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Gründe der zunehmend antagonistischen Haltung gegenüber Muslimen und Musliminnen im gegenwärtigen Indien. Masterarbeit

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Academic year: 2022

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Mag. Martin MOHRENZ BEd.

Gründe der zunehmend antagonistischen Haltung gegenüber Muslimen und Musliminnen im gegenwärtigen

Indien

Masterarbeit

Zur Erlangung des akademischen Grades Masters of Education

im Studium Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung im Entwicklungsverbund Süd-Ost

vorgelegt an der Karl-Franzens-Universität Graz

Begutachter: Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. theol.

Mag. phil. Mag. theol. Franz Winter

Institut für: Institut für Religionswissenschaft

Knittelfeld, September 2021

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Gewidmet meiner Schwester Sonja, meinem Schwager Robert

und meinen Neffen Thomas, Andreas und Stefan Steinegger

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Inhaltsverzeichnis

Ein persönliches Vorwort 5-6 Einleitung 7-12

Zu den Quellen 12-16 Der Islam auf dem Subkontinent 17-23 Geschichte und Geschichtswahrnehmung des Islam 24-68 auf dem indischen Subkontinent

Der Islam im indischen Subkontinent – eine kulturgeschichtliche Einführung 24-32 Der Islam auf dem indischen Subkontinent von den Anfängen bis zum

Beginn der Mogul-Ära 32-35 Die Herrschaft der Moguln 35-49 Exkurs: Das Phänomen des sogenannten andalusischen Syndroms 50-51 Das Verhältnis zwischen der britischen Kolonialmacht 51-62 und der indisch-muslimischen Bevölkerung

Exkurs: Mohammed Ali Jinnah – der Gründer Pakistans 63-64 Exkurs: Die Adivasi 64-67 Conclusio 67-68

Erläuterungen zu diversen Begriffen 69-96

Indien, British-Indien und Bharat Ganarajya 71-73 Demokratie im indischen Kontext 73-74 Hindu-Nationalismus 74-82 Exkurs: Kann der Hindu-Nationalismus als Faschismus bezeichnet werden? 82-88

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4 Die Bedeutung von Rasse im Hindu-Nationalismus 89-92 Die Bharatiya Janata Party (BJP) 92 Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) 92-93 Vishwa Hindu Parishad (VHP) 94 Sangh Parivar 94 Shiv Sena 94 Säkularismus im indischen Kontext 9

4-95 Ausblick auf die nächsten Kapitel 96-97 Die Rolle Neuer Medien bei der Verbreitung der Hindutva-Ideologie 97-101

Conclusio 101

Der Ayodhya-Konflikt (1992) und die Pogrome in Gujarat (2002) 102-112

Exkurs: Psychologische Mechanismen religiöser Gewalt 110-112 Conclusio 112-113

Die Person Narendra Modis 113-114

Conclusio 115

Die Organisationen des RSS – in und außerhalb Indiens 115-120

Conclusio 120-121

Die Öffnung des Hindu-Nationalismus zu den „unteren Schichten“ 122-125

Conclusio 125

Ergebnisse 126-127 Quellenverzeichnis 128-140

Literaturverzeichnis 128-137 Internetquellen 138-140

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Ein persönliches Vorwort

Ruth Lapide, eine der wenigen Religionswissenschaftlerinnen jüdischen Glaubens, die sich intensiv mit dem Neuen Testament auseinandersetzt, sagte einmal in einer Fernsehdiskussion, dass ein gutes Buch zwei Kennzeichen aufweisen sollte: Erstens sollte es preislich erschwinglich sein, zweitens sollte es spannend zu lesen sein.1 Ich stimme ihr voll und ganz zu und darf ihrer Aussage noch ein drittes Kriterium hinzufügen. Wissenschaftliche Literatur sollte auch ein Vorwort aufweisen, in dem der Autor beziehungsweise die Autorin seinen beziehungsweise ihren persönlichen Bezug zum Thema darlegt. Vorliegende Masterarbeit beschäftigt sich mit den Kulturen und Religionen des indischen Subkontinents, genauer mit den Ursachen und Gründen des aufstrebenden Hindu-Nationalismus sowie die zur Sprache gebrachte Abneigung und teilweise auch Gewalt gegenüber indischen Muslimen und Musliminnen und indischen Christen und Christinnen. Denn auch die christliche Minderheit ist immer wieder Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Wenngleich in dieser Arbeit der Fokus auf die wesentlich größere muslimische Bevölkerung gerichtet ist, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass in manchen Regionen Indiens auch Christen und Christinnen unterdrückt und zeitweise verfolgt werden. Denn die Ideologie des Hindu-Nationalismus betrachtet all jene Religionen als fremd, als „nicht-hinduistisch“, die nicht auf dem Subkontinent entstanden sind.

Doch die konkrete Forschungsfrage, welche sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit zieht, lautet: Was sind die Gründe der zunehmend antagonistischen Haltung gegenüber Muslimen und Musliminnen im gegenwärtigen Indien?

Ich selbst war bereits zweimal in Nordindien. Das erste Mal 2003 mit meiner Schwester und Cousine. Wir hatten eine dreiwöchige Rundreise durch Rajasthan unternommen. Bis auf den Flug nach Delhi (Dilli) und die erste Übernachtung hatten wir zuvor gar nichts gebucht. Genau darin aber lag der Vorteil. Somit konnten wir uns voll auf das Abenteuer einlassen und hatten häufig Kontakt zu den Einheimischen. Viele der Gespräche beliefen sich nicht auf Oberflächlichkeiten. Erst dadurch wurde die Reise zu einer emotionalen und mentalen Bereicherung. Das zweite Mal war ich indes Reiseleiter für eine österreichische Reisegruppe, welche ich mit meinem Freund Neetesh drei Wochen in Rajasthan, Delhi und Agra betreut habe.

Auch auf dieser Reise konnte ich einiges erfahren, wenngleich der Kontakt zur Bevölkerung

1 Die Bibel aus jüdischer Sicht – Paulus, in: https://www.youtube.com/watch?v=zMXQ_7hN9DI Zeitspanne: 3.40- 4.04 (aufgerufen am 07.09.2020)

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6 nie so reichhaltig war als beim ersten Mal. Das war beruflich bedingt, denn als Reiseleiter ist man für Organisation, Durchführung der Reise sowie auch für den inhaltlichen Input verantwortlich. Bereichernd waren indes die Gespräche und auch Handlungen meines Kollegen Neetesh, des indischen Fremdenführers.2 Dabei ging es freilich auch um Themen wie das Kastenwesen, Modi3 und Religion.

Beruflich und privat hatte und habe ich mit Menschen zu tun, die aus Indien, Nepal oder Pakistan kommen. Dabei hatte ich immer wieder die Gelegenheit, oftmals sehr kluge und emotional intelligente Menschen kennenzulernen. Bei vielen Gesprächen habe ich viel Tiefsinn erlebt und jede einzelne dieser Bekanntschaften war und ist eine Bereicherung. Meine Diplomarbeit schrieb ich in Geschichte über China, genauer über die ethnischen Minderheiten in der südwestchinesischen Provinz Yunnan. Die Bachelorarbeit war örtlich im ehemaligen Ostpreußen und im heutigen Polen angesiedelt. Diese Arbeit soll nun den indischen Subkontinent zum Inhalt haben.

2 Die Berufe des Reiseleiters und des Fremdenführers unterliegen unterschiedlichen Arbeitsbereichen sowie rechtlichen Bestimmungen. Der Beruf des Fremdenführers oder der Fremdenführerin setzt eine staatliche Prüfung voraus. Im konkreten Fall habe ich dies für die Republik Österreich und Neetesh für Nordindien.

Reiseleiter und Fremdenführer arbeiten zusammen. Würde ich in Indien ohne einem indischen Fremdenführer oder einer indischen Fremdenführerin eine Gruppe leiten, oder umgekehrt Neetesh eine Gruppe in Österreich, drohen hohe Geldstrafen oder gar Gefängnis.

3 Narendra Modi war von 2001 bis 2014 Regierungschef der nordwestindischen Provinz Gujarat und ist seit 2014 Premier Indiens.

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Einleitung

In Europa galt Indien lange Zeit als ein Land, in dem Gläubige aller Religionen friedlich miteinander leben. Das Land, Indien, und die dortige Hauptreligion, der Hinduismus4, waren für nicht wenige Menschen Sehnsuchtsorte, die eine Alternative zur säkularen westlichen Welt waren oder/und eine Alternative zur (vermeintlich) „versteiften“ Religion des Christentums. Da hört sich der Satz des 2012 verstorbenen Politikers Bal Thackeray, der 1966 die hindu- nationalistische Shiv Sena (die Armee Shivas) gründete, verstörend und abschreckend an.

Thackeray sagte einmal in einem Interview: „Warum sollen wir mit den Moslems nicht machen können, was Hitler mit den Juden gemacht hat?“5 2002 wurden im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat Pogrome an der muslimischen Bevölkerung begangen; 2008 im ostindischen Bundesstaat Odisha an der christlichen Bevölkerung. Ist Indien nicht das Land Gandhis? Doch bereits in den 90er Jahren ging Wolfgang Büscher, Journalist der Zeitschrift GEO, der Frage nach, wie sehr Gandhi im Bewusstsein der Menschen noch verankert ist. Er kam zu dem Ergebnis, dass Gandhi und damit auch sein Vermächtnis, immer mehr in Vergessenheit gerät. Ein älterer Herr sagte ihm: „Ich habe den Mahatma6 durch mein Dorf ziehen sehen, und ich habe an ihn geglaubt. Aber das ist vorbei – Gandhi ist ein Mann von vorgestern. Keines seiner Ziele wurde erreicht.“7 Büscher hatte auch Tushar Gandhi, einen Urenkel Gandhis, besucht. Auf die Frage, welcher seine Ideen heute noch lebendig ist, antwortete dieser: „Gandhi wird heute im Westen besser verstanden als in Indien. Bei uns ist er ein Monument auf einem Sockel. Er korrigierte sich ständig, sein Leben lang. Nach seinem Tod aber erstarrten seine Ideen zu einer Lehre. Die Leute behandeln sie seit jeher wie ein heiliges Buch.“8 Wie konnte es soweit kommen?

Indien war und ist auch heute noch vielfach ein Land, welches von religiöser Toleranz geprägt ist. Doch Gewalt an Frauen, mancherorts ein Kasten(un)wesen im großen Ausmaß und seit den 80er Jahren ein immer häufigeres Auftreten religiöser und ethnischer Konflikte blendet ein

4 Den Hinduismus gibt es nicht. Hinduismus ist eine Fremdbezeichnung, um sich eine Orientierung über die verschiedenen Religionen auf dem Subkontinent zu schaffen. Aus diesem Grunde entspricht die Bezeichnung Hindu-Religionen vielmehr der Realität. In dieser Arbeit wird ab nun der Begriff Hindu-Religionen verwendet.

5 Krack, Rainer: KulturSchock Indien, Reise Know-How Verlag Bielefeld: 7.aktualisierte Auflage 2002. S.15 Thackeray war ein bekennender Bewunderer Hitlers. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Bal_Thackeray (aufgerufen am 13.08.2021)

6 Ehrenbezeichnung für Gandhi und bedeutet übersetzt „Große Seele“.

7 Büscher, Wolfgang: Gandhi´s Erbe. Teil 2, in: GEO. Das neue Bild der Erde. Nr. 8 Hamburg: 1997. S.121

8 Büscher, Gandhi´s Erbe, S.124

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8 idealistisch gezeichnetes Indien-Bild aus. Vielfach ist es auch heute noch so, wie es der indische Philosoph Mall Ram Adhar in einem seiner Bücher festgehalten hat: „Indien wird mehr romantisch geliebt und gelobt als begriffen und verstanden.“9

Forschungsauftrag dieser Arbeit ist es, herauszufinden, was die Gründe sind, warum in Teilen der hinduistischen Bevölkerung antagonistische Gefühle und Haltungen der muslimisch- indischen Bevölkerung gegenüber zugenommen haben. Die These ist, dass es dafür mehrere Gründe gibt, die miteinander in Beziehung stehen. Die Antwort ist keine einfache und darf auch keine sein, die mit dem bloßen „Aufzählen“ von Ursachen sich zufrieden gibt. Es gibt Gründe, die sich mit sozio-ökonomischen und allgemein psychologischen Erklärungen zumindest teilweise beantworten lassen. Dann wiederum gibt es Gründe, deren Antworten sich nur vor dem Hintergrund der Geschichte, Religion und Kultur des Subkontinents finden lassen. Schon allein Bezeichnungen wie Säkularismus im indischen Kontext – ja, selbst die Definition von Hindu-Nationalismus – sind komplex und teilweise sogar widersprüchlich. Um am Ende der Arbeit zu einem möglichst befriedigenden Ergebnis zu kommen, ist Kenntnis über Kultur und Geschichte des Subkontinents Voraussetzung.

Was ist nun der derzeitige Forschungsstand? Was sind die Ursachen des Hindu-Muslim Konflikts? Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar schreibt, dass sich zwar fast alle Experten und Expertinnen darüber einig sind, dass der Hindu-Muslim Konflikt nicht religiös ist, aber über die Ursachen gibt es keine Einstimmigkeit.10 Es gibt, wie oben bereits geschrieben, mehrere Gründe. Sehr wohl gibt es vermehrt in den letzten Jahren Literatur zum Thema Hindu-Nationalismus und dergleichen. Doch nach meiner bisherigen Recherche gibt es kein Werk, in welchem versucht wurde, mögliche Ursachen zu finden und systematisch darzulegen.

Im Folgenden wird ein kurzer Überblick gegeben, wie die Arbeit aufgebaut ist. Das erste Kapitel nach dieser Einleitung trägt die Überschrift „Zu den Quellen“. Darin wird ein kurzer Überblick über die in dieser Arbeit verwendete Literatur gegeben. Es ist selbstredend, dass nicht die gesamte Literatur vorgestellt werden kann, denn dies würde den Rahmen sprengen. Doch bietet das Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit eine gesamte Darstellung der hierfür verwendeten Literatur. Diverse Internetquellen runden das Gesamtbild ab und ergänzen die wissenschaftliche Literatur. Anschließend erfolgt eine kurze Übersicht über den Islam auf dem

9 Mall, Ram Adhar: Der Hinduismus: Seine Stellung in der Vielfalt der Religionen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: 1997. S.147

10 Kakar, Sudhir / Kakar, Katharina: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft, Deutscher Taschenbuch Verlag München:

3.Auflage 2013. S.149

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9 Subkontinent. Mit diesem Kapitel beginnt die eigentliche Hinführung in die Thematik. Das nächste Kapitel – Geschichte und Geschichtswahrnehmung Der Islam im indischen Subkontinent – widmet sich sowohl der Historie als auch der Geschichtsdeutung. Die Wahrnehmung von Geschichte ist der erste – und wichtige – Grund dafür, warum in den letzten Jahrzehnten antagonistische Haltungen gegenüber Muslime und Musliminnen zugenommen haben. Dabei wird der Bogen von den ersten Begegnungen mit dem Islam im 8.Jahrhundert, über die islamischen Eroberungen im 11. und 12. Jahrhundert, dann über das Zeitalter der Moguln bis zur englischen Kolonialzeit gespannt. Die im wortwörtlichen Sinn spannungsreiche Zeit während der Teilung des Subkontinents rundet das Kapitel ab. Dieses Kapitel ist nicht eine bloße Erzählung über Epochen, Kriege und Kaiser. Das Kapitel begnügt sich nicht mit Ereignisgeschichte, sondern im Zentrum steht das Verhältnis zwischen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung. Auch wird der Frage nachgegangen, was die Wurzeln des Hindu- Muslim-Konflikts sind.

Das darauf folgende Kapitel „Erläuterungen zu diversen Begriffen“ erfüllt unter anderem die Funktion eines Glossars. Es geht aber weit darüber hinaus. Darin werden nicht nur Definitionen zu diversen Begriffen geboten, sondern Phänomene wie beispielsweise Hindu-Nationalismus werden in ihrem Wesen und in ihrer Genese genauer untersucht. Dieses Kapitel steht in der Reihenfolge vor den darauf folgenden Kapiteln, damit diese dann auch besser verstanden werden können. Denn in Folge werden weitere Ursachen thematisiert, die für die zunehmende feindliche Haltung des Hindu-Nationalismus der muslimischen Bevölkerung gegenüber verantwortlich sind. Damit den Lesern und Leserinnen bei der Lektüre der weiteren Ursachen Bedeutung und auch Komplexität der Begriffe bewusst ist, steht dieses Kapitel vor den darauf folgenden. Denn sowohl Fachbegriffe wie Sangh Parivar als auch Wörter wie Säkularismus, die im indischen Kontext eine andere Bedeutung haben als in Europa, können in den darauf folgenden Kapiteln nicht mehr näher erläutert werden. Ein tieferes Verstehen, wiewohl auch eine korrektere Deutung dieser Wörter und Begriffe sind aber für ein weiteres Verständnis der nachfolgenden Kapitel notwendig.

Erklärt werden in diesem Kapitel nicht nur Begriffe wie Bharatiya Janata Party (BJP), Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), Shiv Sena etc. Genauer untersucht wird auch Wesen und Genese des Hindu-Nationalismus. Was bedeutet eigentlich der Begriff Hindutva? Jener Begriff, der stets im Zusammenhang mit dem Hindu-Nationalismus genannt wird? Sämtliche Literatur, auch fachwissenschaftliche Werke, definieren Hindutva kurz und präzise. Jedoch werden Definitionen, welche nur eine Deutung von Hindutva widergeben, der Realität in Indien nicht

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10 gerecht. Denn es ist nicht nur essentiell, was Hindutva ist, sondern was Menschen darunter verstehen. Nicht jeder Inder und nicht jede Inderin versteht unter Hindutva dasselbe wie es ein anderer oder eine andere tut. Jürgen Holzer, dessen Masterarbeit auch für diese Arbeit zitiert wurde, ist hier eine seltene Ausnahme. Anhand einiger Interviews hat Holzer aufgezeigt, dass die Deutungen, was Menschen in Indien unter Hindutva verstehen, auseinandergehen und nicht einheitlich sind. Des Weiteren ist auch die „Entstehung“ hindu-nationalistischen Denkens, welches bereits im 19. Jahrhundert begann, für ein bessres Verstehen von Hindutva im heutigen Indien sowohl von Interesse als auch notwendig.

Nachgegangen wird auch der Frage, was Säkularismus und Demokratie im indischen Kontext bedeuten. Denn sowohl Demokratie als auch Säkularismus werden auf dem Subkontinent weithin anders verstanden als dies in Europa der Fall ist. Ein präziseres Wissen darüber, was man in Indien unter Säkularismus und Demokratie versteht, ist auch für die Forschungsfrage, der in dieser Arbeit nachgegangen wird, von Vorteil. Warum dies so ist, wird dann auch geschildert werden.

Nach Lektüre des Kapitels „Erläuterungen zu diversen Begriffen“ erhält der geschätzte Leser und die geschätzte Leserin ein, wenn auch nicht vollständiges, so doch einigermaßen profunderes Wissen über Phänomene und Begriffe, die es ihm und ihr ermöglichen, die nachfolgenden Kapitel auch besser zu verstehen.

In dem Kapitel, welches daran anschließt, geht es um die Wechselbeziehungen Neue Medien und Hindutva. Nicht nur durch ihre zunehmende Verfügbarkeit tragen Neue Medien dazu bei, dass antagonistische Haltungen der muslimischen und christlichen Bevölkerung gegenüber größere Verbreitung und Resonanz erhalten. Auch die Aspekte der Homogenisierung und Nationalisierung von mündlichen Überlieferungen und Epen sind dafür verantwortlich.

Im nächsten Kapitel geht es um den Ayodhya-Konflikt und um die Zerstörung der Babri- Moschee im Jahre 1992 sowie um die Pogrome in Gujarat im Jahr 2002. Beide Vorfälle sind nicht nur Folgen von Gewalt beziehungsweise Auslöser für weitere Gewaltexzesse, sondern sie sind seitdem weitere Gründe für die zunehmend feindlichen Haltungen zwischen beiden Religionsgemeinschaften. Aus diesem Grund sind sie demnach auch als Zäsuren zu werten.

Darauf folgt ein kurzes Kapitel zur Person Modis, Indiens derzeitigen Premierminister. Auch seine Person trug wesentlich zum Aufstieg von Hindutva bei.

Der Hindu-Nationalismus und seine Ideologie wären nie so erfolgreich, wenn hindu- nationalistische Organisationen nicht so organisiert wären wie sie sind. Darüber hinaus sind der

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11 Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und seine Schwesternorganisationen nicht nur in Indien, sondern auch im Ausland tätig.

Nächstes Kapitel trägt die Überschrift „Die Öffnung des Hindu-Nationalismus zu den „unteren Schichten““. In thematischer Hinsicht gehen die beiden zuletzt genannten Kapitel ineinander über. Denn Struktur und Organisation diverser hindu-nationalistischer Vereine und Organisationen müssen zusammen mit ihrem Zweck und Ziel – sozial benachteiligte Schichten zu unterstützen – betrachtet werden. Doch erschien mir schon allein die Präsenz des Rashtriya Swayamsevak Snagh (RSS) in den USA Grund genug, zwei separate Kapitel zu schreiben.

Aufbau und Organisation hindu-nationalistischer Vereine einerseits und die Öffnung hin zu sozial benachteiligten Schichten andererseits gehören in gewisser Hinsicht zusammen. Doch sind sie jeweils Gründe für sich, warum der Einfluss von Hindutva so erfolgreich ist.

Am Ende werden im Kapitel „Ergebnisse“ die Schlussfolgerungen der Arbeit nochmals zusammengefasst. Bis auf jene zwei Kapitel, nämlich „Erläuterungen zu diversen Begriffen“

und der „Islam auf dem Subkontinent“, welches lediglich eine Hinführung zum Thema ist, wird am Ende jedes Kapitels eine Conclusio geboten.

Anbei noch einige Anmerkungen:

Festzuhalten ist, dass es den Hinduismus nicht gibt. Korrekt sollte man demnach von Hinduismen oder von Hindu-Religionen sprechen. Wie bereits in obiger Fußnote angemerkt, wird in dieser Arbeit die Bezeichnung Hindu-Religionen verwendet.

Zuletzt eine Anmerkung zum Schreibstil: Da es weder die Wissenschaft noch die Lösung gibt und die Wissenschaften eine dem Diskurs und der Kritik sowie der Weiterentwicklung der Thesen gegenüber offene Arbeitsweise verfolgen sollten, ist in dieser Arbeit stets nie die Rede von bestimmten Floskeln wie „um eine seriöse Herangehensweise zu ermöglichen,….“. In diesem Fall heißt es stets: „um eine möglichst seriöse Herangehensweise zu ermöglichen,…“.

Denn dadurch wird erkennbar, dass eine Erörterung der Themen niemals vollständig objektiv sein kann. Die Formulierungen „möglichst objektiv“ oder „ein besseres Verständnis“ sollen zudem auch deutlich machen, dass der Prozess offen ist und auch offen bleiben soll. Außerdem soll dadurch eine mögliche Vereinnahmung des Lesers und der Leserin vermieden werden.

Sämtliche Fremdwörter – außer Orts,- und Eigennamen – werden kursiv geschrieben. Dies allerdings nur so lange, bis sie definiert wurden. Zum Umgang mit den indischen Schriften sei angemerkt, dass eine vereinfachte Umschrift verwendet wurde.

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12 Auch erhebt vorliegende Masterarbeit keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Mit Sicherheit gibt es weitere Ursachen für den Hindu-Muslim Konflikt als die die in dieser Arbeit genannten. Doch regt die Arbeit zum weiteren Nachdenken und zur Diskussion an, so hat sie ihr Ziel erreicht.

Zu den Quellen

Bei den für diese Arbeit verwendeten Quellen handelt es sich primär um wissenschaftliche Sekundärliteratur. Dabei finden sich sowohl Werke von indischen Autoren und Autorinnen, als auch solche, welche von Schriftstellern und Schriftstellerinnen verfasst wurden, die nicht aus den Ländern des Subkontinents stammen. Des Weiteren erschien es mir wichtig, ein möglichst großes Spektrum an aktueller Literatur heranzuziehen, da gerade in den letzten Jahren sich sehr viel getan hat. Beispielsweise erlitt bei den Regionalwahlen im Frühjahr 2020 in Neu-Delhi (Nai Dilli) Narendra´s Partei, die Bharatiya-Janata Partei (BJP), eine schwere Niederlage. Die sogenannte Antikorruptionspartei, die Aam Aadmi Party (AAP)11, ging dabei als eindeutiger Sieger hervor.12 Ein anderes aktuelles Ereignis, welches hier erwähnt werden soll: 2019 fand die feierliche Eröffnung des Kartarpur-Korridors statt, nachdem bereits zwanzig Jahre zuvor, 1999, die Idee geboren wurde.13 Der erst kürzlich eröffnete Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan wurde primär für die Glaubensgemeinschaft der Sikhs verwirklicht. Aber er ist auch eine friedlich-diplomatische Geste zwischen den beiden traditionell verfeindeten Staaten Indien und Pakistan. Ob er auch der Beginn eines friedlichen Miteinander zwischen Delhi (Dilli) und Islamabad sein wird, kann zurzeit nicht gesagt werden.

Das Gros der verwendeten wissenschaftlichen Sekundärliteratur kann nicht - und soll auch nicht – in dieser kurzen Quellenübersicht erläutert werden. Auf den folgenden Seiten soll dem Leser und der Leserin lediglich ein kurzer, aber repräsentativer Ausschnitt geboten werden.

11 Zu Deutsch: Die Partei des einfachen Mannes.

12 Stimmungstest. Denkzettel für Indiens Premier Narendra Modi, in: www.dw.com/de/denkzettel/-fü-indiens- premier-narendra-modi/a-52345648 (aufgerufen am 12.09.2020)

13 Zwischen Indien und Pakistan – die Sikhs, in: https://www.youtube.com/watch?v=aEZ7XX0E1bE Zeitspanne:

4.40-5.00 (aufgerufen am 11.09.2020)

Persönliche Anmerkung: Die Tatsache, dass der damalige indische Premier mit einem Bus nach Lahore fuhr und nicht mit dem Flugzeug, ist meines Erachtens eine sehr schöne Geste.

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13 Aktualität in der Auswahl der Quellen war ein Anliegen für diese Masterarbeit. Das heißt aber nicht, dass ältere fachwissenschaftliche Literatur beiseitegeschoben worden wäre. Dies trifft gerade für Literatur zu, die die Geschichte des Subkontinents und die Geschichte des Islam in diesem Teil der Erde zum Thema haben. So etwa „Der Islam im indischen Subkontinent“ von Annemarie Schimmel, erschienen 1983; „Die Moguln“ von Hans-Georg Behr, veröffentlicht 1979. Für diese Arbeit verwendet wurde auch ein Werk des 1909 in Wien geborenen Orientalisten und Arabisten Gustave von Grunebaum. Weitere, in der Fachwelt bedeutende Werke jüngeren Datums sind etwa „Südasien“ des britischen Historikers David Arnold sowie David Luddens „Geschichte Indiens“.

Nicht zuletzt ist ältere wissenschaftliche Fachliteratur auch deshalb interessant, weil darin versucht wird, ein Indien der 70, 80er oder 90er Jahre wiederzugeben. Dies gilt freilich auch für den politischen Bereich. Das Indien jener Jahre war ein anderes als heute, denn auch wenn der Beginn der Hindutva-Ideologie wesentlich früher anzusetzen ist – ihre immer größere Breitenwirkung erreichte sie erst in den späten 80ern und vor allem in den 90er Jahren als die Bharatiya Janata Party (BJP) die Regierung von 1998-2004 bildete. Zudem brach 1992 auch der Konflikt um Ayodhya aus, über den in dieser Arbeit auch berichtet wird. Jürgenmeyer Clemens widmet seinen Artikel „Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya“ den Hintergründen dieses Konflikts.

Dafür, dass man die Entwicklung des politischen Hinduismus, zumindest teilweise, auch in Europa bereits in den frühen 80er Jahren verfolgt hatte, zeigt beispielsweise das Werk von Hans-Joachim Klimkeit „Der politische Hinduismus: Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen“.

Werke von Sudhir Kakar, der nach dem Nouvel Observateur zu einem der fünfundzwanzig renommiertesten Intellektuellen unserer Zeit gehört,14 wurden ebenso für diese Arbeit herangezogen. Kakar zieht psycho-soziale Ansätze – der Autor ist Psychoanalytiker – ebenso heran wie historische und religionswissenschaftliche Betrachtungsweisen. Kakar versucht unter anderem, die Ursachen der Konflikte zwischen Hindus und Muslimen aufzuzeigen. Auch die Philosophin Martha Nussbaum hat sich mit religiöser Gewalt in Indien auseinandergesetzt. Ihr Werk „The Class Within. Democracy, Religious Violence And India´s Future“ fand ebenso für diese Arbeit Verwendung.

14 Kakar, Sudhir / Kakar, Katharina: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft, Deutscher Taschenbuchverlag München:

3.Auflage 2013. S.2

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14 Das Buch „Indien verstehen“, erschienen 2016 im Springer Verlag, beschäftigt sich mit aktuellen Themen zu Indien und versucht auch, mit diversen Vorurteilen aufzuräumen. Mehrere Autoren und Autorinnen beschäftigen sich mit Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion des Subkontinents.

Literatur, welche sich mit dem Hinduismus, der Geschichte und religionswissenschaftlichen Aspekten befasst, wurde ebenso verwendet. Schließlich ist eine profunde Kenntnis der hinduistischen Glaubensvorstellungen sowie hinduistischer Ethik für die Beantwortung der in dieser Arbeit gestellten Forschungsfrage notwendig. Außerdem kann dadurch auch leichter die Frage beantwortet werden, ob der Hindu-Nationalismus es vermag, auch Bürger und Bürgerinnen für sich zu gewinnen, die eher traditionell und/oder flexibel denken. Was traditionell und flexibel in diesem Kontext bedeuten, wird im Kapitel Erläuterungen zu diversen Begriffen unter der Definition Hindu-Nationalismus erklärt werden.

Einige Werke, die sich wesentlich mit Religion und Religionsgeschichte auseinandersetzen, mögen genannt werden: Zwei Bücher von Annemarie Schimmel „Der Islam im indischen Subkontinent“ und „Im Reich der Großmoguln. Geschichte, Kunst, Kultur“. Das Werk „Islam.

Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel“ des zuvor erwähnten altösterreichischen Orientalisten Gustave von Grunebaum oder „Religionen der Welt“, herausgegeben von Monika und Udo Tworuschka. Angelika Malinar hat auf etwa dreihundert Seiten die Glaubenswelt des Hinduismus dargelegt. Neben den sozialen Dimensionen und den organisatorischen Strukturen hat sie sich aber auch der Geschichte gewidmet; unter anderem dem Hindu-Nationalismus. Dabei beschäftigt sich Malinar auch mit der wechselseitigen Beziehung von Hindutva und Neuen Medien. Für diese Arbeit zitiert wurde auch ein Werk des deutschen Indologen Heinrich von Stietencron. Das Buch des deutschen Autors Gerhard Schweizer „Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter“ wurde ebenso für vorliegende Arbeit herangezogen. Schweizer, der in Empirischer Kulturwissenschaft promivierte und neben dem Veröffentlichen zahlreicher Bücher auch Vorträge hält – unter anderem an der Karl-Franzens-Universität Graz im Jahr 2018 – suchte auf seinen Reisen immer wieder das Gespräch mit den Einheimischen. Beim Lesen seiner Bücher entsteht für mich der Eindruck, dass er bemüht ist, seine „westliche Brille“ abzulegen.

Herangezogen wurde nicht zuletzt Fachliteratur, die sich vornehmlich mit dem Hindu- Nationalismus auseinandersetzt. Six Clemems liefert in seinem Buch „Hindu-Nationalismus und Globalisierung“ unter anderem auch eine Darlegung über die Entstehung der Hindutva- Ideologie. Während sich Anustup Basu in seinem Werk „Hindutva as Political Monotheism“

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15 ganz aktuellen Themen widmet, wie beispielsweise jenem über die Beziehung zwischen den Neuen Medien und den Protagonisten und Protagonistinnen des Hindu-Nationalismus. Erwähnt werden soll hier auch die Hochschulschrift von Jürgen Holzer; eingereicht 2020 an der Karl- Franzens-Universität Graz am Institut für Geschichte. Holzer untersucht das Spannungsfeld zwischen dem Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS)15 und der Bharatiya Janata Party (BJP).

Wenngleich seine Forschungsfrage einer vollkommen anderen Fragestellung als wie jener in dieser Arbeit nachgeht, liefert er – vor allem aufgrund seiner Interviews – auch für diese Arbeit verwertbare Daten und Quellen.

Selbstverständlich fließen auch Werke von Indern und Inderinnen muslimischen Glaubens in diese Arbeit ein. So etwa „Handbook of Muslims in India: empirical and policy perspectives“

herausgegeben von Basant Rakesh oder Parvis Ghassem-Fachandi, der sich mit dem Pogrom in Gujarat im Jahr 2002 auseinandersetzt.

Um überhaupt Begriffe wie Nationalismus, Rasse, Faschismus, Hindu-Nationalismus oder Hindutva möglichst präzise und objektiv deuten und erklären zu können, ist es notwendig, mehrere Sichtweisen von diversen Experten und Expertinnen zu kennen und auf eine mögliche Pluralität von Deutungen aufmerksam zu machen. Wie problematisch eine inflationäre Verwendung von Begriffen sein kann, zeigt schon allein, dass die Bezeichnung für den österreichischen Ständestaat von 1934 bis 1938 als faschistischen Staat keineswegs auf einen Konsens beruht. Kann der Hindu-Nationalismus als Faschismus bezeichnet werden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

Was bedeutet eigentlich Rasse im Kontext des Hindu-Nationalismus? Auch darüber gibt es keinen Konsens. Und: Ist Hindutva oder Hindu-Nationalismus gleich Faschismus? Da eine seriöse Beschäftigung mit diesem Thema eine Darlegung, was die einzelnen Begriffe bedeuten, voraussetzt, wurde auch wissenschaftliche Literatur verwendet, die sich mit solchen theoretischen Begriffen auseinandersetzen. Beispielsweise „Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen“ von Hans-Ulrich Wehler oder ein Artikel des Ethnologen Sam Mitchell.

Eine zeitgenössische Quelle ist ein muslimischer Autor, der auch als Zeitzeuge die zunehmende Feindschaft zwischen Teilen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung miterlebt hat.

15 Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) ist eine hierarchisch strukturierte Kaderorganisation, deren Ideologie der Hindu-Nationalismus ist. Im Kapitel Erklärungen zu diversen Begriffen werden Aufgaben und Bedeutung des RSS ausführlicher beschrieben.

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16 Er schrieb sein Werk im Jahr 1928; wobei die für diese Arbeit verwendete Ausgabe ein Reprint aus dem Jahr 1999 ist.

Obgleich wissenschaftliche Sekundärliteratur den weitaus größten Teil der Quellen ausmachen, sind mir bei der Recherche auch Internetseiten sowie Videos auf YouTube untergekommen, die sich meines Erachtens für etwaige Zitate sehr gut eignen. Sie runden die breite Facette des Quellenmaterials ab.

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Der Islam auf dem Subkontinent

In diesem Kapitel soll ein Überblick über den Islam auf dem Subkontinent geboten werden.

Pakistan und Bangladesch sind überwiegend muslimische Länder. Wie aber ist die demographische Situation und Entwicklung im heutigen Indien? In welchen Bundesstaaten leben die meisten Muslime und Musliminnen? Wie seriös sind statistische Daten zur Religionszugehörigkeit? Zuletzt gibt dieses Kapitel, welches lediglich eine thematische Hinführung zu der Forschungsfrage ist, einen Ausblick auf das nächste Kapitel, wo die Geschichte das große Thema ist.

Mit etwa 14 Prozent an der Gesamtbevölkerung ist der Islam die zweitgrößte Religion des Landes.16 Exakte Zahlen sind schwer zu ermitteln, denn nach einigen Quellen stehen den Behörden einige logistisch-organisatorische Probleme gegenüber.17 Zudem wird mancherorts ein Konversionswechsel durch bürokratische Hürden erschwert.18 Fakt aber ist, dass in absoluter Zahl Indien eines jener Länder ist, deren Anteil an muslimischen Gläubigen weltweit am höchsten ist. Indien ist nach Indonesien und Pakistan das Land mit den meisten Muslimen und Musliminnen. Beschäftigt man sich indes mit der Geschichte des Islam auf dem indischen Subkontinent, so gilt es, sowohl Pakistan als auch das in den 70ern gegründete Bangladesch zu berücksichtigen. Demnach erhöht sich der Prozentanteil an muslimischen Gläubigen in dieser Region der Welt enorm. Eine Präzisierung der Definition erscheint hier notwendig. Kultur und Geschichte des Islam in Indien ist nicht dasselbe wie Kultur und Geschichte des Islam auf dem indischen Subkontinent. Demnach wird in dieser Arbeit die Bezeichnung Subkontinent

16 Löchel, Christin (Hgg.): Der Neue Fischer Weltalmanach 2019. Zahlen, Daten, Fakten. Schwerpunkt Arbeit, Frankfurt am Main: 2018. S.206

Etwa zehn Jahre zuvor (2008) schätze auch Mushirul Hasan die muslimische Bevölkerung Indiens auf etwa 140 Millionen Menschen, was in etwa 13 bis 14 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Mushirul, Hasan:

Challenges to Islam in India, in: Ramin, Jahanbegloo (Hg.): India Revisited. conversations on contemporary India, Oxford University Press Oxford: 2008. S.173

17 Rukmini, S.: Census misses many people, so will NPR. India´s 2011 census missed an estimated 28 million people, roughly equal to the population of Punjab at that time, in: https://www.livemint.com/news/india/census- misses-many-people-so-will-npr-11582632337507.html (aufgerufen am 18.08.2021)

Ein weiterer Link, der einen Abstract zu einer Untersuchung enthält. Das Wesentliche soll hier zitiert werden:

„This paper examines the growing delays in the release of census data in India amidst the technocratisation of policy-making, public professions of faith in evidence based policy-making and growing fascination wuth big data.

We show that he growing delay in the release of census data of India is a fact, …….“, in: Agrawal, Ankush / Kumar, Vikas: Delays in the release of India´s census data, 27.3.2020 in: https://content.iospress.com/articles/statistical- journal-of-the-iaos/sji180488 (aufgerufen am 18.08.2021)

18 Müller, Dominik: Indien. Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht, Hindunationalismus, Widerstand, Assoziation A Berlin: Hamburg: 2014. S.104

(18)

18 verwendet und nicht – außer wenn es aus dem Kontext eindeutig hervorgeht – die Bezeichnung Indien. Der Subkontinent umfasst viel mehr Fläche als das heutige Staatsgebiet der Republik Indien.

Seit 1951 ist der Anteil der Muslime und Musliminnen an der Gesamtbevölkerung gewachsen.

In jenem Jahr machten Muslime und Musliminnen etwa 9,92 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes aus; zehn Jahre später (1961) 10,69 Prozent; 1971 11,21 Prozent; 1991 waren es 12,12 Prozent.19 Lange Zeit war die muslimische Bevölkerung auch ein wichtiger politischer

„Faktor“ bei Wahlen. Bei gesamtnationalen Wahlen stellen sie in zehn Wahlkreisen sogar die Mehrheit und in weiteren zehn können sie mit dreißig bis vierzig Prozent an der Bevölkerung wahlentscheidend sein.20 Traditionell wählten viele von Indiens Muslime und Musliminnen die Kongresspartei,21 die über weite Perioden die stärkste Partei war.

In welchen Regionen leben die meisten Muslime und Musliminnen? Im indischen Unionsterritorium Lakshadweep ist mit etwa 97 Prozent der muslimische Bevölkerungsanteil mit Abstand am größten.22 Dies ist nicht verwunderlich, denn die Inselgruppe befindet sich in unmittelbarer Nähe zu den Malediven, die ja ein muslimischer Inselstaat sind. An zweiter Stelle liegt der ehemalige Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Dort beträgt der muslimische Bevölkerungsanteil etwa 68 Prozent.23 Die Konvertierung von immer größeren Teilen der Bevölkerung zum Islam begann im 14. Jahrhundert.24 Die etwa 25 Prozent Hindus sind hauptsächlich Nachkommen jener Hindus, die sich während der islamischen Eroberung dem islamischen Diktat nicht unterworfen haben.25 Hindus waren und sind in Jammu viel stärker vertreten als in Kaschmir. Rai Mridu gibt den Anteil muslimischer Bevölkerung in Kaschmir mit 95 Prozent an.26

19 Siddiqui, Lubna: Distribution Pattern of Muslim Population in India, in: Qureshi, M. H. (Hg.): Muslims in India Since Independence: A Regional Perspective, Institute of Objective Studies New Delhi: 1998. S.30

20 Reetz, Dietrich Dr.: Das zweitgrößte islamische Land der Erde, in:

http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/44418/muslime-in-indien (aufgerufen am 03.10.2020)

21 Ebd.

22 Lakshadweep Population 2011-2021, in: https://www.census2011.co.in/census/state/lakshadweep.html (aufgerufen am 06.03.2021) In Indien fand die letzte Volkszählung 2011 statt und die nächste soll 2021 stattfinden.

23 Jammu and Kashmir Population 2011-201, in:

https://www.census2011.co.in/census/state/jammu+and+kasmir.html (aufgerufen am 06.03.2021)

24 Rai, Mridu: Hindu Rulers, Muslim Subjects, Hurst & Company London: 2004. S.37

25 Hughes, James / Unger, Monika (Hgg.): Das Große Länderlexikon, Basermann Verlag München: 199. S.1246 Insbesondere ab dem 15. Jahrhundert wurden Nicht-Muslime und Nicht-Musliminnen in Kaschmir teilweise diskriminiert und auch verfolgt.

26 Rai Hindu Rulers, Muslim Subjects, S.38 Das Buch ist jedoch bereits 2004 erschienen.

(19)

19 Es folgen der nordöstliche Bundesstaat Assam (in der Regionalsprache Asam) mit etwa 34 Prozent,27 Westbengalen (auf Bengalisch Pascimbanga) mit 2728 und Kerala (in der Sprache Keralas, Malayalam, Keralam) mit ebenfalls 27 Prozent. 29 In absoluter Zahl ist im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh der Anteil mit etwa 38,4 Millionen am größten.30 Eine genaue Nennung, sowohl in absoluten Zahlen als auch in Prozent, ist nicht möglich oder fast unmöglich. Denn Inder und Inderinnen sowohl muslimischen als auch christlichen Glaubens werden in manchen Regionen Indiens unterdrückt und diskriminiert. Seit den Erfolgen der Bharatiya Janata Party (BJP) und dem zunehmenden Einfluss des Vishva Hindu Parishad (VHP) schwindet in der größten Demokratie der Welt, wie Indien oftmals genannt wird, die rechtliche Grundlage für die Religionsfreiheit. So gibt es in den Bundesstaaten Gujarat, Madhya Pradesh und Chhattisgarh Gesetze, die einen Religionswechsel erschweren.31 Im nordwestindischen Gujarat ist es beispielsweise Gesetz, dass ein Konversionswilliger bei den Behörden dreißig Tage zuvor einen Antrag stellen muss, will er seine Religion wechseln.32 Ruft man sich zudem die Ausschreitungen, welche 2002 in Ahmedabad, der Hauptstadt Gujarats, geschahen, ins Gedächtnis, so verwundert es nicht, dass nur relativ wenige Menschen diese Schikane auf sich nehmen. In diesem Kontext sollte auch erwähnt werden, dass das soziale Milieu, in dem ein möglicher Konvertit und eine mögliche Konvertitin aufgewachsen sind, einem Religionswechsel auch ablehnend gegenüberstehen kann.33 Denn in den Hindu- Religionen ist es Pflicht, dass man die Aufgaben und Pflichten, welche die Kaste, in der man hineingeboren wurde, mit sich bringt, auch erfüllt. Darüber hinaus war und ist es in vielen Ländern oftmals so, dass unterdrückte oder/und vom Staat nicht gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaften in der Regel mehr Gläubige hatten beziehungsweise haben, als dies

27 Assam Population 2011-2021, in: https://www.census2011.cn.in/census/state/assam.html (aufgerufen am 06.03.2021)

28 West Bengal Population 2011-2021, in: https://www.census2011.cn.in/census/state/west+bengal.html (aufgerufen am 06.03.2021)

29 Kerala Population 2011-2021, in: https://www.census2011.cn.in/census/state/kerala.html (aufgerufen am 06.03.2021)

30 Uttar Pradesh ist Indiens bevölkerungsreichster Staat. Nach dem letzten Zensus von 2011 beträgt der muslimische Bevölkerungsanteil etwa 19,26 Prozent. Uttar Pradesh, in:

http://www.en.wikipedia.org/wiki/Uttar_Pradesh (aufgerufen am 06.03.2021)

31 Müller, Dominik: Indien. Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht. Hindunationalismus. Widerstand, Assoziation A Berlin: Hamburg: 2014. S.104

32 Ebd.

33 Der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer hat in seinem „Buch Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter“ das Verhältnis des Individuums zur Großfamilie und Kaste beschrieben. Er schreibt: „Innerhalb der Großfamilie und Kasten ist der Einzelne einem starken Anpassungsdruck an Gruppennormen ausgesetzt. Eine persönliche Entscheidung gegen den Willen der Familie und die Gepflogenheiten der Kaste zu treffen wagt kaum jemand, ja, erscheint den meisten als unvorstellbar.“ Schweizer, Gerhard: Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter, Klett-Cotta Stuttgart: 2001. S.141

(20)

20 die offiziellen Zahlen auf dem ersten Blick vermuten würden.34 Es lässt sich also konstatieren, dass das sozial-kulturell- religiöse Milieu einerseits sowie die behördlichen Diskriminierungen andererseits, für Konvertiten und Konvertitinnen große Hürden sind. Eo ipso ist es auch nicht auszuschließen, dass es in Indien vermutlich mehr Muslime und Musliminnen gibt, als es die offizielle Zahl aussagt.

Indiens muslimische Bevölkerung ist wie die restliche Bevölkerung des Landes keine homogene „Gruppe“, sondern unterscheidet sich hinsichtlich Sprache, Kultur, ethnischer Herkunft und sozi-ökonomischen Status voneinander. So ist in Westbengalen der Unterschied zwischen der Urdu sprechenden muslimischen Bevölkerung und jener muslimischen, die Bengali spricht, sehr groß.35 Die Urdu sprechende Bevölkerung lebt vornehmlich in den Städten und die Bengali sprechende am Land.36 Und auch die politisch-soziale Mobilität verläuft sehr stark anhand von Sprachkriterien, so Basant und Shariff.37

Viele Muslime und Musliminnen waren – genauso wie die christliche Bevölkerung Indiens – früher Hindus. Unter der muslimischen wiewohl unter der christlichen Bevölkerung ist vielerorts auf dem Subkontinent noch das Kastenwesen mehr oder weniger stark verankert.

Natürlich gibt es auch hier regionale Unterschiede. So ist in Bihar und in Teilen des Bundesstaates Uttar Pradesh das Kastenwesen noch viel stärker ausgeprägt als dies in Westbengalen der Fall ist.38

Wie die Mehrheit der indischen Bevölkerung leben die meisten Muslime und Musliminnen auf dem Land.39 In den Städten gibt es oftmals Viertel mit muslimischer Wohnbevölkerung.

Vielfach gibt es dort auch eine jahrhundertealte Tradition von Handwerk-und Handwerkskunst.

So leben beispielsweise im oberen Gangestal mehr Muslime und Musliminnen in Städten als in

34 Zu nennen sind hier nicht nur der ehemalige Ostblock, sondern auch die heutigen Staaten Nordkorea und die Volksrepublik China. Die säkulare Verfassung Indiens verbietet Diskriminierung aufgrund von Religion, doch leidet die muslimische Bevölkerung immer mehr an Diskriminierung.

35 Basant, Rakesh / Shariff, Abusaleh: Handbook of Muslims. Empirical and Policy Perspectives, Oxford University Press Oxford: 2010. S.21

36 Ebd.

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Kanitkar, Tara: Minority Religious Communities in India, in: Qureshi, M.H. (Hg.): Muslims in India Since Independence. A Regional Perspectives, Institute of Objective Studies New Delhi: 1998. S.16

(21)

21 den mittleren und unteren Ebenen des Ganges.40 In Kalkutta (Kalkata) sind sogar über zwanzig Prozent der Bevölkerung Muslime und Musliminnen.41

Beschäftigt man sich mit der aktuellen Situation der Muslime und Musliminnen im heutigen Indien, so gilt es, den Konflikt mit Pakistan mit zu berücksichtigen. Denn dieser Konflikt beeinflusst nicht nur die Außenpolitik beider Staaten; er wird auch dazu genutzt, um Ängste der Zivilbevölkerung in beiden Ländern hervorzurufen beziehungsweise zu fördern.42

Die muslimische Bevölkerung wird in manchen Teilen Indiens – aufgrund der politischen Lage teilweise sogar zusehends – diskriminiert. Genauso wie die Dalits (die sogenannten

„Kastenlosen“) und die Adivasi (die Ureinwohner) erfuhr auch die muslimische Bevölkerung soziale Marginalisierung.43 Die soziale und ökonomische Kluft zwischen den Dalits und den Adivasi und den „oberen“ Hindu-Kasten ist aber in den letzten Jahren geschrumpft, insbesondere in den 90er Jahren hat diese Entwicklung eingesetzt.44 Hingegen war dies bei der muslimischen Bevölkerung nicht der Fall.45 Staatliche Gesetze, die die Situation der Dalits und Adivasi verbessern sollen, wie für diese Bevölkerungsschichten vorgesehene Quoten an staatlichen Hochschulen und im öffentlichen Dienst, gibt es nicht für die muslimische Bevölkerung.46

Trotz der zeitweise kriegerischen Vergangenheit, die im nächsten Kapitel genauer dargestellt wird, hat die islamische Kultur das heutige Indien stark beeinflusst, insbesondere den Norden des Landes. Als wohl berühmtestes Beispiel für den Kulturtransfer ist die Ära der Moguln zu nennen. Die Moguln beherrschten von 1526 bis 1857 große Teile des Landes. Berühmt wurde die Mogul-Architektur, dessen wohl bekanntestes Beispiel das Taj Mahal in Agra ist.

Wenngleich die Symbiose beider Kulturen in der Architektur, in der Kunst, wie beispielsweise in der Musik, sowie zu einem gewissen Grad auch in der Gesellschaft – es gab eine indo- persische Elite – augenscheinlicher zutage trat, ist es auch im religiösen Bereich zu einem

40 Izhar, Hasan Mohammad / Daspattanayak, Pritirekha: Urbanisation of Muslims: A Study of U.P., Bihar and West Bengal, in: Qureshi, M.H. (Hg.): Muslims in India Since Independence. A Regional Perspectives, Institute of Objective Studies New Delhi: 1998. S.80

41 Nach dem Zensus vom Jahr 2011 20,60 Prozent. Kolkata City Population Census 2011-2021, in: https://www.census2011.co.in/census/city/215-kolkata.html (aufgerufen am 06.03.2021)

42 Im Kapitel „Der Ayodhya-Konflikt (1992) und die Pogrome in Gujarat (2002) wird im Exkurs „Psychologische Mechanismen religiöser Gewalt“ unter anderem aufgezeigt, auf welche Weise dies geschieht.

43 Basant, Shariff, Handbook of Muslims in India, S.285

44 Ebd.

45 Ebd.

46 Ebd.

(22)

22 Austausch gekommen.47 Islamische und hinduistische Frömmigkeit haben sich gegenseitig beeinflusst. So wurde der Hinduismus vom Sufismus beeinflusst und auch umgekehrt.48 Ebenso ist die Religion des Sikhismus auch in Auseinandersetzung mit dem Islam entstanden. Kabir und Nanak – letzterer wurde der Begründer des Sikhismus – suchten eine gemeinsame Basis des Glaubens für beide Religionen. 49 Kabir war ein indischer Mystiker des 15.und 16.Jahrhunderts, der vom Ideal einer einigenden Menschheit beseelt war. Bhakti, die in den Hindu-Religionen hingebungsvolle und liebende Hingabe an Gott beziehungsweise an eine Gottheit, hat ihn emotional-religiös genauso berührt wie der Sufismus. Berücksichtigt man das eben Genannte, ist demnach dem deutschen Historiker Christian Zentner zu widersprechen, der behauptet, dass sich in Indien jene beiden Kulturen bis auf die Ausnahme im Bereich der Architektur, nicht beeinflusst hätten.50 Ganz im Gegensatz zur These von Zentner ist Prof. em.

Ram Punyani, ein ehemaliger Biomedizintechniker, zu sehen. Er bezeichnet sowohl Bhakti als auch den Sufismus als die größten Beiträge zur indischen Kultur.51 Indiens Kultur ist das Ergebnis aller Religionen, so der Mediziner.52

Welche Richtungen des Islam gibt es in Indien heute? Die überwiegende Mehrheit der indischen Muslime und Musliminnen sind Sunniten nach der hanafitischen Rechtsauslegung.53 Aber auch der schiitische Islam hat auf dem Subkontinent eine lange Tradition. Während der Ära der Moguln beispielsweise stammten viele Frauen und Hofdamen aus dem schiitischen Persien. In manchen Regionen des Subkontinents ist der Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten traditionell ziemlich stark ausgeprägt.54 Insbesondere in Pakistan kam beziehungsweise kommt es immer wieder zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten. Die Schiiten fordern verfassungsrechtliche Garantien und dass das schiitische Recht für sie gilt.55

47 Die gegenseitige Bereicherung im religiösen Bereich soll freilich nicht darüber hinwegtäuschen dass es Gegensätze zwischen den Hindu-Religionen und dem Islam gab und gibt. Auf höherer religiöser Ebene fand kaum ein Austausch statt, wie Embree Ainslie konstatiert hat. Embree, Ainslie: Indien: Geschichte des Subkontinents von der Induskultur bis zum Beginn der englischen Kolonialherrschaft, Band 17 Fischer Weltgeschichte Frankfurt am Main: 1967. S.218

Deswegen wurde oben im Text auch die Bezeichnung „im religiösen Bereich“ und nicht „Religion“ verwendet.

48 Das nächste Kapitel widmet sich ausführlicher der gegenseitigen Beeinflussung im religiösen Bereich.

49 Klimkeit, Hans-Joachim: Der politische Hinduismus: Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen, Harrassowitz Wiesbaden: 1981. S.169

50 Zentner, Christian: Der große Bildatlas der Weltgeschichte, Uni-Part Verlag Stuttgart: 1995. S.208

51 India and Hindu Muslim Unity I Ram Punyani I TEDxNMIMMSShirpur, in:

https://www.youtube.com/?v=_nj7x5N5pA8 (aufgerufen am 17.08.2021)

52 Ebd.

53 Sprung, Christoph S.: Aspekte der Heterogenität des Islam in Indien, in:

http://www.suedasien.info/analysen/1611.html (aufgerufen am 11.10.2020)

54 Tworuschka, Monika / Tworuschka, Udo: Religionen Der Welt, Orbis München: 1996. S.204

55 Ebd.

(23)

23 Großen Einfluss bis auf die Gegenwart hat der Sufismus. Hier war es vor allem der Orden der Chishtiyya, welcher starken Einfluss auf die Kultur des Subkontinents genommen hat. Gründer des Ordens war Mu´inuddin Chishti, der aus dem Osten des heutigen Iran stammte.56 Die Ordensmitglieder lebten in Gemeinschaft zusammen und sahen darin auch einen wesentlichen Weg zur Spiritualität. Sie lebten Frömmigkeit nicht nur innerhalb ihrer klosterähnlichen Gemeinschaft, sondern taten auch außerhalb Gutes. So widmeten sie sich der Seelsorge und betrieben auch Armenküchen.57 Finanzielle Unterstützungsangebote seitens der Öffentlichkeit wurden abgelehnt, denn nach der alten „Asketenregel“ war es verboten, mit weltlichen Stellen zusammenzuarbeiten.58 Die Anhänger des Chishtiyya-Ordens gelten auch als die Erfinder der qawwali, jener religiös-mystischen Gesänge, die auch heute noch in Pakistan und in Teilen Nordwestindiens gesungen werden. Jene Lieder werden bis heute an den Heiligengräbern zu Ehren Gottes und/oder der Heiligen gesungen. Mu´inuddin Chishti und seine Nachfolger erlaubten auch Nichtmuslimen und Nichtmusliminnen an solchen Zusammenkünften teilzunehmen.59 Auch heute noch ist die pakistanische und nordwestindische muslimische Volksfrömmigkeit sehr stark vom Sufismus geprägt.60

Im nächsten Kapitel geht es um die Geschichte des Islam auf dem Subkontinent. Dabei geht es primär um das Verhältnis und um die Beziehungen zwischen dem Islam und den Hindu- Religionen.61 Wie war das Verhältnis zwischen der muslimischen und der angestammten Bevölkerung? Das nächste Kapitel ist nicht einfach eine Darlegung über die Geschichte des Islam in dieser Region der Erde, sondern es widmet sich der Frage, wie die Beziehungen zwischen den beiden Kulturen waren. Denn die Geschichte liefert für Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen einen wesentlichen Grund dafür, warum man dem Islam feindlich begegnet.

56 Von daher auch der Name des Ordens. Im frühen Hochmittelalter ließen sich viele fromme Männer aus dem Iran und aus Zentralasien in Indien nieder. Die Einfälle der Mongolen waren Grund dafür. Siehe: Schimmel, Annemarie: Der Islam im indischen Subkontinent, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: 3.

unveränderte Auflage 1995. S.11

57 Schimmel, Der Islam im indischen Subkontinent, S.12

58 Ebd.

59 Ebd.

60 Vom Sufismus geprägt sind auch viele Lieder des berühmten, 1997 viel zu früh verstorbenen Sängers und Musikers Nusrat Fateh Ali Khan.

61 Der Hinduismus stellt keine homogene Glaubenswelt dar. Hinduismus ist eine Fremdbezeichnung für all die vielen Religionen und religiösen Richtungen, welche die Europäer in diesem Teil der Erde vorfanden. Deshalb wurde im Text bewusst die Bezeichnung Hindu-Religionen verwendet.

(24)

24

Geschichte und Geschichtswahrnehmung des Islam auf dem indischen Subkontinent

Der Islam im indischen Subkontinent – eine kulturgeschichtliche Einführung

Geschichtsdarstellung und Geschichtswahrnehmung beeinflussen von jeher Denken und Handeln vieler Menschen. Aus Geschichte kann und soll man lernen. Geschichtswissenschaft ist der Versuch, möglichst genau etwas über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen.

Multiperspektivität, systematische Überprüfbarkeit ihrer Thesen, Offenheit und Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Diskurses sowie Dekonstruktion sind Merkmale der Geschichtswissenschaft. Geschichte generell bietet die Chance, aus ihr zu lernen und verpasste Chancen der Vergangenheit wahrzunehmen und das daraus gewonnene Wissen in der Zukunft anzuwenden. Doch ist dies leider selten der Fall. Bekannt ist das Zitat von Ingeborg Bachmann:

„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“62 Im Hinterkopf sollte man sich auch die Tatsache vor Augen halten, dass immer der Sieger die Geschichte schreibt.

Für das Thema dieser Arbeit – Gründe des Hindu-Muslim Konflikts – ist die Wahrnehmung von Vergangenheit ganz wesentlich. Denn die Geschichte des Islam in diesem Teil der Erde ist für die Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen sowohl ein Grund für ihre ablehnende Haltung gegenüber den Muslimen und Musliminnen als auch ein Beweis dafür, dass der Islam für Indien eine Bedrohung darstellt. Die muslimische Bevölkerung des Landes wird teilweise als Verräter, teilweise als ausländische Invasoren beziehungsweise als deren Nachkommen gesehen.63 Als „Verräter“ werden sie deshalb bezeichnet, weil jene Muslime und Musliminnen ursprünglich Hindus waren und sich von ihrem ursprünglichen Glauben abgewandt haben. Es ist aber Pflicht eines jeden Hindu, sein Dharma zu befolgen.64

Was die Geschichte des Subkontinents ab dem 8.Jahrhundert nach Christus – also dem Eintreffen des Islams in dieser Weltregion – betrifft, so haben Hindus und Muslime jeweils

62 Zitate von Ingeborg Bachmann, in: https://1000-zitate.de/autor/Ingeborg+Bachmann/ (aufgerufen am 07.03.2021)

63 Eriksen, Thomas Hylland: Ethnicity and Nationalism, Pluto London: 2002. S.157

64 Mit Dharma meint man die religiösen und ethischen Pflichten, die ein Mensch seit seiner Geburt hat. Nicht umsonst hört man auch vielfach den Satz: „Das ganze Leben ist Religion.“

(25)

25 unterschiedliche Versionen der Vergangenheit.65 Um zu verstehen, warum es zwischen Teilen der muslimischen und Teilen der hinduistischen Bevölkerung zu antagonistischen Gefühlen kommt, die mitunter in Hass münden, ist es notwendig, sich der psychischen Repräsentanz kollektiver Vergangenheit, die es sowohl in der muslimischen als auch in der hinduistischen Bevölkerung gibt, bewusst zu sein.66 Aus diesem Grund ist das Kapitel „Geschichte und Geschichtswahrnehmung“ so wichtig.

Viele Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen meinen, dass im Vergleich zur muslimischen Herrschaft die britische Kolonialzeit eine unbedeutende Episode gewesen sei.67 Die eigentliche „Fremdherrschaft“ begann im Jahr 1000 mit dem Eindringen der Turkvölker und hat sich tausend Jahre lang über verschiedene Sultane fortgesetzt.68 Nach der Weltsicht des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) waren Muslime und Musliminnen Eindringlinge und Hindus unschuldige Opfer. 69 Nationalistische Geschichtsschreiber und Geschichtsschreiberinnen meinen, dass die Geschichte Südasiens mangelhaft sei und ihre eigentliche Bedeutung verfehlt habe.70 Grund dafür seien die islamischen Eroberungen und die islamische Herrschaft. Eine ähnliche Sicht auf die Geschichte wurde aber auch teilweise von westlichen Historikern und Historikerinnen geteilt. So etwa schrieb Hardy Friedhelm in seinem 1994 erschienenen Werk „The Religious Culture of India: Power, Love and Wisdom“: „After five hundred years of Muslim rule and its demoralizing effects on the Hindu mind,….“71 Einen de facto unüberwindbaren Gegensatz zwischen der Religion des Islam und den Hindu- Religionen sah auch der französische Ethnologe und Anthropologe Louis Dumont.72 Die gegensätzlichen religiösen Werte, Normen aber auch Symbole sowie die damit vermeintlichen unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Gläubigen des Islam oder der hinduistischen Glaubensrichtungen wurden beziehungsweise werden in dieser Sichtweise als statisch und

65 Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar hat denn auch die Überschrift des ersten Kapitels in seinem Buch

„Die Gewalt der Frommen“ „Hintergründe. Hindus und Muslime: Versionen der Vergangenheit“ genannt. Kakar, Sudhir: Die Gewalt der Frommen: Zur Psychologie ethnischer und religiöser Konflikte, Beck München: 1997.

66 Kakar, Sudhir: Die Gewalt der Frommen: Zur Psychologie ethnischer und religiöser Konflikte, Beck München:

1997. S.11f.

67 Hoskote, Ranjit / Trojanow, Ilija: Brüder im Geiste. Hindutva und Islamismus, in: Hoskote, Ranjit / Trojanow, Ilija (Hgg.): Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen, Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main: 2017.

68 Ebd.

69 Ebd.

70 Arnold, David: Südasien. Band 11 Neue Fischer Weltgeschichte Frankfurt am Main: Deutsche Ausgabe 2012.

S.17

71 Hardy, Friedhelm: The Religious Culture of India: Power, Love and Wisdom, Cambridge University Press Cambridge: 1994. S.332

72 Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.): Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens? Ein Symposium, Kindt München: 1995. S.80

(26)

26 ahistorisch angesehen.73 Judith Renner hat in ihrer Diplomarbeit „Kaschmir zwischen Indien und Pakistan. Eine Analyse der Ursachen für den Krieg ab 1990“ auch die archäologischen und historischen Forschungsarbeiten westlicher Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts in der Kaschmir-Region thematisiert. Dies ist in diesem Zusammenhang deshalb interessant, weil jene westlichen Indologen durch ihre linguistischen Untersuchungen (man war insbesondere an vorislamischen Überlieferungen in Sanskrit interessiert) und ihr archäologisches Interesse an vorislamischer Architektur dazu beitrugen, dass man Kaschmir als ein uraltes Land sah, in welchem die Hindu-Eliten tief in Geschichte und Topographie des Kaschmirtals verwurzelt seien.74 Jene westlichen Indologen wie beispielsweise die Altösterreicher Georg Bühler und Aurel Stein sowie andere Forscher wurden vom Maharaja von Kaschmir auch finanziell unterstützt.75 Die muslimische Bevölkerung wurde in dieser Vorstellung als „neuzeitliche Eindringlinge“ abgekanzelt.76 In diesem Zusammenhang interessant ist auch Leben und Wirken des englischen Kolonialbeamten Sir Walter Roper Lawrence: Er prägte maßgeblich das Bild einer harmonischen Gesellschaft in Kaschmir, in der religiöse Unterschiede vor dem Hintergrund einer eindrucksvollen Landschaft an Bedeutung verlieren und die Menschen gemeinsame Rituale ausüben und auch in Glaubensvorstellungen teilweise zueinander fanden.77 Lawrence sinngemäß weiter: Die muslimische Bevölkerung dort ist in „ihrem Herzen hinduistisch geblieben“ und sei deshalb weniger fanatisch als andere Muslime auf der Welt.78 Westliche Bilder aus der Kolonialzeit wirkten lange nach.

Die Vorstellung, wonach die Geschichte des Subkontinents sich in eine „Hindu-Zeit“, in eine

„muslimische Zeit“ und in eine „britische Zeit“ einteilen ließe, gilt heute als weitgehend unzutreffend und anachronistisch, so Arnold.79 Dies allein schon deshalb, weil auch in der sogenannten islamischen Phase die nichtislamischen Kulturen keineswegs stagnierten, sondern neue Formen entwickelten.80 Auch sollte man die damalige Zeit, die zweifelslos eine Zeit der Eroberungen war, nicht durch die Brille des 20. oder 21. Jahrhunderts betrachten. In Zentralasien, im Nahen Osten und auch auf dem Subkontinent ging man Bündnisse ein und

73 Ebd.

74 Renner, Judith: Kaschmir zwischen Indien und Pakistan. Eine Analyse der Ursachen für den Krieg ab 1990, Hochschulschrift Wien: 2011. S.37

75 Ebd.

76 Ebd.

Renner zitiert in jenem Zitat Kabir Ananya Jahanara´s Werk „Territory of desire. Representing the Valley of Kashmir“, erschienen 2009.

77 Rai, Hindu Rulers, Muslim Subjects, S.41

78 Ebd.

79 Arnold, Südasien, S.205.

80 Arnold, Südasien, S.206.

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