich habe die Rinder geführt, gemolken, die Milch bekommen, die mir zustand, Käse gemacht und verkauft. Das hat mir gefallen, ich war glücklich.

Das ist ein anderes Leben, das kann man nicht verstehen. Das ist mit der Schule nicht zu verein- baren“ (Feldnotiz 2, 28.7.2013).

Damit sind zwei sich entgegenstehende Interpretationen umrissen, die den Ausgangspunkt der Fragestellung der vorliegenden Arbeit markieren: Zum Einen erhält Fulbe-Sein eine politische

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Dimension, wobei die Notwendigkeit, dass Fulbe Schul- und Universitätsabschlüsse erlangen, als Voraussetzung für eine Stärkung von deren Repräsentation in staatlich-administrativen Or- ganen erachtet wird. Zum Anderen existiert ein Diskurs über die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Fulbe-Sein und einer Einbindung in Bildungsinstitutionen. Dies geht da- mit einher, dass ethnische Zugehörigkeit und daraus resultierende soziale Praktiken als ausschließlich kulturell bedingt und nicht rational erfahr- oder begreifbar verstanden werden.

An der Schnittstelle dieser Argumentationslinien stehen Studierende, die den ethnischen Hin- tergrund Fulbe haben. Sie realisieren damit eine scheinbare Unmöglichkeit und sind die Protagonisten dieser ethnographischen Arbeit.

1.2. Fragestellung und theoretischer Hintergrund

An die obigen Annahmen anknüpfend, verfolgt diese Arbeit die Frage, wie Studierende, die sich als Fulbe verstehen, sich in den Diskursen von Entwicklung und Ethnizität verorten. Im Rahmen einer zweimonatigen Feldforschung in Benin 2014 wurden bildungsbiographische In- terviews geführt und zwei Organisationen von Fulbe-Studierenden, welche die Integration der Fulbe in den Nationalstaat Benin über die Förderung von Schulbildung zum Ziel haben, bei ihrer Arbeit begleitet. Dieses Kapitel wird anhand der zentralen Begrifflichkeiten der Frage- stellung den theoretischen Hintergrund der Postkolonialität erläutern. Das zweite Kapitel hat den (kolonial-)wissenschaftlichen Literaturkorpus über Fulbe in Benin und zentrale Debatten über Identität der Fulbe im Allgemeinen zum Gegenstand. Es soll gezeigt werden, wie sich in verschiedenen Kontexten einer Interaktion mit Europa, d.h. in der Kolonialzeit, anthropologi- schen Forschungen und der Entwicklungszusammenarbeit spezifische stereotype Bilder über Fulbe herausgebildet haben, welche sowohl eng verzahnt sind mit deren Position in den poli- tisch-gesellschaftlichen Strukturen Benins als auch vielfältigen Eingang in deren Selbstverständnis gefunden haben. Hierauf folgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der Literaturanalyse sowie eine tiefere Positionierung innerhalb theoretischer Konzepte des (kolonialem) Stereotyps, von Subjektivität und Handlungsmacht. Im dritten Kapitel werden Methodik, Zugang und Position der Forscherin im Feld dargelegt, woran sich eine Reflektion über die analytisch-theoretischen Problematiken und Potentiale des Weiß-Seins anschließt. Die beiden darauffolgenden Kapitel haben die Darstellung und Diskussion der empirischen Daten zum Gegenstand, wobei die theoretische Rahmung der Umgang mit kolonialen Stereotypen und Dualismen sowie daran anschließend die Möglichkeiten eines Dritten Raumes nach Homi K.

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Bhabha (2000) ist. Das vierte Kapitel behandelt die wiederkehrenden Motive in den Bildungs- biographien der Studierenden und diskutiert diese anhand einer Transformation von Welt-und Selbstbezug und der eigenen Handlungsmacht. Im fünften Kapitel werden die zwei Organisa- tionen der Fulbe-Studierenden, deren Engagement die Förderung der Bildung der Fulbe und deren Integration in den Nationalstaat zum Ziel haben, behandelt. Anhand deren Symbolik, Rhetorik und interventionistischen Praktiken wird gezeigt, wie unter dem Dispositiv des Ent- wicklungsdiskurses ethnische Zugehörigkeit und damit koloniale Stereotype über Fulbe und Konzeptionen von Bildung verhandelt werden. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer zu- sammenfassenden Betrachtung der Ergebnisse.

In den Diskursen über das Bildungsdefizit der Fulbe treten immer wieder Narrative über die ethnische Diskriminierung der Fulbe und Notwendigkeiten ihrer Modernisierung auf. Diese müssen daher als Rahmen für die vorliegende Arbeit betrachtet werden. Fulbe-Sein und der Ruf nach ‚Entwicklung’ zeigte sich im Laufe von Forschung und Analyse immer mehr als politi- sches Konstrukt, welches untrennbar mit der Geschichte des Kolonialismus und den Nachwirkungen seiner strukturellen Implikationen verbunden ist. Verschiedene Formen der In- teraktion mit Europa wurden so grundlegend, dass gegenwärtige Phänomene in dieser historischen Einbettung betrachtet werden müssen und eine postkoloniale Perspektive unerläss- lich ist. Zwar erscheint der Begriff ‚postkolonial’ unscharf und ist Gegenstand fortdauernder Debatten (Varela & Dhawan 2015: 15), wird aber grundsätzlich als „Thematisierung des Fort- bestehens und Nachwirkens einer Vielzahl von Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft“ (Conrad & Randeria 2002: 24) verstanden.

Gegenwärtig arbeiten Ethnolog_Innen nur vereinzelt unter dem postkolonialen Para- digma (Münster 2007: 37). Dies ist nicht zuletzt auf die ambivalente Beziehung der Disziplin zum Kolonialismus zurückzuführen: Die Anthropologie1 war seit ihrer Herausbildung oftmals

„Komplize des Kolonialismus“ (Guha 1987: xiii).2 Sie produzierte Wissen, das koloniale Herr- schaft und Ausbeutung mit ermöglichte und wurde somit selbst seit den 1980er Jahren zum Gegenstand rigoroser postkolonialer Kritik. Gleichzeitig steht das Fach in der Tradition durch Perspektivverschiebung marginalisierte Stimmen ins Zentrum zu rücken und damit eurozentri- sche Konzepte und deren Deutungshegemonien in Frage zu stellen (Münster 2012: 191f).

1 Die Bezeichnungen der Disziplinen Ethnologie, Anthropologie, Kultur-und Sozialanthropologie (und weiterer) werden im Folgenden weitgehend synonym verwendet. Wenngleich dies deren historische Genese und die damit einhergehenden theoretischen Ausrichtungen nur ungenügend reflektiert, trägt diese Verwendung dem Umstand Rechnung, dass hier der Fokus explizit nicht auf verschiedenen Schulen der Disziplin liegt, sondern ihr gemein- sames Erbe kolonialer Vergangenheit und damit grundsätzliche Fragen von Möglichkeiten der Repräsentation

‚Anderer’ im Zentrum stehen.

2 Siehe für diese Debatte auch die Beiträge in Asad (1973).

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Kolonialität und seine Implikationen auf die akademische Wissensproduktion wurden in der sogenannten Krise der Repräsentation in den 1980er Jahren in der Anthropologie früher thema- tisiert als in anderen Sozialwissenschaften (ebd.: 192). Doch mit dem Ende des Kalten Krieges und spätestens nach den Anschlägen des 11. September 2001 verschwammen die Grenzen von Nord und Süd bzw. der drei Welten, so dass postkoloniale Perspektiven in der Anthropologie an Bedeutung verloren. Der Ruf nach Ethnographien wurde lauter, welche die „globale Situa- tion“ (Tsing 2000) thematisieren und damit der Verzahnung lokaler Phänomene unter Bedingungen struktureller Gewalt und Ungleichheit Rechnung tragen. Ethnologie versteht sich seither zunehmend als generell (macht-)kritische Perspektive auf gegenwärtige Phänomene und bezieht sich somit seltener explizit auf das Paradigma der Postkolonialität.

Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen scheint eine postkoloniale Perspektive in der vorliegenden Arbeit geboten. Die zentralen Begrifflichkeiten von Fulbe- Sein als ethnisch-po- litisches Zugehörigkeitsprinzip und das Plädoyer für eine Entwicklung der Fulbe im Allgemeinen sowie im Kontext formeller Bildung3 im Speziellen sind kaum ohne ihren kolo- nialgeschichtlichen Hintergrund fassbar. In Anthropologie, Afrikanistik und Geschichtswissenschaft herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die Entwicklung von Ethnizität zu einer Gemeinschaftsideologie in Afrika kein Resultat vorkolonialer Zeiten ist. Vor der europäischen Kolonialisierung war afrikanische Vergesellschaftung von flexiblen und sich überlappenden Zugehörigkeiten, situativen Grenzen und Migrationsbewegungen geprägt.

Nachbarschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen waren bedeutender als der Bezug auf Sprache und Kultur. Afrikahistoriker_Innen haben gezeigt, dass ethnische Gesellschaftsideolo- gien erst ihren Anfang nahmen als europäische Missionare und Kolonialherren, die Bewohner Afrikas in ‚Stämme’ einteilten (Ranger 1983). Allerdings haben diese Erkenntnisse kaum Aus- wirkungen auf Diskurse über Afrika außerhalb des Akademischen gezeigt. Vielmehr werden sowohl innerhalb als auch außerhalb Afrikas Konflikte zwischen Kollektiven als „‚traditio- nelle’ Stammesfehden“ (Lentz 1997: 149) erklärt und Ethnizität wahlweise als Festhalten an kulturellen Identitäten oder als Ursache mangelhafter Integration in den Nationalstaat identifi- ziert. Ethnizität als politisches Ordnungsprinzip ist damit ein junges Phänomen, wird jedoch paradoxerweise außerhalb afrikahistorischer Kreise nicht als solches begriffen (ebd.: 149f; E- ckert 2011).

Die Forderung nach Modernisierung ist im Begriff und Diskurs von Entwicklung4 ver- ankert, welche ideengeschichtlich aus dem kolonialen Diskurs entstanden sind. Letzterer

3 Der Begriff ‚formelle Bildung’ meint säkulare, staatlich anerkannte Bildungsinstitutionen.

4 Der Begriff ‚Entwicklung’ wird hier nach Menzels populärer Definition verwendet: „Ich verstehe unter Ent- wicklungstheorie Aussagen, mit deren Hilfe [...] begründet wird, warum es in den Industriegesellschaften

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basierte auf der Einteilung der Menschen in die dichotom und hierarchisch angeordneten Kate- gorien von ‚zivilisierten Nationen’ und ‚unzivilisierten Stämmen’. Die Konstruktion dieser Zugehörigkeiten war in ihrer Banalität grundlegende Legitimationsbasis kolonialer Unterwer- fung und Ausbeutung. Maßgebend wurde in diesem Zusammenhang die Schaffung von Differenzpaaren wie vernunftgeleitet/instinktgeleitet, zivilisiert/unzivilisiert, rational/emotio- nal, zur Herrschaft fähig/unfähig usw. Diese Attribute funktionieren nur im Verweis auf den jeweiligen Gegensatz. Die Referenz dieser Zuschreibungen ist implizit die Rassen- bzw. Ge- schlechterzugehörigkeit: Der zentrale Punkt, von welchem diese Grenzziehungen konstruiert wurden ist der ‚weiße’5 Mann, er ist „der Maßstab aller Dinge“ (Ziai 2006: 34).

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Beginn des Kalten Krieges verlo- ren derartige Konzepte kolonialer Herrschaft zunehmend an Legitimität. Seit der Atlantik- Charta von 1941 war das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Grundsatz der Internatio- nalen Politik der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritanniens strikt verankert und wurde zu Beginn des Kalten Krieges zur Grundlage der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion ins Feld geführt. Parallel dazu erfuhren universelle Rechte eines jeden Menschen durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 international breite Anerken- nung. Vor dem Hintergrund der Auflösung des britischen Kolonialreiches etablierte der US- amerikanische Präsident Harry S. Truman in seiner zweiten Antrittsrede 1949 einen zunächst gegen die Ausweitung sowjetischer Herrschaft gerichteten Entwicklungsdiskurs. Dabei teilte er die Welt in ‚entwickelte’ und ‚unterentwickelte’ Regionen. Letztere Kategorie meinte alle nicht-industrialisierten, nicht-westlichen6 Lebensformen und identifizierte diese als Gefähr- dung und Hemmnis im Kampf gegen die Ausweitung sowjetischer Herrschaft und Ideologie.

Somit war das Ziel diese Menschen in ihrer aktuellen Form der Vergesellschaftung auf einer universellen Bahn von Entwicklung an den Zustand westlicher Industrienationen, deren Vor- reiter die USA darstellte, anzugleichen. Vor diesem Hintergrund erhielten individuelle Rechte und nationale Selbstbestimmung eine weitaus breitere Anerkennung. Wenngleich die rassifi- zierende biologische Unterscheidung zwischen dem ‚weißen Mann‘ und den Kolonisierten

Westeuropas, Nordamerikas und Ostasiens zu Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, sozialer Differenzierung und Mobilisierung, mentalem Wandel, Demokratisierung und Umverteilung gekommen ist (diese Prozesse nennt man Entwicklung) bzw. warum in den übrigen Teilen der Welt diese Prozesse ausbleiben, nur unvollständig rea- lisiert werden oder lediglich eine Karikatur dieser Prozesse zu beobachten ist. Letzteres nennt man, je nach analytischem Zugang, Rückständigkeit oder Unterentwicklung“ (Menzel 1993: 132). ‚Entwicklung’ meint also ein Konglomerat normativ positiv besetzter Prozesse, die in manchen Teilen der Welt stattfanden und anderen nicht (Ziai 2006: 400).

5 Rassifizierende Kategorien wie ‚weiß’ und ‚schwarz’ werden in Kapitel 3 eingehend problematisiert.

6 Der Begriff ‚westlich’ wird im Folgenden im Rahmen des hier beschriebenen Entwicklungsdiskurses verwen- det, in welchem er normativ besetzt ist und als Antonym zu ‚nicht-westlich’ verwendet wird.

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dadurch zurückgedrängt wurde, setzten sich deren Grundgedanken und die mit ihnen verbun- denen Differenzpaare in sozialgeographischen Kategorien fort. Als Referenzpunkt erschien nun die westliche Industriegesellschaft, also die USA und Westeuropa. Die grundlegende Forma- tion des kolonialen Diskurses als die Einteilung in die genannten Referenzpaare, deren eurozentrische Anordnung und damit das epistemische, strukturelle und praktische Gewaltpo- tential blieben damit bestehen. Norm und Ausgangspunkt war weiterhin das Eigene, anhand dessen qua vermeintlich objektiver Maßstäbe (etwa die quantifizierenden Messinstrumente des BIP) die Minderwertigkeit des Anderen bewiesen wurde. Das evolutionistische Paradigma des 19. Jahrhunderts, welches einen universellen menschlichen Weg von Entwicklung konstruiert, ist weiterhin Prämisse einer Einteilung der Welt in ‚entwickelt’ und ‚unterentwickelt’. Entwick- lungsbegriff und -diskurs sowie auf deren Prämissen geschaffenes Wissen sind damit grundsätzlich eurozentrisch. Gleichzeitig behauptet der Entwicklungsdiskurs implizit Objekti- vität. Die als erstrebenswert deklarierten Prozesse wirtschaftlicher, politischer und sozialer Transformation würden überall nach demselben Muster ablaufen. Das Wissen von Problemi- dentifikation und Lösungsfindung wird dabei als universelles dargestellt. Diese widersprüchliche Form des Weltverständnisses, die gleichzeitig Differenz und Universalität behauptet, hat zur Identitätsbildung, also zu Prozessen der Selbst- und Fremdzuschreibung auf beiden Seiten grundlegend beigetragen (Ziai 2010; 2006: 33ff.; Menzel 1993: 137ff).

Der Ruf nach ‚Entwicklung’ der Fulbe ist vor diesem diskusgeschichtlichen Hinter- grund zu begreifen. Das postkoloniale Paradigma dient im Folgenden dazu, den Blick auf die Auswirkungen von entangled histories (Conrad & Randeira 2002:17) zu lenken, d. h. der rela- tionalen Perspektive auf heutige Phänomene, die anerkennt, dass die Geschichte der kolonisierten Länder nicht ohne die der kolonisierenden auskommt und umgekehrt. Um noch einen Schritt weiter zu gehen, soll der Fokus darauf gelenkt werden, dass „die miteinander in Beziehung stehenden Entitäten [...] selbst zum Teil ein Produkt ihrer Verflechtung“ sind, so dass der Ausgangspunkt die „zahlreichen Abhängigkeiten und Interferenzen, die Verflechtun- gen und Interdependenzen“ (ebd.) darstellen. Die Fulbe waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Williams 1988: 367) ein äußerst beliebtes Thema in den Sozialwissenschaften. Somit gab es zwar Bemühungen, die Unmengen an Beschreibungen und Erkenntnissen zu systematisieren (vgl. Diallo 2005) sowie einzelne kritische Perspektiven auf wissenschaftliche Konzeptionen einer Identität der Fulbe im Allgemeinen (Knabner 2013; Breedveld & De Bruijn 1996; Willi- ams 1988, Salamone 1985). Es findet sich jedoch bis dato keine Arbeit, die unter dem postkolonialen Ansatz empirische Daten behandelt, die Fulbe betreffen. Ebenso gibt es keine

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wissenschaftlichen Beiträge, die sich detailliert mit dem Themenkomplex Bildung und Ethni- zität in Benin oder Fulbe in formellen Bildungsinstitutionen in Benin nach 1990 auseinandersetzen.

Als ‚weiße’ Forscherin, die in der ‚entwickelten Welt’ verortet ist und damit in einer struk- turellen Machtposition gegenüber jenen, die sie hier repräsentiert, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Gefahr epistemischer Gewalt und der grundsätzlichen Möglichkeit in solch einer Konstellation über ‚die Anderen’ zu schreiben. Postkoloniale und postmoderne Paradigmen- wechsel, verbunden mit anthropologischer Selbstreflektion in und nach der sogenannten Krise der Repräsentation, haben zu einem Phänomen geführt, dass Ortner als „ethnographische oder interpretative Verweigerung“ (1995; Übers. d. Verf.) bezeichnet. Das ethnographische Projekt und damit die textliche Repräsentation Subalterner wurden – besonders ausgelöst durch die Beiträge von Said (1979), Clifford & Marcus (1986) und Spivak (1988) – grundsätzlich in Frage gestellt, so dass Ethnographien – verkürzt gesagt – dazu tendieren sich in Relativierungen zu verlieren und keinerlei Aussagen mehr zu treffen. Ethnographie ist nicht Wahrheit. Jeder Text ist eine begrenzte Sichtweise auf ein Phänomen, die nicht von fiktionalen Projektionen befreit sein kann. Das anthropologische Unterfangen liegt nicht darin, die finale Interpretation eines Sachverhalts zu finden, sondern die Limitierung von Texten beständig anzuerkennen und für die Debatte fruchtbar zu machen. Gute ethnographische Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie „die Bedeutung eines Phänomens sowie die politische Dimension, die dieser Bedeutung inhärent ist“ (Ortner 1995: 189; Übers. d. Verf.) erfasst. Das ist der Anspruch dieser Arbeit und impliziert, die Verortung der eigenen Person in der Darstellung zu reflektieren, zu problemati- sieren und dadurch einen analytischen Mehrwert zu erzielen.

2. Hintergründe von Zugehörigkeit und Differenz: Die Erfindung der Fulbe

Fulbe7 leben in über 17 Staaten in West- und Zentralafrika sowie der Diaspora und werden aktuell auf 35 Millionen geschätzt (Shoup 2011: 95). In Benin stellen sie eine Minderheit dar, die vorwiegend im Norden des Landes lebt. Im ländlichen Raum betreiben sie agro-pastorale Subsistenzwirtschaft und züchten primär Rinder. In diesem Zusammenhang gehen sie auf mehrmonatige Weidewanderungen mit den Tieren, haben aber feste Wohnsitze und nur ein Teil der Familie wandert. Von weiteren Zuschreibungen wird an dieser Stelle abgesehen. Stattdes- sen soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, wie sich spezifische Repräsentationen von Fulbe

7 ‚Pullo’ ist der Singular von Fulbe, welche im Französischen ‚Peul‘ oder ‚Peulh' und im Englischen ‚Fulani‘

genannt werden.

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in Benin vor dem Hintergrund von Zugehörigkeitspolitiken historisch herausgebildet haben. Im Kontext kolonialer Umstrukturierung, anthropologischer Forschung und Entwicklungszusam- menarbeit kam es zu vergleichbaren Prozessen einer Ethnifizierung. Um die heutige Position von Fulbe in nationalstaatlichen und entwicklungspolitischen Zusammenhängen in Benin zu verstehen, soll nachgezeichnet werden, welche Zuschreibungen und Stereotype über Fulbe in diesen Bereichen entstanden und wie diese von Fulbe im Kontext politischer Repräsentation aufgegriffen und transformiert wurden.

2.1. Koloniale Politik: Die Anfänge von Ethnifizierung und Traditionalismus

Die heutige Politik ethnischer Zugehörigkeit muss vor dem Hintergrund der „politiques des races“ der französischen Kolonialmächte gesehen werden (Geschiere 2009: 14). Vor der kolo- nialen Eroberung 1897 war der Norden Benins nicht auf der Grundlage ethnischer Gruppen organisiert, sondern lässt sich eher als „Stände- und Berufsgruppengesellschaft“ (Bierschenk 1997: 35) beschreiben. Zwar waren die Fulbe auch in vorkolonialer Zeit aufgrund der ihnen eigenen Sprache, des islamischen Glaubens und praktizierter Endogamie eine vergleichsweise homogene Gruppe. Die systematische Abgrenzung ethnischer Gruppen und Politisierung dieser Unterscheidungen entstanden erst im Kontext der kolonialen Umgestaltung der politischen Ver- hältnisse (ebd.: 45ff): Die Kolonialmacht identifizierte in der Kolonie von Französisch- Dahomey eine überschaubare Anzahl von ‚Stämmen‘, welche jeweils einen commandement indigène – einen Mittler zur Kolonialmacht – ernennen mussten. Die vielschichtigen Aus- tausch- und Handelsbeziehungen sowie die fluiden Grenzen zwischen verschiedenen Statusgruppen wurden dabei übergangen. Kategorisierungen nach kulturell-rassistischen Merk- malen traten in den Vordergrund. Die einheimischen Mittler avancierten später zu den bis heute existierenden „traditionellen Häuptlingstümer“ (chefs traditionnels). Sie waren eine essentielle Institution in der Organisation kolonialer Herrschaft und materieller Ausbeutung. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Legitimität des Kolonialismus zunehmend in Zweifel gezogen und das Herrschaftssystem vor Ort durch aufstrebende afrikanische Eliten und Aufstände geschwächt wurde, ergriffen die Franzosen subtilere Strategien um ihre Herrschaft weiterhin aufrecht zu erhalten: Sie setzten auf die normative Aufwertung und ‚Vertraditionalisierung‘ der Institution des neu geschaffenen Häuptlings, indem symbolisch aufgeladene Zeremonien eingeführt und die Häuptlinge mit repräsentativer Kleidung sowie Häusern ausgestattet wurden. Die Neuschaf- fung von Traditionen war ein zentrales Mittel, um die Legitimität des Häuptlingstums zu

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untermauern und damit koloniale Herrschaft zu perpetuieren (Ranger 1983). Neben diesen ers- ten Prozessen der Politisierung ethnischer Zugehörigkeit trug auch die zunehmende räumliche Distanzierungzu der kolonial angestrebten Entflechtung der ausgemachten ‚ethnischen‘ Grup- pen bei. Durch den kolonialen Landfrieden war es den sozio-ökonomischen Gruppen nun möglich, vorher unbewohnte Landesteile zu besiedeln, so dass sie sich auch räumlich vonei- nander entfernten (Bierschenk 1997: 69).

Zudem wurde den Fulbe während der Kolonialzeit ein gewisser Sonderstatus zuteil: Sie waren die Einzigen, die sich durch Verkauf ihres Viehs von der Zwangsarbeit freikaufen konn- ten und dies auch systematisch taten. Bei den zuständigen kolonialen Kommandanten etablierte sich die Rede von den Fulbe als „verbrauchte Rasse“, die „unfähig zu körperlicher Arbeit“ sei (ebd.: 44). Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Beniner Fulbe als schwach und hilflos und ihre vermeintliche Unfähigkeit sich als Kollektiv zu vereinen und zu handeln (Boesen 1999:

140) mag hierauf zurückzuführen sein.

Auch das Bild des nomadisierenden Fulbehirten (Bierschenk 1997: 70), der seit der Un- abhängigkeit im Jahr 1960 Objekt von staatlichen und entwicklungspolitischen Modernisierungs- und Sedentarisierungsbestrebungen ist, hat seinen Ursprung in der Kolonial- zeit: Obwohl historische Zeugnisse nahelegen, dass die Fulbe Benins schon vor der Etablierung der Kolonialherrschaft Landwirtschaft betrieben, definieren koloniale Berichte sie als reine Hir- tennomaden. Im Jahre 1937 meinte der Kreiskommandant des Borgou8 bei den Fulbe „einen gleichsamen religiösen Atavismus [auszumachen], der dessen Aktivitäten einzig auf die Vieh- zucht ausrichtet“ (zit. n. Bierschenk 1996: 104, Übers. d. Verf.). Ähnliches trifft auf das Klischee der heimatlosen Fulbe-Nomaden zu, die erst seit kurzem in Benin siedeln würden:

Erstens lebten die Beniner Fulbe auch schon in vorkolonialer Zeit in festen Wohnsitzen in der Nähe bäuerlicher Siedlungen und gingen nur zeitlich begrenzt auf Transhumanz.9 Zweitens pflegen die Beniner Fulbe zwar keine systematische Erinnerung an ihre Herkunft im Sinne ei- nes Ursprungsmythos, jedoch belegen historische Zeugnisse, dass schon seit etwa 1800 Wanderungsbewegungen nach Benin in Form von Arbeitsmigration existierten. Entgegen etab- lierter Narrative sind die Fulbe demnach seit mehreren hundert Jahren in Nordbenin wohnhaft

8 Borgou ist ein Département im Norden Benins mit der Hauptstadt Parakou. Bis 1999 war hierzu noch das heu- tige Département Alibori zugehörig, so dass Borgou flächenmäßig den Großteil des Beniner Nordens und ca. ein Drittel der Gesamtfläche des Landes darstellte. Die zentralen ethnographischen Beschreibungen über Fulbe in Benin beziehen sich auf diese Region (Boesen 1999 &1996; Guichard 1996 & 1998).

9 Die Transhumanz ist die saisonale Weidewanderung der Rinderherden während der Trockenzeit (große Transhumanz) und teilweise der Regenzeit (kleine Transhumanz). Sie ist charakteristisch für die extensive Wei- dewirtschaft, die sich an die klimatischen Gegebenheiten angepasst hat. Es wandert nur ein Teil der Familie, meist jüngere Männer in Begleitung ihrer Frauen und Kinder. Die restliche Familie verbleibt am festen Wohnort, dem Weiler (Bierschenk 1997: 165ff).

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und weitaus intensiver mit der Region verbunden als meist von staatlicher und entwicklungs- politischer Seite dargestellt (Bierschenk 1997: 31f). Die einheitliche Definition der Fulbe als Nomaden, die aufgrund eines „kulturellen Traditionalismus“ (ebd.: 69) Rinder züchten, hat seine Anfänge in der Kolonialzeit, dominiert und legitimiert aber seither den staatlichen und entwicklungspolitischen Umgang mit den Fulbe in Benin.

Ethnizität wurde zur politischen Gemeinschaftsideologie, indem das Individuum nur in der Kategorie der kolonial identifizierten Stämme als politisches Subjekt wahrgenommen wurde.

Die Fulbe bekamen in diesem Zusammenhang die Zuschreibung, aufgrund eines kulturell-reli- giösen Traditionalismus ausschließlich nomadische Rinderzüchter zu sein, die als kürzlich zugezogene Fremde nicht zu Nordbenin und den dort lebenden Gesellschaften zugehörig seien.

Heutige Prozesse der Essentialisierung und Politisierung ethnischer Zugehörigkeit müssen da- mit im Kontext der kolonialen Strategie von „Entflechtung [und] Ethnifizierung“ (ebd.: 69) betrachtet werden.

2.2. Rasse, Romantik & Scham: Der Mythos der Fulbe in Völkerkunde und Ethnolo- gie

„Unter allen Völkern, welche das nördliche Zentralafrika bewohnen[,] gibt es keines, das für den Völkerkundigen und den Sprachforscher so viel Interesse darbietet, wie die Fulen. Ihr geheimnis- voller Ursprung, sowie ihre großartigen Eroberungen in neuerer Zeit lenkten die Aufmerksamkeit der Europäer doppelt auf sie hin“ (Krause 1884: 3).

Nicht nur die politisch-sozialen Umwälzungen der kolonialen Ära, sondern auch sozialwissen- schaftliche Betrachtungen der Fulbe, haben ein bestimmtes Bild dieser Menschen produziert, das Einfluss auf deren Wahrnehmung sowie deren Selbstbild hatte. Fulbe waren Gegenstand unzähliger ethnologischer Beschreibungen, romantischer Projektionen und rassistischer Aben- teuer der kolonialen Völkerforschung. Inspiriert von den ersten Reiseberichten, die von einem Volk erzählten, das in seiner Erscheinung den Europäern ähnelt, versuchten Ethnolog_Innen, Historiker_Innen und Linguist_Innen des 19. Jahrhunderts einen nicht-afrikanischen Ursprung der Fulbe zu beweisen (Williams 1988). Besonders französische Anthropolog_Innen waren von der Idee besessen, dass die anmutige Physiognomie und hellere Hautfarbe der Fulbe, ihre zivile Zurückhaltung und körperliche Gewandtheit keine gemeinsame Abstammung mit den ‚schwar- zen Bauern’ zulasse. Louis Faidherbe (1818–1889), über mehr als dreißig Jahre Kolonialoffizier und 1873 zum Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Paris gewählt,

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war überzeugt, dass die Fulbe „den Negern in Intelligenz und Charakter“ unter Anderem auf- grund ihres größeren Kopfumfangs bei Weitem überlegen wären (1875: 13, Über. d. Verf.). Im Zuge rassistischer Spekulationen und des evolutionistischen Kulturparadigmas wurden die Fulbe somit „blancs parmi les noirs, et noirs parmi les blancs“ (Burnham 1999: 270).

Nachkoloniale sozialwissenschaftliche Beschäftigungen mit den Fulbe distanzieren sich von dem kolonial-rassistischem schwarz-weiß-Dualismus, zeugen aber weiterhin von einer aus- geprägten „Fulbephilie“ (Bierschenk 1997: 6ff). Zwar sind die Gründe hierfür nicht systematisch hinterfragt worden, dennoch scheinen die Fulbe europäische Sehnsüchte nach ‚ed- len Wilden‘ in ambivalenter Weise zu bedienen (ebd.: 8f): Einerseits wirken Fulbe als vorgebliche Nomaden exotisch, authentisch und selbstbestimmt. Andererseits scheinen sie durch ihren angeblich beherrschten und unaufdringlichen Charakter und ihr graziles Schön- heitsideal dem Eigenen ähnlich und bleiben dennoch unnahbar.

Ethnolog_Innen des 20. und 21. Jahrhunderts waren bald fasziniert von einer starken Vorstellung eigener Identität und Andersartigkeit gegenüber anderen ethnischen Gruppen, die sie bei den Fulbe auszumachen glaubten. Dies wird in der Literatur mit dem Begriff pulaaku umschrieben. Inhalt und Bedeutung des Begriffes wurden dabei ebenso kontrovers diskutiert, wie auch die Frage, inwiefern von pulaaku als universellem Konzept überhaupt gesprochen werden kann (Knabner 2013). Während pulaaku oft als verinnerlichtes Norm- und Wertesystem gedeutet wurde, hat Boesen (1999) es als Form einer alltäglichen Realisierung ethnischer Iden- tität bei den Fulbe im ländlichen Nordbenin beschrieben. Besucher der Fulbe kämen hier unweigerlich mit „pulaaku in Berührung, [denn] ihr Fulbetum präokkupiert sie in ganz auffäl- liger Weise“ (Boesen 1999: 63). Pulaaku manifestiert demnach das Fulbe-Sein, welches auf einem Ideal der Bedürfnislosigkeit und Ausleben von senteene, der Scham, basiert:

„Die Scham kommt nicht allein von den anderen, sondern wurzelt zugleich im innersten Selbst- wertgefühl des Einzelnen. Im Fall der Fulbe kommt jedoch ein weiteres hinzu; sie begreifen Scham als die Eigenschaft, die sie vor anderen auszeichnet. Scham muss darum auch offenbart, muß zur Anschauung gebracht werden“ (Boesen 1999: 122).

Kontrolle und Unterdrückung jeglicher physischer wie emotionaler Bedürfnisse sei oberstes Gebot und bringe die ethnische Identität der Fulbe auf individueller wie kollektiver Ebene zum Ausdruck. Dies bedeute auch, dass die Hervorhebung der eigenen Person und Leistungen sowie die explizite Anerkennung durch Andere schamvoll ist und impliziert, dass Fulbe als nicht fähig gelten, ihre Interessen zu artikulieren und sich aktiv für diese einzusetzen: „sie [tun] sich schwer, die Idee der Gemeinschaft oder der ‚Interessensgemeinschaft’ zu realisieren“ (Boesen

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1999: 140). Durch ihre Attitüde von Distanz und Verzicht „verweigern [die Fulbe] das Ver- stricksein mit anderen und mit der Welt“ (ebd.: 82).

Auch wenn hier das koloniale Bild der Fulbe als ‚verbrauchte Rasse‘ wiederauftaucht, erklärt Boesen das Selbstbild der Nordbeniner Fulbe als eines, das sich primär durch ihr Zu- sammenleben mit und Abgrenzung von ihren bäuerlichen Nachbarn konstituiere. Die Fulbe definieren sich über die „negative Selbstbestimmung über die Kategorie der Haabe10“ (Boesen 1994: 427): Während die Haabe sich durch Stärke, Mut und Tatendrang auszeichnen würden, wären die Fulbe schwach, hilflos und furchtsam. Auch wenn es intensive soziale und wirt- schaftliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern beider Gruppen gäbe, werde nach Außen ein Diskurs der Fremdheit, des gegenseitigen Misstrauens und der Unvereinbarkeit der Kate- gorien von Fulbe und Haabe gepflegt (ebd.: 426).

Guichard resümiert, dass sich durch die Perpetuierung der Fremdheitsetikette im öffent- lichen Raum und den Fulbe-internen Schwächediskurs zwar ihre marginale Stellung gegenüber den Bauern strukturell verfestige, aber schließlich den Fulbe in der individuellen Interaktion wertvolle Privilegien ermöglicht würden (Guichard 1998: 202; 1996: 124f): Sie hätten sich in der Gesellschaft des Borgou einen Sonderstatus gesichert, mit welchem sie ihr Anrecht auf Schutz und Hilfe durch die Haabe geltend machen könnten, ohne sich als politische Gruppe zu organisieren oder sich in den politischen Diskurs zu integrieren. Die Haabe würden den Fulbe deren geforderte Sonderrechte als Fremde zugestehen und davon profitieren, indem ihre politi- sche Vormachtstellung nicht in Frage gestellt wird. Beide Parteien hätten somit Interesse an einer Aufrechterhaltung des Fremdheitsdiskurses der Fulbe und würden diesen in der alltägli- chen Kommunikation reproduzieren. Abschließend ist festzuhalten, dass Ethnolog_Innen schlussfolgern, dass die Fulbe Nordbenins sich historisch wie aktuell als „Fremde [verstehen], die am Rande einer Gesellschaft verharren, deren Ordnung für sie nur in sehr begrenzten Maße Gültigkeit besitzt“ (Boesen 1999:162).

Als Antwort auf die breite wissenschaftlichen Begeisterung für pulaaku hat sich auch eine kritische Perspektive etabliert: Breedveld & de Bruijn (1996) haben in ihrer historischen Betrachtung der linguistischen und anthropologischen Literatur über Fulbe auf die Konstruk- tion des Konzeptes pulaaku hingewiesen. Diese sei einer Fokussierung und vermeintlichen Überinterpretation von pulaaku als sozio-moralischer Code geschuldet: Wissenschaftler_Innen hätten sich zu sehr von den kolonial-rassistischen Deutungen und ersten Schriften zu pulaaku beeinflussen lassen, und deuteten es demnach – unabhängig von seiner zeitlich-räumlichen Ein- bettung in bestimmte soziale Formationen – als Verhaltenskodex, der den Fulbe vorbehalten

10 Der Begriff Haabe meint im Fulfulde alle afrikanischen Nicht-Fulbe (Bierschenk 1997: 9).

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sei. Zudem würde der Begriff von Fulbe-Eliten in ethnisch-politischen Diskursen instrumenta- lisiert. Pulaaku könne somit nicht als terminus technicus für eine universelle Fulbe-Kultur, - Identität, oder -Moral verstanden werden, sondern entfalte im Zusammenspiel von wissen- schaftlicher Beschäftigung und politischer-ethnischer Konstruktion eine eigene Dynamik (Breedveld & de Bruijn 1996: 799).

Diskurse über ‚Identität’ sind grundsätzlich Simplifikationen und laufen damit Gefahr Differenzen zu negieren und eine künstliche Einheit zu konstruieren. Der wissenschaftliche Diskurs über pulaaku spiegelt diesen Prozess eindeutig wider (ebd.: 815). Tendenzen zu Essen- tialisierung und Reifizierung von pulaaku oder der Identität der Fulbe lassen sich auch in den Arbeiten über Nordbenin von Boesen und Guichard wiederfinden: Boesens Ethnographie nimmt sprachlich wie inhaltlich strikt die emische Perspektive ein und versucht somit dem Le- ser die Welt aus der Sicht der Fulbe darzulegen. Auch wenn Boesen anschaulich darstellt, wie durch pulaaku ethnische Identität in der alltäglichen Praxis realisiert wird, verfällt sie in ihrer Deutung in einen kulturellen Determinismus: Das Fulbe-Sein erscheint für den Pullo als einzige Möglichkeit eine Situation zu interpretieren und bestimmt dadurch seine Handlungen – die Fulbe werden zu Opfern ihrer kulturellen Identität konstruiert (Knabner 2013). Auch Guichards Artikel (1990) über Vereinigungen von Fulbe-Intellektuellen in Benin Ende der 1980er Jahre wurde von Bierschenk (1992: 514ff) scharf kritisiert, der darauf hinweist, dass eine vermeint- liche Kultur der Fulbe nicht unabhängig von Raum, Zeit und Umständen existiere. Gerade die Polyvalenz von Identitätskonzepten macht diese so fruchtbar für Instrumentalisierungen und Neudeutungen im politischen Diskurs von Eliten.

Virtanen (2003) hat sich derartigen Kritiken in ihrer Arbeit über die praktische Reali- sierung von Fulbe-Identitäten in Kamerun angenommen und performative Konzepte entwickelt um pulaaku zu verstehen. Sie betont, dass Akteure verschiedene ‚Realitäten’ miteinander ver- einen und Situationen nach unterschiedlichen Bewertungskriterien interpretieren, so dass pulaaku-konformes Verhalten und dessen Persiflierung in Übertreibung und Ironie nicht in Wi- derspruch zueinander stehen:

„all people are given creative contexts in which they can somehow be distanced from, and thus reflect upon, those limitations that the cultural conventions set for them. [...] they do form differ- ent realities but not competing ones, as people are accustomed to shift constantly between differently framed situations. And although the contrast between playing pulaaku and playing with pulaaku seems to be huge, the pastoral Fulbe have, after all, no difficulties in engaging in both with the same devotion” (Virtanen 2003: 251).

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Diese Darstellung des (kolonial-)wissenschaftlichen Diskurses über die Fulbe-Kultur bzw. – Identität sollte nicht dazu dienen, all die Ergebnisse und Interpretationen als unwissenschaftlich oder falsch zu diskreditieren. Vielmehr soll betont werden, dass Wissenschaft und Mythos nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich gegenseitig bedingen und aufeinander beziehen: Der

„romantisme peul“ (Monteil 1963: 351) wie ihn die ersten kolonialen Völkerkundler entwickel- ten, beeinflusst die Beschäftigung mit den und Konstruktionen von den Fulbe bis heute.

Gleichzeitig verharren diese Zuschreibungen nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm:

Fremd- und Selbstbilder entstehen und transformieren sich mit der Dynamik von Interaktion, so dass romantische Projektionen und Zuschreibungen auf vielfältige Weise Eingang in die Selbstbilder von Fulbe gefunden haben.

2.3. Postkoloniale Identitätspolitiken und die Fulbe

2.3.1. Ethnischer Lobbyismus im Sozialismus: Das comité fulfulde

Essentialisierende Identitätskonzepte wurden nicht nur von Europäern auf Fulbe projiziert. Sie wurden auch zentral für das Selbstverständnis der ersten Fulbe-Intellektuellen, deren Organi- sationen die politischen Beziehungen zwischen Fulbe und dem beninischen Staat in den Jahren nach der Unabhängigkeit weitgehend bestimmten. Unter dem sozialistischem Regime und der Dekolonisierungspolitik von Mathieu Kérékou (1972–1989)11 wurde der Staat Dahomey 1975 in Benin umbenannt. Die Stellung der Fulbe war vor allem durch sich verschärfende Landnut- zungskonflikte und klientelistische Beziehungen12 zwischen Staat und Zivilgesellschaft geprägt (Bierschenk 1997: 73ff). Die in der Kolonialzeit geschaffenen Mittler zwischen Bevölkerung und Staat, die chefferie traditionelle, wurden abgeschafft. Die vormalig koloniale Beziehung wurde durch bürokratische Strukturen ersetzt. Aufgrund fehlender Schulbildung waren die Fulbe in diesen unterrepräsentiert, so dass sie in den 1970er Jahren bis Ende der 1980er Jahre keine effektive Vertretung ihrer Interessen gegenüber staatlicher Politik und im Kontext von Landnutzungskonflikten hatten. Diese Tendenz hat sich bis heute fortgesetzt.

11 Die Jahre von der Unabhängigkeit Benins (damaliges Dahomey) bis zum Amtsantritt von Kérékou (1960–

1972) werden laut Bierschenk, auf dessen Darstellungen ich hier primär zurückgreife, von der Bevölkerung mit der Kolonialzeit assoziiert. Weiterhin liegen für diese Zeit so gut wie keine schriftlichen Quellen vor (1997: 75), so dass diese Periode in meinen Ausführungen vernachlässigt werden muss.

12 Der Begriff Patron-Klient-Beziehungen wird im Folgenden nach Wolfs Definition gefasst: „The two partners of the patron-client contract, however, no longer exchange equivalent goods and services. The offerings of the patron are more immediately tangible. He provides economic aid and protection against both the legal and the illegal exactions of authority. The client, in turn, pays back in more intangible assets. These are, first, demonstra- tions of esteem. The client has a strong sense of loyalty, creates good will [and] adds to the name and fame of his patron“ (Wolf 1966: 16f).

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Das marxistisch-leninistische Entwicklungskonzept der beninischen Regierung geriet Anfang der 1980er Jahre zunehmend in die Krise13 und führte zu einem „Rückzug des Staates aus der Gesellschaft“ (ebd.: 100). Während im Sinne einer sozialistischen Staatsideologie kei- nerlei tribalistische Identitätspolitik betrieben wurde, kam es in dieser Situation zu einer Konjunktur ethnischer und traditionalistischer Diskurse und der Herausbildung alternativer Vermittlerrollen (ebd.: 73ff): Eine Gruppe aus Intellectuels Peuls14 gründete mit der Unterstüt- zung katholischer Missionare (ebd. 1989: 8) das comité fulfulde15das sich als politische Interessensvertretung der Fulbe als ethnischen Minderheit gegenüber dem Staat sowie als Ver- mittler in Landnutzungskonflikten verstand. Die Organisation machte ein Grundproblem bei den Beniner Fulbe aus, das – wenn man den Plädoyers heutiger Intellektueller folgt – gegen- wärtig weiterhin besteht: „Les Fulbe ne participent pas au développement“ (ebd. 1997: 103).

Unter den Slogan des Laawol Fulfulde (Weg der Fulbe) wurde ein integrativ-moralischer Kurs verfolgt: Das comité ermahnte die Fulbe-Bevölkerung zum Schulbesuch und zur Teilnahme an Alphabetisierungskursen. Zudem ernannten sich die Mitglieder des comités zu einer Art von moralischen Ordnungshütern, die ‚den Fulbe angemessenes Verhalten’ definierten und ver- suchten, dessen Befolgung durch Geldstrafen durchzusetzen. Im Sinne des Verfalls der Werte von pulaaku und senteene müsste demnach z.B. dem Alkohol- und Drogenkonsum oder Essen in der Öffentlichkeit Einhalt geboten werden. Das comité fulfulde war mit seinen Forderungen und Versuchen einer institutionalisierten Führung der Gemeinschaft der Fulbe nur in geringem Maße erfolgreich. Die breite Masse der Fulbe identifizierte sich weder eindeutig mit der Bewe- gung, noch wurde sie aktiv boykottiert. Die Fulbe nahmen – ganz im Sinne des gängigen Klischees – den Weg des geringsten Widerstandes und zahlten bei Verstößen gegen den vom comité aufgestellten Sittenkatalog die geforderten Geldstrafen (Bierschenk 1989; 1997: 100ff

& Boesen 1999: 93ff).

13 Ausgelöst wurde diese Situation durch die globale Wirtschaftskrise, minimierte finanzielle Unterstützung durch die Sowjetunion, den Rückgang des Ölbooms in Nigeria und die Saheldürren der 1970er und 1980er Jahre.

Im Zuge der Grenzschließungen Nigerias, heimkehrender Migranten und Ausbleiben der Einnahmen durch Zölle und gemeinsamer Märkte mit Nigeria kulminierte die Krise in zunehmender Auslandsverschuldung, Illiquidität der Staatsbanken, fehlende Zahlungen der Beamtengehälter und schließlich einer massiven Kritik gegen das Re- gime Kérékous (Bierschenk 1997: 100).

14 Der Begriff intellectuel wurde und wird teilweise heute noch verwendet um eine Person zu beschreiben, die eine formelle Schulbildung durchlaufen hat (Bierschenk 1997: 100). Teilweise referiert der Begriff auf eine An- stellung im öffentlichen Dienst. Während meiner Aufenthalte in Benin kam mir jedoch der sozialistische Begriff des cadre für beides geläufiger vor.

15 Das comité fulfulde und ihr erster Präsident Osséni Rouga markieren auch den Beginn eines sozialwissen- schaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Benin und damit der systematischen Erforschung der Fulbe in Nordbenin. Die Lehrexkursion mit Studierenden 1987/88 unter Thomas Bierschenk, in deren Zusammenhang zahlreiche Arbeiten zu Fulbe entstanden, konstituierte sich durch einen Lehrauftrag von Rouga an der FU Berlin (Bierschenk 1989).

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Welcher Art waren die Diskurse dieser ersten Intellectuels Peuls über das Fulbe-Sein?

Es wurden verschiedene Charakteristika ausgemacht, die den pullo dimo, den ‚würdigen Pullo‘

(Boesen 1999: 62) auszeichnen: Die Teilnahme an einer Flagellation bzw. goya,16 das Beherr- schen der Sprache, die Ernährung durch Milch und damit die Verbundenheit mit der Rinderzucht sowie das Schamgefühl senteene. Letzteres solle aber nur situativ praktiziert wer- den, nämlich nur dann, wenn es der ‚Entwicklung der Fulbe‘ nicht im Wege steht. Dieser essentialistischen Definition des Fulbe-Seins konnten jene Intellektuelle selbst oft nicht gerecht werden: Als Stadtbewohner, die zwar meist Rinder besaßen, jedoch nicht selber hüteten, traf auf sie oft keines der genannten Kriterien zu.17 Seinen Höhepunkt hatte das comité fulfulde während eines einwöchigen Fulbe-Seminars in Kandi 1989, zu dem sich über 1000 Teilnehmer versammelten und in dem auf symbolisch-materielle Weise versucht wurde, die Fulbe zu ver- einen und ihnen ihre ethnische Identität näher zu bringen: Neben Vorträgen über verschiedene Theorien der Migrationsgeschichte der Fulbe, hatten die Teilnehmer die Möglichkeit von ihren Problemen mit Bauern und staatlichen Repräsentanten zu berichten und diese zu diskutieren.

Mehrere Goyas wurden ausgeführt und schließlich waren die T-Shirts mit einschlägigen Slo- gans („Vorwärts mit der Tradition der Fulbe“) ausverkauft (Bierschenk 1989).

Die koloniale Strategie der strukturellen Entflechtung ethnischer Gruppen, die sich als politische Einheiten formieren müssen um gegenüber staatlichen Strukturen anerkannt zu wer- den und das Stereotyp des Fulbe-Hirten, dessen alleinige Bestimmung in der Rinderzucht liegt, haben die politische Repräsentation der Beniner Fulbe seither entscheidend geprägt. Möglich- keiten und Formen politischer Teilhabe waren stark mit Bemühungen sich der eigenen ethnischen Identität in essentialistischen Deutungen zu vergewissern verknüpft.

Nach diesem Zusammentreffen 1989 war das comité wenig aktiv. Der damalige Präsi- dent des comités Osséni Rouga verstarb. Sein Nachfolger wurde Soley Mama Sambo, der 1987 als „der ranghöchste Fulbe im Beniner Staatsdienst“ (Bierschenk 1989: 21) galt. Er und seine Schwester Miriam N’Diaye waren neben Rouga, mit dessen Familie sie über Heiratsallianzen tief verbunden sind, die Hauptverantwortlichen des Seminars in Kandi. Da ich 2013 in der NGO APIDev (Association pour la Promotion des Initiatives de Développement durable) ihres Nef- fen Dr. Adamaou Mama Sambo arbeitete, konnte ich beide im Haus der Familie in Cotonou treffen. Ich fragte nach ihrer Perspektive auf die heutige Situation der Fulbe in Benin und was

16 Flagellationen oder ‚goya‘ auf Fulfulde sind Initiationsfeste, bei denen männliche Kinder und Jugendliche sich vor großem Publikum mit Ruten auf den nackten Oberkörper schlagen und so in Wettkampf zueinander treten (Bierschenk 1997: 234f).

17 Der Missionar, der an dem Aufbau des comités und dem Alphabetisierungsaufruf stark beteiligt war, ist zwar per defintionem kein Pullo, konnte sich aber, indem er die Sprache fließend beherrschte, ähnlich wie die anderen Intellectuels Peuls als Fürsprecher der Fulbe legitimeren (Bierschenk 1997: 106f).

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Fulbe-Sein für sie bedeute. Soley Mama Sambo sprach sogleich von sich als dirigeant de sa communauté. Er konnte nicht nachvollziehen, warum das comité als Sittenpolizei damals so geringen Erfolg hatte – man hätte dem eigenen Volk schließlich nichts Schlechtes gewollt.

Sambo verortete sich im allgemein anerkannten Diskurs gebildeter Fulbe. So hatte er die Per- spektive verinnerlicht, dass die ‚Entwicklung an den Fulbe vorbeiziehe‘ und plädierte für die Schulbildung als einzige Möglichkeit um die Marginalität der Fulbe zu bekämpfen. Im patriar- chalischen Duktus kritisierte er, dass die Landbevölkerung einerseits beteuere sie habe verstanden und würden sich ändern, aber andererseits hierbei bewusst die Unwahrheit sagen würde. Den Erfolg jüngerer Organisationen wie ANOPER (Association Nationale des Organi- sations Professionnelles d’Eleveurs de Ruminants), die sich offiziell mehr der Viehzucht als den Fulbe verschreiben würden, könne er nicht nachvollziehen. Auch wenn das comité fulfulde heute nahezu bedeutungslos ist, hat das essentialistisch-politische Narrativ über das Fulbe-Sein aus den 1980er Jahren und der Anspruch auf Führung der ländlichen Bevölkerung auf Basis dieser Zuschreibungen im Kreis der alten Eliten überdauert.

2.3.2. Überförderung und Außenabhängigkeit: NGOs in Benin

Seit der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1990 wird Benins friedliche Entwicklung zur Demokratie als modellhaft für den afrikanischen Kontinent beschrieben. Trotzdem ist die ökonomische Transformation bis heute ausgeblieben: Seit seiner Unabhängigkeit 1960 ist Be- nin ein defizitärer Rentenstaat, dessen Wirtschaft sich fast ausschließlich informell abspielt und durch die Agrarwirtschaft dominiert wird. Die strukturell verankerte Abhängigkeit von Ent- wicklungsgeldern richtet sich nach außen und erfordert erfolgreiches Lobbying bei ausländischen Akteuren. Benins vorbildlicher Ruf bezüglich politischer Stabilität, freier Wah- len und der Einhaltung der Menschenrechte machen es zu einem beliebten Partner in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit: Seit 1990 entwickelt sich Benin zunehmend zu einem ‚über-geförderten’ Land, dessen Geschichte jedoch zeigt, dass enorme finanzielle Zu- wendungen nicht zu langfristigen, strukturellen Veränderungen geführt haben (Bierschenk 2009 & Gazibo 2012).

Das politische Geschehen gilt als geprägt von neopatrimonialen Strukturen und Korrup- tion, in denen Ethnizität und regionale Herkunft die treibenden Faktoren sind. Die Parteipolitik ist stark personalisiert. Die Gründung einer Partei geht meist von einer lokalen politischen Au- torität aus, die hierbei persönliche Interessen verfolgt und gleichzeitig der größte Unterstützer der Partei ist. Die vier heute etablierten Parteien haben regionale Hochburgen und lassen sich

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den vier Regionen des Landes zuordnen. Dementsprechend sind auch Programminhalte der Parteien eher nebensächlich und austauschbar. Schließlich hat sich zunehmend die Praxis der sogenannten ‚politischen Transhumanz‘ unter Politikern durchgesetzt, d.h. sie wechseln bestän- dig zwischen verschiedenen Parteien. Dies ist aber nicht als Inkonsistenz gegenüber den Interessen der Wählerschaft zu verstehen: „Politicians are not elected to defend policy issues but to assure that government resources are channeled to their region of origin“ (Bierschenk 2009: 19).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich in Benin seit der Krise der 1980er Jahre eine florierende NGO-Landschaft herausgebildet hat, die sich zu einem „regel- rechten NGO-Boom“ (Brüntrup-Seidemann 2010: 98) entwickelt hat. Speziell Organisationen, welche die Förderung von Kultur, Entwicklung und Agrarwirtschaft zum Ziel erklären, haben seit 1990 Konjunktur (Bierschenk 2009: 19). Die allgemeine Definition von NGOs als nicht- staatliche Organisationen, die dem Bereich der Zivilgesellschaft zugeordnet werden, entspringt einem positivistischen Entwicklungsdiskurs, der Staat, Markt und Zivilgesellschaft als vonei- nander getrennte Domänen betrachtet. Diese Perspektive ist jedoch hinderlich um die politische Rolle und wirtschaftliche Verankerung von NGOs in Benin zu verstehen: Die primäre Aufgabe von lokalen NGOs ist die Akquirierung von Projektgeldern und -ressourcen. Ihre Tätigkeiten sind meist stark mit dem politischen Geschehen verankert: Gute Verbindungen zur Verwaltung sind unerlässlich, um erfolgreich Verträge abschließen zu können. Weiterhin ist die Mitarbeit in oder Leitung einer NGO ein effektives Sprungbrett für lokale Politiker, die eine Karriere auf nationaler Ebene anstreben. Ein solches Engagement von politischen Akteuren unterstreicht deren vermeintliche Nähe zur Zivilgesellschaft und zeigt, dass sie sich lokalen Problemen wid- men, wodurch sie sich erfolgreich von Anderen im Wahlkampf abgrenzen können. Die meisten Vorsitzenden von NGOs in Benin haben demnach multiple Positionen, die zwischen dem staat- lich-politischen und dem privaten Sektor oszillieren (ebd.: 20).18

Seit 2007 sind Fulbe in Benin über die staatlich anerkannte Organisation ANOPER (Association Nationale des Organisations Professionnelles d’Eleveurs de Ruminants) repräsen- tiert, die sich in Unterorganisationen auf den Ebenen von Dörfern, Kommunen und Departements staffelt. ANOPER arbeitet mit internationalen Geldgebern im Rahmen von Pro- jekten zum Ressourcenmanagement und zur rechtlichen Anerkennung pastoraler Landnutzung zusammen (Le Meur & Hochet 2010: 652). Letzteres ist vor dem Hintergrund zunehmender

18 Die Biographie Dr. Mama Sambos, von dessen Onkel und Tante schon oben die Rede war, ist ein Beispiel für

diese Dynamik: Als ausgebildeter Veterinär gründete er 2007 die NGO APIDev (Association pour la Promotion des Initiatives de Développement durable), die im Bereich agro-pastoraler Produktion tätig ist. Seit 2014 berät er Regierung und Innenministerium im Bereich ‚Transhumanz und Konfliktschlichtung‘.

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gewalttätiger Landnutzungskonflikte und der Implementierung der Landrechtsreform (Plan Foncier Rural), die seit 1993 umgesetzt wird, bedeutend (Lavigne Delville 2010). Plan Foncier Rural zielt auf die Festschreibung lokalen Landrechts ab und soll dadurch die bisher fehlende Rechtssicherheit gewährleisten. Dazu ist die Erfassung lokalen Landrechts und dessen Über- setzung in neu geschaffene rechtliche Kategorien erforderlich. Die in diesem Prozess geschaffenen Kategorien fokussieren stark die landwirtschaftliche Produktion und negieren Landnutzungsformen der mobilen Viehzucht, wie beispielsweise saisonale Weiderechte (Cia- volella 2012, Le Meur 2006).

Auch wenn sich ANOPER als Interessensvertretung von Viehzüchtern präsentiert, zei- gen sich klare Tendenzen einer ethnisch-politischen Bewegung: „[…] ANOPER, ouverte en principe aux éleveurs de n’importe quelle communauté, mais qui finit bien évidemment par défendre le plus souvent les intérêts des Peuls“ (ebd.)19. Die Mitglieder ANOPERs pflegen einen Diskurs politischer Mobilisierung, der sich zwischen Tradition, Modernisierung und Mar- ginalisierung bewegt. Die ‚Krise des Pastoralismus‘, d.h. die zunehmenden Schwierigkeiten die mobile Viehzucht auszuführen, wird in der Rhetorik von ANOPER mit einem tiefgreifenden Verlust von Identität und Kultur assoziiert. Veränderungen werden gerechtfertigt, indem auf das Stereotyp der Fulbe als Rinderzüchter zurückgegriffen und der Begriff der Tradition instru- mentalisiert wird. Weiterhin wird eine kollektive Erfahrung der Marginalisierung der Fulbe konstruiert um die Gruppe der Fulbe und ihre Interessen zu definieren und zu vereinheitlichen:

„Le discours traditionnaliste est souvent associé à un registre plus fortement ethnique pour mettre en exergue les injustices subies collectivement par les Fulbe et leur marginalité politique, sociale et économique. Tradition et identité servent ainsi à fixer le problème et à faire prendre conscience aux membres des communautés intéressées du partage de leurs conditions de vie“ (Ciavollela 2012).

Während in den 1980ern das comité fulfulde sich essentialistischer Deutungen der Fulbe als Rinderzüchter bediente um politisch Anerkennung zu finden, hat die Gleichsetzung ethnischer und wirtschaftlicher Kategorien die politische Repräsentation der Fulbe so sehr geprägt, dass heute nicht nur der Pullo mit der Rinderzucht assoziiert wird, sondern auch die Rinderzucht selbst mit dem Pullo. In der Rhetorik von ANOPER sind das Selbstverständnis von Fulbe mit

19 In sehr ähnlicher Weise agiert und repräsentiert sich die Organisation APESS (Association pour la Promotion de l’Elevage au Sahel et en Savane) in Burkina Faso, die ebenfalls offiziell jedem Viehzüchter offensteht, aber als Organisation der Fulbe gilt (Hagberg 2011: 151).

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der Ausübung der Rinderzucht in aktueller halbnomadischer Form in absoluter Weise mitei- nander verbunden und Grundlage für die Legitimierung von Veränderungen respektive den Kampf für den Erhalt von ‚Tradition’.

2.3.3. Bildung in Benin und „Die Fulbe gehen nicht zur Schule“

„Ein Kind der Fulbe, das in die Schule geschickt wird, ist ein verlorenes, ein geopfertes Kind.“

(Issoufou Y., 22.8.14)20

Die erste Schule Benins wurde 1887 von portugiesischen Missionaren gegründet. Nach der französischen Eroberung wurden jedoch 1903 alle kirchlich geführten Schulen in Französisch- Westafrika an die Kolonialmacht übergeben und säkularisiert (Fichtner 2012: 40). Einflussreich waren besonders die Assimilationspolitik des kolonialen Bildungssystems und die ungleiche Entwicklung zwischen den südlichen und nördlichen Gebieten des Landes (Asiwaju 1975): Un- ter dem Ziel der Angleichung fungierten Lehrmethoden, -medien und -inhalte als „Apologie zu französischer Kolonisation und Zivilisation“ (ebd.: 344, Übers. d. Verf.), so dass der französi- sche Beobachter Vassery 1931 kritisch feststellte, ein Außenstehender würde keinen Unterschied mehr zwischen einer Schule in Dahomey und dem ländlichen Frankreich wahrneh- men können.21 Zudem zielte das französische Bildungssystem auf die Schaffung von Eliten ab und verband schulische Ausbildung mit der Aussicht auf eine Anstellung in der Kolonialver- waltung. Unter der Prämisse, dass den Kolonisierten ein utilitaristischer Anreiz für den Schulbesuch gegeben werden müsse, etablierte sich ein gewisser „fétichisme de diplôme“ (ebd.:

345). Ein schulischer Abschluss konnte zu einer begehrten Anstellung als Funktionär oder Leh- rer führen, was ein stabiles Einkommen und Prestige mit sich brachte (ebd.). Gleichzeitig galt es aber, dass diese neuen Intellektuellen weiterhin von den Europäern abgegrenzt blieben: Es sollte eine untergeordnete afrikanische Elite ausgebildet werden, welche die niederen Positio- nen des kolonialen Verwaltungssystems besetzte und damit verankerte, während es zu verhindern galt, dass bei diesem Unterfangen „aus Afrikanern Franzosen werden“ (Mumford

& Orde 1935, zit. n. Bierschenk 2007: 5, Über. d. Verf.). Bis heute entspricht die staatlich

20 Ein ehemaliger Student, der selbst Pullo ist, nimmt hier Bezug auf das Argument, dass Fulbe aus einer kultu- rellen Handlungslogik heraus ihre Kinder nicht einschulen.

21 „L’observateur impartial... qui visiterait nos écoles au Dahomey ne trouverait point, la couleur locale mise à part, différences essentielles entre une école d’un gros village de France et l’école régionale d’une ville de la côté. Dans l’une de l’autre, les instituteurs enseignent les mêmes matières à quelque intensité près avec les mêmes méthodes, les mêmes buts immédiats“ (Vassery zit. n. Asiwaju 1975: 344).

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standardisierte Schullaufbahn in Benin dem französischen Modell.22 Formelle Bildung als In- stitution ist in Benin damit im Rahmen der kolonialen Umstrukturierung entstanden und verfestigte durch Assimilations- und Elitenpolitik Segregationsstrukturen, die kolonialen Dis- kurs und Herrschaft stützten: Bildung war jenen vorbehalten, die sich den Franzosen in Sprache, Wissensinhalten und Verhalten möglichst anglichen. Belohnt wurde dies mit einer Aufwertung desjenigen als Verwaltungsangestellter, wobei eine Gleichstellung mit jenen unerreichbar und durch die Kolonialpolitik zu verhindern war.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verzeichnete Dahomey die höchsten Einschulungsraten der gesamten französischen Kolonie, weshalb es auch „Quatier Latin de l’Afrique Noire“ (Asi- waju 1975: 341) genannt wurde. Das betraf allerdings primär die südlichen Gebiete. Wie in anderen westafrikanischen Küstenstaaten etablierte sich durch die ungleiche geographische Verteilung von Bildungsinstitutionen das bis heute bestehende Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden Benins (Bierschenk 2007; Fichtner 2012: 165). Das Department Borgou, in welchem ein Großteil der Forschungsdaten erhoben wurde, war zu jener Zeit die Region mit den niedrigsten Einschulungsraten (Alber 2012: 180). Nach der Unabhängigkeit durchlief das beninische Bildungssystem – parallel zum Wechsel von Regimen und Staatsideologie – meh- rere Reformen (Fichtner 2012: 40ff): Unter Kérékou, der auf das Konzept Bildung zur Klassen- und Elitenbildung durch Schule für die Massen setzte, stiegen die Einschulungsraten vorerst enorm an. Die Krise der 1980er Jahre kulminierte in massiven Lehrerstreiks und der nationalen Annullierung des Schuljahres von 1989. Die Einschulungsraten sanken von 60% im Jahr 1985 auf 45% im Jahr 1990.

Im Kontext der Demokratisierung und dem 1990 begründeten UNESCO-Projekt Edu- cation for All wurde zwischen 1990 und 1999 die Reform Nouveaux Programmes d’Etudes realisiert. Diese strukturelle Reformierung verfolgte das Ziel der politischen Umerziehung und Schaffung eines neuen politischen Subjekts in der neuen Demokratie:

„The New Study Programmes were a systemic reform introduced from above as a means of de- mocratisation into a context of democratisation. The aim of the reform was nothing less than the development of an education system that was able to produce a new type of citizen: autonomous, self-dependent and reflective“ (Fichtner 2009: 29).

22 Eine tabellarische Darstellung des beninischen Schulsystems findet sich im Anhang.

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Die Bildungsreformen wurden finanziell wie technisch primär von USAID (United States Agency for International Development) realisiert. Finanzierungs- und Implementierungspro- zesse ähneln den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank. Damit handelt es um eine top- down-Reform, welche durch technisch-strukturelle Intervention das Ziel grundlegenden gesell- schaftlichen Wandels verfolgt und deren Inhalte im Kontext globaler Demokratisierungspolitiken der 1990er gesehen werden müssen (Fichtner 2009: 5f). Das 1999 eingeführte partizipative, schülerorientierte Lernkonzept, ist bei Lehrkräften, Eltern und Schü- ler_Innen umstritten und gilt daher als ein Grund für die starke Privatisierung von Bildungsinfrastrukturen (Fichtner 2009). Zudem ist der Bildungssektor jüngst von einer zuneh- menden ‚NGOisierung‘ geprägt (ebd.: 2012): Internationale NGOs agieren hier nicht jenseits des Staates, sondern sind zentraler Bestandteil seiner täglichen Funktion. Formelle Bildungsin- stitutionen sind keine wertneutralen Orte, sondern bezwecken die Generierung normativer Dispositionen und die Subjektivierung des Einzelnen in nationalstaatliche Strukturen und Dis- kurse. Seit 1990 ist staatliche Bildung in Benin als von außen finanziertes und implementiertes Projekt materiell, ideell und strukturell eingebettet in Forderungen und Orientierungen der transnationalen Förderinstitutionen und -länder. Weiterhin findet eine zunehmende Verlage- rung von formellen Bildungsstrukturen in den Bereich von NGOs statt.

Die Fulbe nehmen in dieser Entwicklung eine besondere Position ein. Sowohl in Lite- ratur (Fichtner 2012: 166; Boesen 1999: 137; Bierschenk 1997: 100) als auch in der beninischen Öffentlichkeit herrscht die Annahme vor, dass sie ihre Kinder nicht zur Schule schicken oder es zumindest in viel geringerem Maße tun, als andere ethnische Gruppen. Da die wenig reprä- sentativen Statistiken nur nach Sprachgruppen unterteilen und meist nur Alphabetisierungs- aber nicht Einschulungsraten erfassen, gibt es hierfür keine quantitativen Belege.23 Die ethni- sche Heterogenität Benins wird im beninischen Bildungssystem (bewusst) negiert und endete historisch bei der politischen Unmöglichkeit auf die Unterrichtssprache Französisch zugunsten lokaler Sprachen zu verzichten (Fichtner 2012: 41). Die statistische Evidenz bleibt aber für diese Arbeit nebensächlich, da der Bezugsrahmen die Politisierung und Ethnifizierung der Schulproblematik ist.

23 Mir liegen einzig die Zensusdaten von 2003 vor, aus welchen hervorgeht, dass die Analphabetenrate unter der fulfuldesprachigen Bevölkerung Benins bei ca. 90 % lag, während der nationale Durchschnitt bei 59% auszu- machen war (eigene Berechnungen basierend auf Tableau G09-1 in Direction des Etudes Démographiques 2003). In Hinblick auf ein Bevölkerungswachstum von 5,3 Mio. im Jahr 2003 auf 9,9 Mio. 2013 (Direction des Etudes Démographiques 2013) können diese Daten nicht mehr als repräsentativ gelten. Während meines Aufent- haltes 2014 waren die Ergebnisse des Zensus von 2013 nur unter Vorbehalt veröffentlicht und nicht in Hinblick auf Schulbildung und Alphabetisierungsraten ausgewertet.

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