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4. Bildungsbiographien: Erwartungen, Entfremdung und Erfolg

4.1. Von Tatenlosen zu Einzelkämpfern: Der eigene Wille und das eigene Handeln

Die Bildungsbiographien der Interviewten fanden nur bedingt in einem institutionalisierten Rahmen statt. Gesetzlich ist eine Schulpflicht für die Grundschulausbildung von sechs Jahren vorgeschrieben, real werden Verstöße dagegen aber nicht verfolgt oder sanktioniert (US De-partment of Labour 2012: 2).32 Die Frage, ob ein Kind in einer Schule angemeldet wird, obliegt damit nicht dem Staat, sondern dem sozialen Umfeld des Kindes (Alber 2012). Gleichzeitig ist die Schul- und Studienlaufbahn staatlich standardisiert, so dass der Einzelne in universelle Aus-bildungsstrukturen eingebettet ist und diese anhand einheitlicher Klassifikationsmechanismen durchläuft.33

Der familiäre Bildungskontext der Studierenden war durchaus verschieden, zeigt jedoch tendenziell deren Pionierposition: Von den 24 Studierenden, Absolvent_Innen und Studien-abbrecher_Innen kamen nur zwei aus Familien, in denen die Väter und alle Geschwister einen Schulabschluss besitzen. Die Väter waren in diesen Fällen in der internationalen Entwicklungs-zusammenarbeit oder bei der evangelischen Kirche tätig. Alle anderen Studierenden wurden zum großen Teil gemeinsam mit anderen ihrer Familiengeneration in den Schulen angemeldet, während wenige keine Verwandten haben, die die Schule besucht haben. Aufgrund der hohen Abbruchquoten sind sie in beiden Fällen dennoch meist die Einzigen, die einen Abschluss er-reicht haben. Nur ein Student, der zum Zeitpunkt der Forschung die evangelische Organisation der Studierenden von Tchaourou leitete, hat Geschwister, die auch die Universität besucht ha-ben. Die Situation der Schüler_Innen und Studierenden unter Fulbe hat sich damit seit den 1990ern gewandelt. Zwar bleibt die Region von Tchaourou als evangelische Hochburg der Fulbe in Benin auch Vorreiter bezüglich formeller Bildung, so dass ungefähr ein Viertel der Interviewten aus diesem Kontext stammt. Während Bierschenk die Schüler_Innen primär in ehemaligen traditionellen Häuptlingsfamilien ausmacht, kam ein Großteil der Studierenden, mit denen ich arbeitete, aus Familien, die in einem ländlichen Kontext angesiedelt sind und Subsistenzwirtschaft sowie Rinderzucht betreiben.

31 Die angegebenen Namen der Studierenden beschränken sich, wie zu Beginn der Feldforschung mit diesen ver-einbart, auf deren Vornamen. Bei Personen, die politische Ämter innehaben bzw. deren volle Namen in anderen Veröffentlichungen genannt werden (vgl. Bierschenk 1989), werden Vor- und Nachname genannt.

32 Schätzungsweise sind zudem 40 % der unter 5-Jährigen staatlich nicht registriert (US Department of Labour 2012: 2), was die Voraussetzung effektiv implementierter Schulpflicht ist.

33 Für eine Darstellung des beninischen Schulsystems siehe Anhang.

Die Pionierrolle der Studierenden, als erste Generation einer Familie die Schule zu be-suchen und abzuschließen, spiegelt sich auch in deren Darstellung ihrer Bildungsbiographien wider. Ein zentrales Motiv ist, dass die Schul- und Studienlaufbahn nicht als vorherbestimmt, sondern als eine Ausnahme oder Besonderheit dargestellt werden. Farouk und Joséphine erin-nern sich genau an den Zeitpunkt und die besonderen Umstände ihrer Einschulung: 34

„Ich bin den anderen Kindern gefolgt, ich erinnere mich noch sehr gut, das war an einem Diens-tag. Am Montag sind sie zur Schule gegangen, da wurde ich neugierig, also bin ich ihnen am nächsten Tag gefolgt – ohne Tasche, ja sogar ohne Schuhe! Das war auf dem Dorf. Als ich gegen 15 Uhr nach Hause zurückkam, hat mich mein Vater geschlagen. Ich habe mich aber gezwungen, trotzdem zu gehen. Einige Tage später kam der Schuldirektor zu uns nach Hause und erklärte meinem Vater, dass sein Kind wirklich den Willen habe in die Schule zu gehen – das hat ihn aufgeweckt und er hat begonnen es zu akzeptieren“ (Farouk O., 2.10.2014).

„Als ich in die erste Klasse kam, war ich schon 12 Jahre alt. Meine große Schwester war schon verheiratet und hatte ein Baby, also musste ich für 2 Monate zu ihr gehen und ihr helfen – somit habe ich das Jahr nicht geschafft. Danach wollte ich wieder zur Schule gehen, auch die Lehrer haben mich gefragt, was ist? Warum gehst du nicht wieder zur Schule, du warst gut! Ich wollte, aber mein Papa hat sich geweigert. Er meinte, es wäre nicht gut, schließlich bin ich schon zu alt – je peux faire combien d’années maintenant pour dire que je vais abandonner pour me marier? Ich habe ihm gesagt, so ist es nicht: Ich bin es, die gehen will. Es ist nicht er, der mich eingeschrieben hat, sondern ich bin es selbst, die gehen wollte. Ich hatte eine Freundin, die zur Schule gegangen ist, ihr bin ich gefolgt. Ich bin zum Lehrer gegangen und habe ihm meinen Namen gesagt. C’est comme ça j’ai commencé par aller“ (Joséphine D., 24.8.2014).

Farouk und Joséphine sprechen von dem Anfang ihrer Schullaufbahn als ihrer eigenen Ent-scheidung, die sie bewusst gegen den Willen ihrer Väter gefällt und durchgesetzt haben. Farouk bedient sich Details, die körperliche Anstrengung und Leiden zeigen. Joséphine meldet sich eigenständig beim Lehrer und schult sich selbst (wieder) ein. Der Fokus liegt in beiden Aus-schnitten auf dem eigenen Willen und Widerstand gegen die Pläne der Väter. Sie betonen die Reflexivität und Einflussnahme eines Kindes im Grundschulalter in auffallender und auch uto-pischer Weise. Schlussendlich liegt die Entscheidung für den Schulbesuch bei den Vätern und dem engeren sozialen Umfeld der Kinder. In der biographischen Darstellung sind es jedoch die

34 Einzelne Auszüge der Interviews sind auf Französisch, der Sprache, in der die Feldforschung realisiert wurde, belassen. Es handelt sich dabei um nur bedingt zu übersetzende Wendungen oder informelle Formulierungen.

Demnach besteht bei der Wiedergabe explizit kein Anspruch auf grammatikalische Korrektheit.

Studierenden selbst, die allein und unabhängig diesen Weg bewusst gegenüber Alternativen und trotz massiver Widerstände eingeschlagen haben.

Soumanou ist der Einzige in seiner Familie, der einen Schulabschluss hat. Die Eltern entschieden sich aufgrund seiner physischen Konstitution ihn einzuschulen:

„Mein Vater hatte zwei Frauen und mich hat man unter mehr als 20 Kindern ausgesucht, zur Schule zu gehen. Zu dem Zeitpunkt bin ich schon jahrelang auf die Weide gegangen, aber die Eltern sagten, ich wachse nicht und bekomme keinen kräftigen Körper. Ich erinnere mich noch gut, es war Dienstag und es war kalt, während dem Harmattan. Zuerst wollte ich nicht, ich wusste, in der Schule werden die Kinder mit der Peitsche geschlagen. Aber sobald mich der Lehrer gese-hen hat, war er interessiert an mir. In der 1. Klasse konnte ich schon das Alphabet, und auch Lesen war ab der 2. Klasse kein Problem für mich. Weil ich so gut war, hat man mich gebeten den Schülern in den höheren Klassen zu helfen richtig lesen und schreiben zu lernen. In der Mittags-pause musste ich beim Lehrer bleiben, sonst hätten sie mir aufgelauert“ (Soumanou K., 17.8.2014).

Soumanou eignete sich aufgrund seiner körperlichen Konstitution nicht für die Arbeit auf dem Feld und die Viehzucht. Er wurde aus dieser Not heraus eingeschult. Ab diesem Ereignis wen-det Soumanou in seiner Erzählung diesen Mangel zum Gegenteil: Er finwen-det die Bestimmung seiner Person als Klassenbester, als Liebling des Lehrers und in den schulischen Anforderun-gen. Er sticht aus der Masse der anderen Schüler_Innen durch seine Leistungen hervor, und dies so sehr, dass er sich vor ihrem Neid fürchten muss. Als ich mit Soumanou einige Wochen später in seinem Heimatdorf spazieren gehe, begegnen wir seinem Cousin und er kommt wieder auf seinen ersten Schultag zu sprechen:

„Am selben Tag, zur selben Uhrzeit hat man uns beide eingeschult. Als ich ihn sah, hab ich ge-fragt: Du? Du willst wirklich in die Schule gehen? Er sagte, nein, ich werd abhauen. Als sein Vater das hörte, schrie er uns an: Wenn ihr euch drückt, je vais vous tuer – tous!

Wir gingen gemeinsam zur Schule, ein Jahr, zwei Jahre. Aber im dritten Jahr wird das Lesen anspruchsvoller, es werden Diktate geschrieben. Der Lehrer rief meinen Cousin an die Tafel. Er stand auf, tat so, als würde er nach vorne gehen – und rannte zur Tür hinaus, bis nach Hause, wir sind ihm sogar gefolgt! Am Ende hat er abgebrochen. Alle aus meinem Jahrgang haben abgebro-chen, ich bin der Einzige der es bis zum Ende geschafft hat“ (Soumanou K., 22.9.2014).

Soumanous Wille und seine Fähigkeiten, die ihn für die Schule prädestinieren, werden zum Abgrenzungsmerkmal zwischen ihm und seinem Cousin. Die Vergewisserung seiner Selbst zieht er aus seinem herausragendem schulischem Erfolg.

Alidou hingegen, der zwar die Unterstützung der Eltern betont, spricht in sehr symboli-scher Form von dem Moment, an dem er sich für die Schule entschieden hat:

„Eines Tages fragte mich mein Vater, was ich will. Ich soll mich entscheiden zwischen einem Fahr-rad und Schulbüchern. Ich antwortete, ach, das FahrFahr-rad, das ist zum Umherfahren, ich möchte lieber zur Schule gehen. Und so sind wir zusammen nach Parakou gefahren und er hat mir alles gekauft – Wörterbücher, Schulbücher, usw. Das werde ich nicht vergessen, das hat mich wirklich geprägt – ich habe mich für die Bücher entschieden. Parce que avec le vélo, je peux aller me pro-mener et laisser les études“ (Alidou D., 17.8.2014).

Der eigene Wille, die eigenen Entscheidungen und Handlungen werden zum zentralen und für den weiteren Lebenslauf konstitutiven Moment, besonders wenn sie sich gegen etablierte Struk-turen und Erwartungen richten. Dies unterscheidet diese Daten von Erkenntnissen aus Forschungen zu Bildungslebensläufen in anderen Ländern der Region, etwa in Nordghana.

Ähnlich wie in Benin zeigen auch in Ghana Einschulungs- und Abschlussraten eine deutliche Diskrepanz zwischen südlichen und nördlichen Regionen, da in letzteren formelle Schulbildung erst ungefähr 70 Jahre später zugänglich wurde (Behrends 2002: 11). Behrends (2002), Lentz (2008) und Dienst (2011) untersuchten hier die Biographien der ersten drei Generationen von Schulgänger_Innen. Besonders in der ersten und zweiten Generation werden ‚Glück’, vorteil-hafte Umstände und schicksalvorteil-hafte Fügungen von den Interviewten als ausschlaggebend für die eigene Einschulung ausgemacht (Dienst 2011: 37ff; Lentz 2008: 49; Behrends 2002: 122f).

‚Glück’ meint in diesem Zusammenhang, zur richtigen Zeit die richtige genealogische Position in der Familie zu besetzen, so dass man gegenüber Gleichaltrigen ausgewählt wurde, die Schule zu besuchen (Lentz 2008: 59). Die Interviewten führen spätere universitäre und berufliche Er-folge nicht auf persönliche Qualifikationen zurück und stellen die eigenen Leistungen in den Hintergrund. Sie verorten sich in einer gewissen „Opfer-Position“ (ebd.: 60, Über. d. Verf.):

Für das Privileg, das ihnen zuteilwurde, empfinden sie gegenüber den Daheimgebliebenen eine gewisse Schuld und kommen den heute eingeforderten Reziprozitätsleistungen der ländlichen Verwandtschaft somit besonders gewissenhaft nach (ebd.: 55ff).

Bei den Fulbe-Studierenden zeigt sich ein gegenteiliger Prozess: Auch wenn sicherlich nicht zuletzt zufällige Fügungen und die Handlungen Anderer – die schlussendliche Zustim-mung, das Wohlwollen und die Unterstützung von Vätern, Familie und Lehrenden – konstitutiv für die Einschulung der späteren Studierenden gewesen seien müssen, wird die eigene Person

und deren Verdienste in den Vordergrund gestellt. Diese Selbstdarstellungen stehen in deutli-cher Diskrepanz zum Ideal der schwachen, tatenlosen Fulbe wie es Boesen (1999) für Nordbenin beschrieben hat:

„Ein Pullo, der sich auf irgendeine Weise tatkräftig hervortut [...], von ihm heißt es beinahe un-weigerlich, er wolle ein mawdo, ein ‚Großer’ werden. In solcher Tat liegt kein Beweis von pulaaku, sondern von semme, Kraft oder Macht, der Eigenschaft der Anderen. Der tatkräftige Pullo nimmt, was immer seine Eigenschaften seien mögen, Züge eines fremden und bedrohlichen An-deren an. [...] Die Fulbe sind in einem wesentlichen Belang ‚anders’, nämlich zu Taten nicht in der Lage. Ihnen fehlt [...] die Kraft dazu (fulbe woodaaa semme majjum). Die Fulbe brauchen also ‚Täter’. Sie brauchen sie nicht nur in einem praktischen Sinn für all das, wofür Kraft (semme) vonnöten ist – von den Gando, die auch heute noch ihre Häuser bauen, bis hin zu den Haabe oder staatlichen Administratoren, die ihre Konflikte regeln – sondern auch als ein Gegenüber, bei des-sen Anblick man sich schwach fühlen und vor dem man sich fürchten kann, welches also die Differenz alltäglich sichtbar werden lässt“ (Boesen 1999: 84f).

Joséphine, Farouk, Soumanou und Alidou brauchen keine ‚Täter’, die für sie handeln. Im Ge-genteil: Sie fordern das Recht zur Entscheidung und Handlung explizit ein und wehren sich, wenn es jemand für sie zu übernehmen versucht. Besonders Farouk und Soumanou wollen mit ihren schulischen Leistungen aus der Masse herausstechen und betonen die Anerkennung von Schuldirektor und Lehrern sowie den Neid der Mitschüler_Innen. Die vier Studierenden gren-zen sich nicht von den Haabe (Nicht-Fulbe) ab, sondern vielmehr von ihrem engeren sozialen Umfeld unter den Fulbe, d.h. von jenen, die für sie handeln wollen. Sie fordern hier Attribute ein, die den Fulbe lang abgesprochen wurden: Während Schwäche, Angst und Tatenlosigkeit als die Tugenden der Nordbeniner Fulbe galten, durch die sie sich von Anderen abgrenzten und individuelle wie kollektive Identität realisierten (Boesen 1999: 141 & 1994: 427; Guichard 1990: 30), wollen die Studierenden hier als mündige und handlungsfähige Individuen anerkannt werden, die über den Verlauf der Geschehnisse selbst entscheiden und sich mit potentiellen Widerständen konfrontieren.