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4. Bildungsbiographien: Erwartungen, Entfremdung und Erfolg

5.1. Kampagnen, Netzwerke und die Rolle der Anthropologin

Es regnet in Strömen und trotzdem füllt sich der Saal des Jugendhauses in Djougou rasant schnell. Soumanou, Jura-Student und Vorsitzender der Studentischen Organisation der Fulbe der Universität Parakou und ich verhandeln zwei Plätze in der ersten Reihe. Das Transparent, welches die Veranstaltung ankündigt wird aufgehängt: „Die Gemeinschaft der Fulbe unterstützt den Staatschef, seine Exzellenz Dr. Boni Yayi – Gemeinsam für die Integration und Entwick-lung der Fulbe“ – „Ah!“ Soumanou wirft mir einen verwirrten Blick zu, „es geht hier um Politik!? Ich dachte, das wäre etwas Kulturelles, Tänze von jungen Leuten oder so. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht gekommen... Ganz ehrlich, ca c’est pas mon affair...“

Am Eingang läuft mir kurz Moumouni, der Doktorand von der Universität Abomey-Calavi, über den Weg und begrüßt mich begeistert mit den Worten: „Heute wirst du die Fulbe sehen, ihre Tradition, ihre Kultur, ihre Mentalität!“

Es vergehen vier Stunden, die Massen der Menschen drängen sich an den Eingängen und aus den Lautsprechern dröhnt eine verzerrte Aufnahme von Trommel– und Mundbogen-Klängen aus der Sahelregion. Endlich tritt Assana Agath Ammo, Referentin des Ministeriums für Dezentralisierung auf die Bühne. Neben dem Berater für „Transhumanz und Konflikte zwi-schen Bauern und Viehzüchtern“ ist Ammo die erste Pullo, die einen Posten in der nationalen Politik Benins innehat. Als ich sie ein paar Tage zuvor in der Hauptstadt in ihrem Büro traf, trug sie neben Hosenanzug eine dezente, fast zu übersehende rot-weiß-blaue Perlenkette – ein typisches Accessoire der Fulbe-Frauen Benins. Heute erscheint sie im handgewebten weiß-ro-ten Überwurf. Perlenketweiß-ro-ten derselben Art schmücken ihren Kopf, Hals und Arme. Ihre Rede ist kurz und gilt, da auf Französisch und somit für den Großteil der Anwesenden unverständlich, mehr den zwei bestellten Kamerateams der nationalen Fernsehsender:

„Wir öffnen eine neue Seite unserer Geschichte, wir danken dem Präsidenten, der dies ermöglicht hat. Lange Zeit waren wir passive Akteure in der Entwicklung unseres Landes. Aber nun, nun werden wir auf allen Ebenen zum Fortschritt Benins beitragen. Brüder und Schwestern: Für lange Zeit waren wir an der Entwicklung nicht beteiligt. Wir lebten in Abhängigkeit, haben das Leben ertragen. Wir haben die Folgen unserer Passivität und unserer Freundlichkeit ertragen.“

Sie schließt mit Huldigungen des Präsidenten, nahezu allen Ministern und diversen lokalen Politikern „für all das, was sie für die Gemeinschaft der Fulbe getan haben.“

Auf dem Weg zurück nach Parakou teilen Soumanou und ich uns den Beifahrersitz eines klapprigen Fords. „Und wer war der ältere Mann, der neben Ammo saß – das ist doch jemand Höheres aus Parakou gewesen, oder?“ „Ach, die Politiker, ihre Versprechen... Am Ende sind es Lügen. Ich weiß es nicht, ich bin da nicht drin.“ Er wechselt das Thema und wir sprechen die nächsten Stunden über seine Biographie, die zunehmenden nächtlichen Überfälle im Nor-den Benins und seine Lieblingszitate von Marx.

Sechs Wochen später begleite ich Soumanou fünf Tage lang auf einer Aufklärungskam-pagne, die in seiner Heimatregion Péréré an der Grenze zu Nigeria stattfindet. Im Rahmen der studentischen Organisation FREPEN, soll die hiesige Bevölkerung der Fulbe von dem Nutzen des Schulbesuchs ihrer Kinder überzeugt werden.

Die Schauplätze variieren. Den ersten Tag sprechen wir mit einem Ältesten, dem Fulbe-König der Region, umgeben von rund zehn anderen Männern, die auch gerade zufällig zugegen sind. Ein anderes Mal treffen wir auf mehrere hundert Personen, darunter lokale Politiker sowie diverse Fulbe-Autoritäten aus Benin und Nigeria. Begleitet wird die Veranstaltung von einer recht bekannten Gruppe von ‚traditionellen’ Sängern und Tänzern sowie einem großen Festes-sen, bei dem so viel Milchbrei, gebratener Reis und Fleisch aufgefahren wird, wie sonst nur zu den größten Hochzeiten. Auf meine Frage, wie Soumanou denn so große Bevölkerungszahlen und ranghohe Persönlichkeiten mobilisieren konnte, weicht er aus – er habe schlichtweg den Dorfchef kontaktiert und unseren Besuch angekündigt.

Soumanous Kernprogramm bleibt dabei gleich, seine Rede ist nach eigener Ankündi-gung in die drei Bereiche Kultur, Schule und Politik eingeteilt. Als Einstieg berichtet er von seiner Erfahrung, dass Fulbe, welche man in der Stadt trifft und auf Fulfulde anspricht, häufig nicht reagieren oder auf einer anderen Sprache antworten:

„Weil sie sich für ihre Identität schämen. Das tut weh. Wenn wir unsere Kultur verlieren, verlie-ren wir unseverlie-ren Wert in dieser Welt. Man muss zu seiner Herkunft stehen, darf sie nicht verleugnen, wenn man woanders ist. Egal was wir tun, wir sind immer Fulbe.“

Die ethnische Marginalisierung der Fulbe und ihre Ausbeutung in alltäglichen Situationen mit der Polizei, bürokratischen Ämtern, im Krankenhaus und im Zuge von Landnutzungskonflikte mit Bauern stellt Soumanou als allgemein anerkannte Realität dar, welche er nur anhand weni-ger Beispiele veranschaulicht. Diese „Probleme der Gemeinschaft der Fulbe“ sowie deren Unterrepräsentation in den staatlichen Strukturen Benins seien Ergebnis der fehlenden Schul-bildung der Fulbe.

Es sei aber nicht allein damit getan, die Kinder in der Schule anzumelden. Die Eltern sollten sie in ihrem Vorhaben bestärken, sie finanziell und moralisch unterstützen sowie in Austausch mit den Lehrenden stehen. Dabei sollten sie sich nicht hinter dem Argument verste-cken, ihnen würden die finanziellen Möglichkeiten fehlen – schließlich würden auch für Hochzeiten Vermögen ausgegeben. Ebenso sucht Soumanou das populäre Argument von Eltern zu entkräften, nach dem die Kinder „vom rechten Weg abkommen“ und das ihnen für den Schulbesuch und Aufenthalt in der Stadt anvertraute Geld verschwenden, für Alkohol ausgeben und schließlich die Eltern anlügen würden. Nach Soumanou seien derartige Entwicklungen nicht der Institution Schule geschuldet, sondern auf fehlende Erziehung und Kontrolle der Kin-der durch die Eltern zurückzuführen.

Auch spricht er das Problem der Kinder ohne Geburtsurkunde an, welche spätestens für den ersten Schulabschluss in der sechsten Klasse nötig wird. Dies trifft auf einen beträchtlichen Teil der Schüler_Innen im ländlichen Raum zu. Die nachträgliche Anfertigung ist mit einem hohen administrativen und finanziellen Aufwand verbunden, welcher nicht selten dazu führt, dass die Schullaufbahn des Kindes hier beendet ist. Soumanou, der momentan sein Pflichtprak-tikum im Gericht von Parakou absolviert, bietet sich den Eltern als Ansprechpartner und Vermittler in dieser Sache an – als Analphabet hätte man dort sonst keine Chance.

Am Ende jeder Kampagne appelliert er an die Bevölkerung:

„Nächstes Jahr werden die Wahlkampagnen kommen, verschiedene Politiker werden ankommen, sagen ‚Wählt mich’ – Aber Vorsicht, wählt nicht irgendwen! Wählt jemanden, von dem ihr sicher sein könnt, dass er der Gemeinschaft der Fulbe helfen wird. Und einigt euch, nicht dass jeder jemand anderen wählt! Viele wählen denjenigen, der am meisten Geld bietet. Aber auch das Geld wird zu Ende gehen - wählt den, der euch helfen kann. Und falls es einen unter euch gibt, der Délégué oder Chef d’Arrondissement werden will, unterstützt ihn. Einigt euch auf einen von euch und dann helft ihm. Wir brauchen eine Einheit und jemanden aus unserer Gemeinschaft, der uns vertritt“ (Soumanou K., Vorsitzender von FREPEN, 24.9.2014 in Sonto).

Im Laufe der Woche intensiviert Soumanou die Einbindung meiner Person und stellt mein Pro-jekt in Benin als große Aufklärungskampagne dar, die nur durch seine Unterstützung möglich sei. Er besteht darauf, dass ich auch einige Worte an das Publikum richte, wobei der Inhalt Nebensache zu sein scheint. Indem ich mich speziell für die Förderung der Schulbildung der Mädchen ausspreche, versuche ich zwar meinen persönlichen Überzeugungen treu zu bleiben, aber werde selbst Teil einer ethnisch-politischen Bewegung.

Soumanou scheint sich hierbei der Wirkung und des Potentials bewusst zu sein, welche die Anwesenheit meiner Person in der Region in sich birgt: „Wenn eine Weiße kommt, ist das eine große Ehre für sie. Als die Kolonialherren kamen, war das auch so... Und wer kommt denn noch hier her? Das sind vielleicht Leute von der Coopération Suisse oder Mikrofinanzprojekten – sonst niemand.“ (Feldnotiz 6, 25.9.2014)

Die Abende sitzen wir auf Matten im Weiler seiner Familie. Da ich Gast bin und vermeintlicher Reichtum einer Fulbe-Familie im ländlichen Raum selten durch materielle Güter zur Schau gestellt wird, wird erst durch Soumanous Erzählungen deutlich, wie prekär die wirtschaftliche Situation der Familie wirklich ist. Er ist der jüngste Sohn und der Einzige der Familie, der einen Schulabschluss hat. Durch die Rinderpest hat die Familie fast all ihr Vieh vor Jahren verloren.

Zudem sind der Vater und nun auch der älteste Bruder verstorben. Soumanou erzählt dies nicht um mein Mitleid zu erwecken. Als ich darauf bestehe, wenigstens einen kleinen Geldbetrag zum Essen beizulegen, ist er sichtlich beschämt.

Eines Abends erläutert er mir und seinem Cousin „wie die Politik in Benin funktioniert“.

Er berichtet davon, wie er als Wahlhelfer erpresst wurde, durch falsche Angaben die Bezahlung seiner Vorgesetzten zu erhöhen. Wie Abgeordnete vor den Wahlen die Gunst ihrer Wähler durch den großzügigen Bau neuer Schulen erkaufen. Aber am meisten frustrieren ihn seine Erfahrungen mit den zwei großen beninischen Organisationen der Fulbe, ANOPER und Tabital Pulaaku:

„Wer da im Büro sitzt ist einfach nur ernannt worden, da gibt es keine Wahlen. Und finanziert wird das durch die beiden großen Viehmärkte von Parakou. Der Präsident des Marktes von Tourou ist der Sekretär von Tabital Pulaaku und so weiter. Die kommen doch nur, wenn sie etwas gewinnen können. Da gibt es kein Ziel dahinter, keine Vision. Das sind Netzwerke, das ist alles...“

(Feldnotiz 7, 25.9.2014).

Am Ende kommt er doch noch auf die Veranstaltung von Assana Agath Ammo in Djougou zu sprechen:

„Der Tag hat mich entmutigt. Das war kurz vor der Ernennung der neuen Minister, sie wollte einfach Ministerin werden. Das nervt mich, sie hat das allein getan, um zu demonstrieren, dass sie die Unterstützung der Bevölkerung der Fulbe hat! Wenn ich Politiker werden sollte – ich weiß nicht, ob ich es besser oder schlechter mache“ (ebd.)

Diese Ambivalenz von kritischer Distanzierung gegenüber klientelistischen Strukturen und deutlichen Hinweisen auf die Einbindung seiner Person in derartige Beziehungen war zentral für meine Erfahrungen mit Soumanou. Die Verortung meiner Person in dem Geschehen scheint den Erfahrungen der Studierenden in der Lehrforschung von Bierschenk Ende der 1980er Jahre zu gleichen. Diese waren bei Gastfamilien untergebracht, die durch den Präsidenten des comité fulfulde Osséni Rouga ausgewählt worden waren (1989: 11f). Die zahlreichen Besuche und der Austausch von Geschenken zwischen den Fulbe in Gegenwart der Studierenden sowie die Tat-sache, dass die ausgewählten Gastfamilien in einer engeren Beziehung zu Rouga standen, interpretierten die Studierenden als Instrumentalisierung ihrer Anwesenheit. Dementsprechend bezeichnete Bierschenk Rougas Verhalten als „Propagandatournee“ (ebd.: 12). Dieses Urteil mag der moralisierenden Perspektive geschuldet sein, die Forschungen und Konzepte zu Eliten prägt und geprägt hat (Behrends & Pauli 2013; Marcus 1983: 22). Von einer solch normativ basierten Sichtweise gilt es sich zu distanzieren (ebd.). So erscheint es aus analytischer Per-spektive wenig gewinnbringend, Soumanous Auftreten und dessen Verortung meiner Person in den Kundgebungen als von eigenen Interessen geleitet zu interpretieren – denn natürlich ist es das – und demnach zu verurteilen. Vielmehr möchte ich an mein Plädoyer für die Konfrontation des Forschers mit seiner Position in Machtstrukturen anknüpfen und durch diesen Ausschnitt in den Mittelpunkt stellen, dass diese Aufklärungskampagnen ohne meine Anwesenheit und mein Forschungsprojekt nicht oder zumindest nicht in dieser Form zu Stande gekommen wären.

Die Tatsache, dass ich für die Beteiligten ‚ein schon beschriebenes Blatt’ (Schramm 2005: 173) war und ich teilweise in banaler historischer Kontinuität als koloniales Subjekt verortet wurde, mag meiner anti-kolonialen Positionierung wiedersprechen und hat mich im Feld auf verschie-dene Weise herausgefordert. Im Zentrum der Arbeit sollte aber nicht die moralische Bewertung von Individuen stehen, die ihre Handlungsspielräume nutzen, sondern die Frage, wie diese Bil-der und Narrative – und darunter meine Anwesenheit als ‚Weiße’, als Koloniale – evoziert und interpretiert wurden.