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Nachdem im vorigen Kapitel die Geschichte das große Thema war, widmen sich die folgenden Kapiteln nun der jüngsten Vergangenheit und vor allen Dingen der Gegenwart. Rückblickend kann gesagt werden, dass die Geschichte beziehungsweise die Geschichtsdeutung ein wesentlicher Grund für die feindliche Haltung gegenüber der muslimischen Bevölkerung ist.

Im zweiten Teil der Arbeit werden weitere Gründe für die feindliche Haltung gegenüber der muslimischen Bevölkerung genannt. Der zeitliche und kulturelle Hintergrund ist unter anderem die Globalisierung mit ihren Chancen und Risiken. Zuvor aber ist es sinnvoll, sich einige Begriffe genauer anzusehen. Dieses Kapitel erfüllt in erster Linie die Funktion eines Glossars.

Dabei aber geht es um die bloße Definition von Begriffen hinaus. Dies unter anderem deshalb, weil der Begriff Hindutva – vor allem in Indien selbst – sehr widersprüchlich ausgelegt wird.

Darüber hinaus ist die Geschichte des heutigen Hindu-Nationalismus, die im 19. Jahrhundert begann, für ein besseres Verstehen von Hindutva notwendig. Auch bei anderen Begriffen wie Bharat, Demokratie und Säkularismus ist es schwer sie in ein oder zwei Sätzen abzuhandeln.

Denn unter Demokratie und Säkularismus versteht man in Indien gemeinhin etwas anderes als in Europa oder Amerika. In diesem Kapitel werden unter anderem für dieses Thema essentielle Fragen behandelt, wie: Was bedeutet eigentlich Hindu-Nationalismus? Was ist sein Wesen?

Da ein tieferes Verstehen dieser Begriffe für ein besseres Verständnis der nachfolgenden Kapiteln von großem Vorteil ist, steht dieses Kapitel, in dem es um Begriffe und Definitionen geht, vor den anderen Kapiteln und nicht am Ende der Arbeit. Erst nachdem diverse Begriffe erklärt worden sind, werden weitere Gründe angeführt.

Beschäftigt man sich mit der aktuellen Lage der muslimischen Bevölkerung in Indien, erkennt man, dass die immer stärker werdende Präsenz des Hindu-Nationalismus in der indischen Öffentlichkeit einen breiten Raum einnimmt. Seit den 80er Jahren ist der Hindu-Nationalismus immer mehr Teil der Alltagsrealität zwischen indischen Muslimen und Musliminnen und indischen Hindus geworden. Dies vorwiegend in urbanen Räumen.

Die Anhänger und Anhängerinnen des Hindu-Nationalismus sind aber keine homogene Gruppe, sondern in der Ideologie des Hindu-Nationalismus finden sich mehrere, voneinander unabhängig agierende Gruppen und Organisationen,390 die zum Teil andere Ziele oder/und

390 Kakar / Kakar, Die Inder, S.134

70 andere Schwerpunkte verfolgen. Wie Jürgenmeyer schreibt, ist die gegenwärtige hindu-nationale Bewegung keineswegs ein monolithisches Gebilde, sondern sie ist inneren Gegensätzen und Spannungen ausgesetzt, die sowohl auf der ideologischen als auch auf der politischen Ebene auftreten.391

Obwohl die Wurzeln des Hindu-Nationalismus bereits im 19. Jahrhundert zu suchen sind, nahm man ihn außerhalb Indiens erst en gros in den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts wahr. Christophe Jaffrelot beklagt in seinem Buch „Hindu Nationalism: A Reader“ denn auch das geringe Interesse, als er in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts anfing, den Hindu-Nationalismus zu untersuchen: „When I started work on the Hindutva movement in the 1980s, I was struck by the lack of interest this stream of Indian politics had sparked thus far.“392 Erst Mitte der 90er Jahre hat dann auch die Weltöffentlichkeit allmählich begonnen, davon Notiz zu nehmen. Mit der Wahl der Bharatiya Janata Party zur stimmenstärksten Partei im Herbst 2014 und dem Antritt des auch im Ausland umstrittenen Narendra Modi zum Premierminister wurde und wird auch außerhalb Indiens der Hindu-Nationalismus nun verstärkt wahrgenommen und thematisiert.393

Wie am Anfang dieses Kapitels bereits dargelegt, werden in den darauffolgenden Kapiteln weitere Gründe für die feindliche Haltung gegenüber der muslimischen Bevölkerung angeführt.

Zunächst ist es jedoch notwendig, einige Begriffe zu erklären und zu definieren und es ist Aufgabe dieses Kapitels, dies zu tun. Die Erläuterung bestimmter Grundbegriffe ist für eine seriöse Herangehensweise an dieses Thema unabdingbar. Denn es handelt sich dabei nicht nur um Wörter, die im und aus dem indischen Kontext hervorgegangen sind wie etwa Hindutva, sondern erläutert werden auch Wörter, die eine politische Bedeutung haben – auf dem Subkontinent jedoch anders verstanden werden als in Europa oder in Nordamerika. Geklärt werden Begriffe wie Hindutva, Hindu-Natonalismus, Sangh Parivar etc. Es soll aber auch geklärt werden, was beispielsweise das Wort Säkularismus im indischen Kontext meint. Auch soll versucht werden, Begriffe wie Demokratie oder das oftmals inflationär gebrauchte Wort Faschismus näher zu definieren. Denn der Export solcher Begriffe in den indischen Kulturkreisen394 wird dann problematisch, wenn man darunter die westliche Bedeutung

391 Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.): Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens?, München: 1995. S.130

392 Jaffrelot, Christophe: Hindu Nationalism: A Reader, Princeton University Press Princeton: 2007. S.xi

393 Aufgrund seiner Haltung zur muslimischen Bevölkerung und seiner Rolle während der Pogrome in Gujarat war beziehungsweise ist Modi auch im Ausland umstritten.

394 Da auch der heutige Staat Indien äußerst heterogen ist, wird hier bewusst die Bezeichnung im Plural verwendet.

71 versteht. Selbst unter der Bezeichnung Demokratie versteht man auf dem Subkontinent etwas anderes als in Europa.

Folgende Begriffe sollen näher definiert werden:

Indien, British-Indien und Bharat Ganarajya:

Das, was außerhalb Indiens als Indien bezeichnet wird, meint etwas Anderes als die historische Bezeichnung Britisch-Indien. Es ist aber auch nicht dasselbe, was man im Hindu-Nationalismus unter Indien versteht. Der heutige Staat Indien mit seinen neunundzwanzig Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien ist erst das „Ergebnis“ eines historischen Prozesses von Unabhängigkeit, Bürgerkriegen und Abspaltungen. Ein geeintes Indien hat es nie gegeben. Als die britische Kolonialmacht begann, ihre politische und wirtschaftliche Macht auch auf dem Subkontinent aufzubauen, gab es rund sechshundert verschiedene Fürstentümer.395 Manche von diesen regionalen Herrschaftsgebieten konnten sich in Bezug auf Fläche und Bevölkerungsanzahl mit europäischen Staaten messen. Der kleinste von ihnen, Vejanoness im Nordwesten Indiens, hatte hingegen nur über rund zweihundert Einwohner und Einwohnerinnen.396 Britisch-Indien meint hingegen das gesamte Kolonialgebiet bis zur Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich am 15. August 1947. Neben dem gegenwärtigem indischen Staatsgebiet gehörten zu Britisch-Indien auch die heutigen Staaten Pakistan, Bangladesch und bis 1935 auch Myanmar. De jure nicht Teil von Britisch-Indien waren rund 500 halbautonome Fürstentümer, welche aber unter kolonialer Oberhoheit standen.397 Sri Lanka, das ehemalige Ceylon, war zwar ebenso Teil des Vereinigten Königreiches, war aber nicht Teil von Britisch-Indien.

Anhänger und Anhängerinnen des Hindu-Nationalismus verstehen unter Indien jene Gebiete, in denen während und vor der islamischen beziehungsweise britischen Eroberung Hindus lebten. Jene Gebiete, die im Jahr 1936 zu Britisch-Indien gehörten, aber ebenso Sri Lanka sowie das ehemalige hinduistische Königreich Nepal ist für die Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen Indien.398 Dieses Verständnis von dem, was Indien ist, deckt sich in territorialer Hinsicht zu einem guten Teil mit jenem von Britisch-Indien; allerdings ohne den

395 Martenstein, Harald: Die Fürsten der Verschwendung. In der Märchenwelt der Maharadschas, in: Gaede, Peter-Mathias (Hg.): GEO EPOCHE Indien. 1450-1948. Maharadschas, Moguln, Kolonialherren, Nr. 41 Hamburg:

2010. S.122

396 Ebd.

397 Schweizer, Gerhard: Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter, Klett-Cotta Stuttgart: 2001. S.116

398 Müller, Dominik: Indien. Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht. Hindunationalismus. Widerstand, Assoziation A Verlag Berlin: Hamburg: 2014. S.108

72 heutigen Staat Myanmar, der in religiöser Hinsicht mehrheitlich buddhistisch und in ethnischer mehrheitlich tibeto-birmanisch ist. Wie wenig die moderne, außerhalb Indiens verwendete, Bedeutung des Wortes Indien dem traditionellen indischen Selbstverständnis entspricht, wird meines Erachtens am Eigennamen des Staates selbst erkennbar: Auf Hindi lautet die Bezeichnung des Landes Bharat und auf Hindi heißt der Staat dann offiziell Bharat Ganarajya, Republik Indien.399 Indien ist jene Bezeichnung, die für den internationalen Gebrauch bestimmt ist, wohingegen Bharat innerhalb des Landes Verwendung findet, so Schweizer.400 Bharat bezieht sich auf einen König namens Bharata, der vor weit zurückliegender Zeit den ganzen indischen Subkontinent unter seiner Herrschaft gebracht haben soll.401 Das der Historiker und die Historikerin keine verlässliche Quelle findet,402 die über diesen König Informationen liefern könnte, ist für das Thema vorliegender Arbeit irrelevant. Wichtiger scheint in diesem Zusammenhang zu sein, dass man den Namen des Königs in Indiens berühmten Epos findet:

dem Mahabharata.403 Und wie bereits vorhin erläutert, lautet selbst die offizielle Bezeichnung der Republik Indien auf Hindi Bharat Ganarajya. Und schließlich lautet der Name jener Partei, die seit 2014 den Ministerpräsidenten stellt, Bharatiya Janata Party. Der Rückgriff auf die weit zurückliegende, mystische Vergangenheit zeigt sich somit nicht nur im traditionellen Verständnis für das Land, sondern fand Verwendung sowohl in der offiziellen Bezeichnung für das Staatsgebiet als auch für den Namen der derzeit stärksten politischen Partei dieses riesigen Landes.404

Ein geeintes Land – Bharat – welches vor der islamischen und britischen Eroberung existierte und im Mahabharata als Ideal beschworen wird,405 hat niemals existiert. Doch ist diese im Epos vermittelte Vorstellung davon auch für das Thema und die Forschungsfrage vorliegender Arbeit interessant. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Subkontinent niemals unter einer Herrschaft geeint gewesen ist.

Das, was aus der jeweiligen Perspektive unter Indien zu verstehen ist, ist demnach wesentlich für das tiefere Verstehen antagonistischer Haltungen und Handlungen der Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen gegenüber der muslimischen Bevölkerung. Wörter und

399 Vgl.: Indien, in: www.https://de.wikipedia.org/wiki/Indien (aufgerufen am 11.04.2021)

400 Schweizer, Indien & China, S. 112

401 Schweizer, Indien & China, S. 113

402 Ebd.

403 Ebd.

404 Freilich: Der offizielle Name des modernen Staates Indien lautete bereits vor dem Erstarken der Bharatiya Janata Party so. Nur hat man das Wort „Bharat“ im Hindu-Nationalismus instrumentalisiert und es bekam eine exklusive, ausschließende, Komponente.

405 Schweizer, Indien & China, S.113

73 Bezeichnungen bilden das Denken und Vorstellungen ab und reproduzieren diese wieder. Der Islam und „die“ Muslime gehören ebenso wie die britische Kolonialherrschaft und das Christentum nicht zu Bharat.

Demokratie im indischen Kontext:

Der nächste Begriff, den es näher zu untersuchen gilt, ist jener der Demokratie. Demokratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Herrschaft des Volkes. Anders als beispielsweise die Aristokratie, in der eine kleine, einflussreiche Bevölkerungsgruppe über eine größere Zahl von Menschen herrschte, sollte in der Demokratie die politische Macht vom „Volk“ ausgehen.

Im alten Griechenland hatten aber sehr viele Menschen, die in Athen oder in anderen Stadtstaaten lebten, nicht dieselben Rechte wie jene, die das griechische Bürgerrecht besaßen.

Darunter fielen beispielsweise Frauen, Metöken406, Sklaven und Sklavinnen etc.407 Dies zeigt, dass man im antiken Griechenland unter Demokratie was anderes verstand, als man es heute tut. Warum dieser Exkurs ins alte Griechenland? Begriffe, wie jener der der Demokratie, wandeln sich nicht nur im Laufe der Historie, sondern können auch kulturell eine unterschiedliche Bedeutung haben.

Ein Merkmal eines möglichst demokratischen Staates ist die Gewaltenteilung. Indien wird oftmals als die größte Demokratie der Welt bezeichnet. Doch was verstehen die meisten Inder und Inderinnen unter Demokratie? Gerhard Schweizer gibt in seinem Buch „Indien & China.

Asiatische Wege ins globale Zeitalter“ darauf folgende Antwort:

„Indiens Demokratie ist nicht mit westlichen Maßstäben zu messen. Demokratie lebt in Indien weniger von der individuellen Entscheidung des Einzelmenschen als vielmehr von der Entscheidung der Gruppe. Innerhalb der Großfamilie und Kasten ist der Einzelne einem starken Anpassungsdruck an Gruppennormen ausgesetzt. Eine persönliche Entscheidung gegen den Willen der Familie und die Gepflogenheiten der Kaste zu treffen wagt kaum jemand, ja, erscheint den meisten als unvorstellbar.408

Daraus lässt sich folgendes ableiten: Verfassungsmäßig ist das Land sehr wohl eine Demokratie.

Schließlich kann man wählen. Doch obgleich Nehru, Indiens erster Premier, in einer seiner Reden, nämlich im Jahr 1959 während einer Parteitagung in Nagpur, von einem „möglichst

406 Ein Metöke war ein Fremder, der in einer Stadt dauerhaft lebte, aber in dieser Stadt kein Bürgerrecht besaß.

Oftmals war es ein Grieche aus einer anderen Stadt. Aristoteles beispielsweise war in Athen ein Metöke.

407 Zum Wahlrecht für Frauen; Das Frauenwahlrecht – selbst in Europa – ist eine recht junge Errungenschaft. In Österreich können Frauen erst seit 1919 wählen; im kleinen Fürstentum Liechtenstein sogar erst seit 1984.

408 Der gesamte Absatz wortwörtlich übernommen aus: Schweizer, Gerhard: Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter, Klett-Cotta Stuttgart: 2001. S.141

74 großen Maß an Freiheit für das Individuum, …“ sprach,409 ist dies auch im Kontext seiner Erfahrungen mit westlichen Ideen zu sehen und es bedeutet nicht, dass die Bevölkerung das westliche Demokratieverständnis „eins zu eins“ übernommen hatte. Führt man sich Schweizers Sätze über Indiens Demokratie nochmals vor Augen, so besteht im Land ein Unterschied zwischen dem politischen, verfassungsrechtlichen Demokratieverständnis und dem gesellschaftlich-sozialen. Wobei meiner Meinung nach die Dimensionen des Politischen sich mit jenen des Sozialen überlappen, denn man ist eher dazu geneigt, jene Partei zu wählen, die auch das Familienoberhaupt oder/und die Kaste, die jati, wählt.410 Im Zusammenhang mit der Forschungsfrage dieser Arbeit kann auch folgende Überlegung angestellt werden: Herrschen in einer Großfamilie, die der Ideologie des Hindu-Nationalismus nahesteht, antimuslimische Denkmuster vor, so ist es sehr wahrscheinlich, dass der oder die Einzelne sich weniger traut, etwaige kritische Überlegungen zu äußern als wie wenn der kulturelle Hintergrund ein liberal-europäischer wäre. Überhaupt kommt der oder die Einzelne weiniger auf Gedanken, die einem vorherrschenden Denkmuster kritisch gegenüberstehen, weil er oder sie kritische Denkanstöße von außen gar nicht erst bekommt.411

Hindu-Nationalismus:

Das nächste Wort, welches näher definiert werden soll, ist jener des Hindu-Nationalismus.

Dieser Begriff ist für das Thema der Arbeit essentiell. Ohne zu übertreiben handelt es sich hierbei um einen Kernbegriff. Folglich ist eine möglichst korrekte und genaue Erläuterung was man unter Hindu-Nationalismus versteht, wichtig. Ist dies geschehen, wird auch der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit der Hindu-Nationalismus als Faschismus bezeichnet werden kann.

Was man im Hindu-Nationalismus unter Indien versteht, ist für ein tieferes Verstehen wichtig.

Dies wurde bereits zuvor erläutert.

Mit dem Hindu-Nationalismus untrennbar verbunden ist der Begriff Hindutva. Im Deutschen werden die Begriffe Hindutva und Hindu-Nationalismus oftmals synonym verwendet. Die drei

409 Schweizer, Indien & China, S.139

410 Das Wort „Kaste“ ist eine nicht-indische Bezeichnung. Inder und Inderinnen gehören einer Jati an. Jati ist eine Gemeinschaft, eine Schicht von Menschen, die die gleiche regionale Herkunft haben und auch traditionell die gleichen oder ähnliche Berufe ausüben. Jatis sind sozusagen die soziale und familiäre Komponente des Kastensystems.

411 Es kann hier nicht näher ins Detail eingegangen werden. Ich möchte an dieser Stelle nur versuchen, den Blick aufs Ganze zu richten. Eine Staatsform – welche auch immer – ist immer auch im Kontext der jeweiligen Mentalitäten und Kulturen zu sehen. Gemeinschaftssinn, Gruppensolidarität und Kollektivismus sind in China und Indien viel stärker ausgeprägt als in West,- und Zentraleuropa. Das hat sehr viele Vorteile; aber auch negative Seiten. Individualität und kritisches Denken kommen indes weniger zum Tragen.

75 Begriffe – Hindutva, Bharat (wenn es im Sinne von Hindutva genannt wird) und Hindu-Nationalismus – können demnach nicht isoliert voneinander betrachtet werden.

Hindu-Nationalismus setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: aus Hindu und aus Nationalismus. Im Folgenden soll der Begriff des Nationalismus näher definiert werden.

Nationalismus meint ein Bestreben, ein bestimmtes Gebiet, in dem Menschen leben, zu einen und gegebenenfalls nach außen hin auch zu schützen. Der Nation wird eine große und wichtige Bedeutung beigemessen. In der Denkrichtung des Nationalismus verlieren die Gegensätze innerhalb des Staates ihre Bedeutung; zumindest ihre politische. Ein Zusammenhalt und ein Gemeinschaftsgefühl aller Regionen innerhalb des Staates werden angestrebt. Historisch gesehen ist das Phänomen des Nationalismus relativ jung. Der Begriff der Nation unterlag im Verlauf der Geschichte einem stetigen Bedeutungswandel. Nation und Nationalismus, so wie jene Begriffe heute verwendet werden, haben sich erst allmählich im 19. Jahrhundert entwickelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Napoleon daran ging, Europa zu beherrschen, entstand in vielen Regionen Europas eine defensive politische Haltung und in weiterer Folge auch ein Gemeinschaftsgefühl von Bewohnern und Bewohnerinnen benachbarter Regionen.

Tatsächlich Gemeinsames wurde bewusst(er) wahrgenommen aber auch nur vermeintlich Gemeinsames wurde „entdeckt“.412 Ereignisse aus der Vergangenheit oder/und auch nur der kulturelle und soziale Alltag wurden idealistisch stilisiert und dargestellt. Um das Zusammengehörigkeitsgefühl untereinander zu stärken, werden gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Geschichte, bisweilen ein gemeinsamer Ursprung erfunden.413 Die deutschen Staaten (darunter auch zahlreiche Kleinstaaten) und Fürstentümer begannen, wie alsbald jene Staaten in Italien, sich zunehmend als Einheit, als ein Land, zu verstehen und zu begreifen. Im Falle des späteren Italien gab es auch einen gemeinsamen „Gegner“: Das Habsburgerreich. Die Nationenbildung in Europa sowie die allmähliche Entstehung des Begriffes der Nation wie man in heute verwendet, war demnach ein historischer Prozess.414 Wenn schon der Begriff der Nation wie auch die Nationenbildung in Europa historisch-kulturelle Prozesse gewesen sind, so gilt dies auch für Fernost und für Südasien. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hält fest, dass

412 Der Historiker Eric Hobsbawm prägte dafür den Begriff „invented traditions“.

413 Der Politikwissenschaftler Anderson Benedict spricht deshalb von imaginären Gemeinschaften. Auch der Titel eines seiner Bücher lautet so. Vgl.: Anderson, Benedict: Imagined Communities, London: 1983.

414 Der US-amerikanische Historiker Pieter M. Judson legt in seinem Werk „Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740-1918“ anschaulich dar, wie der Begriff der Nation entstand. Er widerlegt auch die Meinung, dass die unterschiedlichen Nationalitäten sich gegen die Habsburgerdynastie gestellt hätten. Das war erst wesentlich später der Fall und kann auch nicht verallgemeinernd behauptet werden, wie die Unterstützung eines Teils der ungarischen Bevölkerung für Kaiser Karl gezeigt hat.

76 viele der später namhaften Unabhängigkeitskämpfer jener Länder erst in der Schule mit der Idee einer imaginären Gemeinschaft konfrontiert worden sind.415

Auch der indische Nationalismus hat seine Anfänge im 19. Jahrhundert und Gegner war die britische Kolonialherrschaft. Im immer lauter werdenden Kampf um die Unabhängigkeit wurde auch die Vorstellung von einer indischen Nation geboren. Die Menschen begannen, sich zunehmend als eine Nation zu verstehen. Dabei spielte die Erziehung in englischer Sprache eine nicht unwesentliche Rolle, wie Singh schreibt: Die englischsprachige Erziehung beziehungsweise der Erwerb der englischen Sprache erfuhren auf dem Subkontinent eine immer größere Verbreitung und eine der damit verbundenen Folgen war, dass dadurch die unterschiedlichen Völker des Subkontinents zusammenkamen.416 Dadurch bildete sich unter einer zunehmenden Anzahl von Menschen ein Gemeinschaftsgefühl heraus und immer mehr Menschen begannen, sich als Inder und Inderinnen zu verstehen und wahrzunehmen.417 Im 19.

sowie in den ersten Dekaden des 20.Jahrhunderts war die Unabhängigkeit das gemeinsame Ziel.

Heute ist es die Furcht vor „äußeren und inneren Bedrohungen“ und die erfolgreiche Abwehr dieser. Sowohl die christliche als auch die muslimische Minderheit zählen zu jenen sogenannten Bedrohungen.418

Doch war der indische Nationalismus vor, während und kurz nach der britischen Kolonialzeit ein anderer wie jener, den heute die Anhänger und Anhängerinnen des Hindu-Nationalismus verfolgen, wie Six Clemens in seinem Buch Hindu-Nationalismus und Globalisierung betont.

Der Nationalismus sowohl als Ziel als auch als Denkrichtung des Staates sah die Etablierung

Der Nationalismus sowohl als Ziel als auch als Denkrichtung des Staates sah die Etablierung