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Zusammenfassung: Subjektivität des Selbst und die Unmöglichkeit des Kolonia- Kolonia-len

4. Bildungsbiographien: Erwartungen, Entfremdung und Erfolg

4.4. Zusammenfassung: Subjektivität des Selbst und die Unmöglichkeit des Kolonia- Kolonia-len

Das zentrale Motiv in den Bildungsbiographien ist die Erkenntnis der eigenen Handlungsfähig-keit, die eingefordert wird und anerkannt werden soll. Boesen schreibt, dass von den Fulbe in der Realisierung ihrer Ideale von Meidung und Verzicht „die Verstrickung mit der Welt und [den Anderen] geleugnet“ wird (1999: 74, vgl. auch 82).46 Die Studierenden suchen geradezu die Konfrontation mit der Welt und den Anderen. Sie kehren das Ideal des schwachen und ängstlichen Pullo, der unfähig zu Entscheidung und Tat ist, ins Gegenteil. Die Studierenden verorten sich in der Welt, in ihrer Position gegenüber den Vätern, die skeptisch bezüglich Schulbildung sind, gegenüber Eltern und Dorfgemeinschaft, die sagen, man sei durch die Schule fremd geworden oder man könne nicht zurückkommen. Sie hinterfragen stereotype Rol-lenbilder der Fulbe, utilitaristische Konzepte von Bildung sowie Lebensideale von Statusgewinn und Prestige.

Die Konflikte, die die Studierenden hier austragen – die Erfolgserwartung, die Ausgrenzung in den familiären oder ländlichen Strukturen oder der Druck dort den Nicht-Schulgänger zu spielen – basieren auf den kolonial geschaffenen Dualismen von Schule-Stadt-Reichtum und Land-Viehzucht-Armut sowie von Fulbe-Sein und Modernisierung. Die Studierenden bedienen diese Dualismen nicht, sondern brechen sie in ihren biographischen Handlungen und Positio-nierungen jenseits dieser Kategorien auf. Sie schaffen einen Dritten Raum nach Bhabha, in dem Agency performiert, konstituiert und verhandelt wird. [...] Ein Raum, in dem sich die koloniale Autorität ihrer selbst nicht sicher sein kann und dem kolonisierten [...] Subjekt in seiner Ent-stellung Macht zukommt“ (Gröhlich 2010: 327). Die Studierenden wollen mehr sein als

‚intellectuel peuls’ (Bierschenk 1997: 100), mehr als schlicht Fulbe, die in der Schule waren.

Sie bringen die Dualismen nicht in Einklang, sondern definieren ihre Pole neu. Sinn, Wert und Nutzen von Bildung muss neu definiert werden, ebenso wie die Kategorie des Fulbe-Seins.

Dritter Raum bedeutet keinesfalls, dass dieser sich über den kolonialen Diskurs erhebt oder eine Synthese aus kolonialem und ‚indigenem’ Raum wäre. Dritter Raum entsteht an den Leerstellen des Kolonialen, dort wo Differenz nicht mehr übersetzt werden kann und sich Widersprüche und Reibungen manifestieren (Kapoor 2003: 564ff; Bhabha 1995). Der Fulbe-Studierende ist

46 Auch mir begegnete diese Beschreibung des Selbst- und Weltverhältnisses der Fulbe auf dem Lehrgang in Kérou. Als die Fulbe-Teilnehmerinnen sich – im Gegensatz zu Frauen anderen ethnischen Hintergrunds – nur sehr zögerlich bei den Auf- und Abbauarbeiten beteiligten, kommentierte die Leiterin (selbst Pullo) das Geschehen:

„Schau, du kannst sofort sehen, wer Pullo ist und wer nicht. Die Fulbe, sie tun so, als sei all das hier nicht ihre Angelegenheit (pas leur affaire)“ (Feldnotiz 1, 30.6.2013).

ein solcher Widerspruch, der die koloniale Differenzordnung und damit die Dichotomien er-schüttert. Er_Sie zeigt die Unmöglichkeit des Kolonialen, ist aber erst durch sie entstanden und kann deshalb nicht in der Synthese der Dichotomien stehen. Die Agency der Studierenden zeigt sich, indem sie über die dichotomen Kategorien, die sie vermeintlich definieren und die sie vereinbaren sollen, hinausgehen. In den Biographien der Studierenden und der Art, wie diese Ihre Handlungen reflektieren, etabliert sich dieser „Ort der Hybridität, an dem die Konstruktion eines politischen Objekts, das neu, weder das eine noch das andere ist, unsere politischen Er-wartungen dementsprechend verfremdet und notgedrungen unsere bisherigen Formen der Erkenntnis des politischen Moments verändert“ (Bhabha 2000: 38).

5. „Entwicklungssprech“: Schule bewerben und die Politiken von Zugehörigkeit und Anerkennung

„Kennen wir uns? Nein. Wir haben uns heute das erste Mal gesehen. Wir sind nicht gekommen, um euch zu sagen, schickt die Kinder in die Schule. Vielmehr kämpfen wir dafür, dass die Fulbe in dieser Region weniger benachteiligt sind“

(Kampagne in Goumara, Manassé Y., Vorsitzender von AEEPCT spricht zur Dorfgemeinschaft, 29.8.2014).

Dieses Kapitel hat die Organisationen der Fulbe-Studierenden zum Gegenstand und damit die Institutionalisierung politisierter Ethnizität. Aktuell gibt es in Benin zwei aktive studentische Organisationen der Fulbe. AEEPCT (Association des Étudiants et Élevés Peuls de la Commune Tachaourou) ist eine seit 23 Jahren bestehende und ca. 600 Mitglieder umfassende Organisa-tion von Fulbe-Schüler_Innen und -Studierenden der Commune Tchaourou. Die evangelische Missionierung hat im Arrondissement Tchatchou ihren Ursprung genommen und stellt damit sowohl das Zentrum der christlichen Minderheit der Beniner Fulbe als auch einen Sonderfall in Bezug auf formelle Bildung dar (Bierschenk 1997: 101). AEEPCT verstand sich ursprünglich als Vermittler von Schulbildung sowie des Christlichen Glaubens, ist aber seit 2008 explizit laizistisch. Die Organisation FREPEN (Front des Étudiants Peuls du Nord) hingegen besteht erst seit 2008, hat ca. 150 Mitglieder und vereint Fulbe-Studierende des Beniner Nordens, d.h.

jene, die an der Universität Parakou studieren. Die Organisationen unterscheiden sich in ihrem Selbstverständnis und Engagement: AEEPCT kontrolliert den Schulbesuch seiner Mitglieder, vermittelt bei Konflikten zwischen Schüler_Innen, Eltern und Lehrern und unterstützt primär Schüler_Innen in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht. Als eingetragener Verein existie-ren neben dem leitenden Team 18 nach den Arrondissements von Tchaourou unterteilte Teams

und eine Gruppe ehrenamtlich engagierter Eltern. Weiterhin organisiert AEEPCT kulturelle Veranstaltungen wie ein Picknick zum Schulanfang oder einen jährlichen Tag der ‚Kultur der Fulbe‘ auf dem Campus der Universität. 2013 veranstaltete sie eine großangelegte Feier zum 20-jährigen Bestehen der Organisation, zu der zahlreiche ehemalige Mitglieder geladen waren, die heute zu den wenigen Vertretern der Fulbe unter den Eliten im politischen wie privaten Sektor des Landes zählen. FREPEN hingegen versteht sich eher als Interessenvertretung der Fulbe Benins im Allgemeinen sowie der Fulbe-Studierenden im Speziellen. Auch sie sind nach ihrem Selbstverständnis auf Bildung fokussiert. Im Gegensatz zu AEEPCT beteiligt sich FREPEN an der Mediatisierung von Konflikten zwischen Bauern und Viehzüchtern.47 FREPEN bzw. primär deren Vorsitzender unterhält Verbindungen zu diversen einflussreichen politischen Autoritäten der Fulbe, etwa zu sogenannten traditionellen Eliten (Königen) oder zu Vorsitzenden der beninischen Organisation der Rinderzüchter ANOPER (l'Association natio-nale des éleveurs de ruminants du Bénin) oder dem comité fulfulde. Der Vorsitzende von AEEPCT wirft der Führung von FREPEN vor, Patronage-Beziehungen zu diesen Autoritäten zu unterhalten. Er würde hierbei persönliche politische Ziele verfolgen und die Organisation sowie deren Mitglieder instrumentalisieren, um finanzielle Unterstützung oder Stellenangebote für die aktiven Mitglieder von FREPEN zu bekommen.

Trotz dieser Differenzen verfolgen beide Organisationen die Integration der Fulbe in den Nationalstaat. Dabei politisieren und instrumentalisieren sie Ethnizität. Beide plädieren in diesem Rahmen für die Dringlichkeit der Schulbildung der Fulbe und führen in ländlichen Ge-bieten Kundgebungen durch, um die dortige Bevölkerung – les parents48 – zum Schulbesuch zu animieren. Ihre Mitglieder entstammen der ersten zahlenmäßig bedeutenden Generation der Fulbe, die das formelle Bildungssystem Benins durchläuft. Die Netzwerke von traditionellen, politischen und privaten Eliten, in denen die Studierenden beider Organisationen agieren, sowie die Kreise von Mitgliedern und Engagierten überlappen sich teilweise.

An die Frage der Formierung postkolonialer Subjektivitäten anschließend soll im Folgen-den dargestellt werFolgen-den, wie Politiken von Zugehörigkeit, Anerkennung und Opferschaft bei der Werbung für formelle Bildung durch studentische Organisationen evoziert werden. Dabei liegt der Fokus auf Narrativen ethnischer Marginalisierung, die mit der Notwendigkeit von Moder-nisierung verbunden werden. Die Studierenden nehmen gegenüber der Elterngeneration eine

47 In diesem Zusammenhang reisten Vertreter der Organisation 2014 auch zu Fulbe-Familien in vier Orten, die Verwandte im Zuge solcher gewaltsamen Konflikte verloren hatten, um diesen ihr Beileid auszusprechen.

48 Der Begriff meint nicht nur die eigenen Eltern und Verwandten älterer Generationen, sondern auch die Ziel-gruppe der Kundgebungen, d. h. die Bevölkerung der ländlichen Gebiete, die die Studierenden aufgrund eigener Elternschaft in verwandtschaftlicher Hierarchie ‚übertrifft’. Ich verwende die deutsche Übersetzung Eltern oder Elterngeneration im Folgenden auf dieselbe Weise.

paternalistische Position ein, aus welcher sie Schulbildung als gewinnbringende Investition be-werben und damit eine Vermittlerrolle einnehmen. Die Diskurse der engagierten Studierenden oszillieren zwischen Essentialisierung, Relativierung und Ablehnung ethnischer Zugehörigkeit.

Die Frage nach dem Umgang mit kolonial konnotierten Stereotypen und Dualismen wird dabei ebenso untersucht, wie das Verhältnis und die Differenz der Studierenden zum Nicht-Schul-gänger. Ebenso wird auf die aufgeworfene These des Dritten Raumes eingegangen, der eine Aushandlung kolonialer Stereotype und Strukturen erlaubt.