• Keine Ergebnisse gefunden

Man kann die Epoche der britischen Kolonialmacht in zwei größere zeitliche Blöcke unterteilen, die gewissermaßen eine zeitliche Zäsur bilden. Diese stellt das Jahr 1857, in welchem sich der Sepoy-Aufstand ereignete, dar.275 Ein für Indien folgenschweres Ereignis. Im Zuge dessen dankte auch der letzte Mogul-Herrscher ab. Weitere Folge des Sepoy-Aufstandes war, dass ein Jahr darauf, 1858, die britische Ostindiengesellschaft aufgelöst wurde und Indien Teil des britischen Königshauses wurde. Was war der Auslöser des Aufstandes? Was war die

270 von Grunebaum, Islam, S.281

271 von Grunebaum, Islam, S.281

272 Ludden, Geschichte Indiens, S.63

273 Trojanow / Hoskote, Kampfabsage, S.203

274 Ebd.

275 Das Wort Sepoy kommt aus dem Persischen „sipahi“ und bedeutet Soldat. Ein Sepoy war ein indischer Soldat der britischen Ostindien-Kompanie als auch der britisch-indischen Armee. Einheimische Soldaten machten den Großteil der britischen Heere in Indien aus.

52 Ursache? Wie allgemein üblich, ist der Auslöser von der Ursache (beziehungsweise den Ursachen) zu unterscheiden.

Wie andere Herrscher auch, waren die Briten geübte Meister in der Anwendung des Herrschaftsprinzips „Teile und Herrsche“. Die britische Ostindiengesellschaft – sie hatte ihren Sitz in Kalkutta (Kalkata) und nicht in Delhi (Dilli) – beschäftigte immer mehr Söldnertruppen.

Der Aufstand brach in der bengalischen Armee, in der jedoch nur wenige Bengalen tätig waren, aus. Unter den Soldaten und Söldnern gab es sowohl Hindus als auch Muslime. Der Auslöser des Aufstands, der für die Briten völlig überraschend kam, war, dass die Soldaten die Schutzhülsen der Patronen für die neu eingesetzten Gewehre abbeißen mussten. Das Problem war, dass sich unter den Sepoy das Gerücht verbreitete, dass jenes Fett, aus dem die Schutzhülsen bestanden, aus Schweine-oder Rinderfett hergestellt wurde.276 Dies stellte nicht nur für die Hindus ein religiöses Sakrileg dar, sondern auch für die Muslime. Vermutlich war es Hammelfett, doch man zögerte auf britischer Seite zu lange, um dies aufzuklären.277 Der für die Armee zuständige britische Offizier ließ jene Soldaten, die sich weigerten, jene Patronenhülsen abzubeißen, in Ketten legen. Der Kommandant ließ anschließend die Männer verhaften und wegen Befehlsverweigerung vor ein Kriegsgericht stellen. Nach kurzem Prozess wurden diese zu jeweils zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt.278

Durch ihr Verhalten lieferten die Verantwortlichen somit den Grund für den Auslöser des Aufstandes. Die Ursachen des Aufstandes greifen jedoch wesentlich tiefer und reichen weiter zurück. Manche Sepoys waren unzufrieden, weil sie ihren Dienst in immer fernere Gebiete antreten mussten.279 Wieder andere waren verletzt, weil sie als Sepoys nicht über den Rang eines Unteroffiziers hinauskommen konnten – unabhängig davon, wie lange sie dienten und wie groß ihre Verdienste waren.280 Vielfach mussten die Sepoys unter britischen Offizieren dienen, die jünger waren und weniger Erfahrung hatten als sie und kaum etwas von ihrer Sprache und ihren Sitten verstanden.281 Außerdem bestand der Verdacht, man hätte die Absicht, die Kastenregeln abzuschaffen und die Sepoys zum Christentum zu bekehren.282 Der Aufstand

276 Zinkin, Taya: Aufruhr in Indien, in: Trümper, Frank / Riegel, W.M. (Hgg.): 5000 Jahre Weltgeschichte. Der Weg in das Jahr 2000. Fakten in Text und Bild: Vom Pharaonenstaat bis zur Schwelle einer neuen Zeit, Vehling Graz:

Basel: 1995. S.530

277 Ebd.

278 Mischer, Olaf / Saller, Walter: Kampf um Indien, in: Gaede, Peter-Mathias (Hg.): GEO EPOCHE Indien. 1450-1948 Maharadschas, Moguln, Kolonialherren Nr.41 Hamburg: 2010. S.86

279 Arnold, Südasien, S.353

280 Arnold, Südasien, S.353

281 Ebd.

282 Arnold, Südasien, S.354

53 erhielt große Unterstützung von Bauern und Bäuerinnen und kleinen Ladenbesitzern und Besitzerinnen.283 Viele Menschen litten unter hohen Abgaben und wer nicht zahlen konnte, verlor sein Land.284 Es kam mancherorts zu besonders hohen Grundsteuerforderungen der Briten.285 Durch Hungersnöte litt insbesondere die Landbevölkerung. Überdies hatte die Einfuhr von Textilien aus dem britischen Mutterland dazu geführt, dass viele indische Weber und Weberinnen arbeitslos wurden. Dies sollte dann auch der Grund sein, warum Jahrzehnte später Gandhi britische Kleidung verbrennen ließ.

Man darf sich den Aufstand nicht als eine kleine Rebellion einiger Soldaten vorstellen. Allein schon die Zahl einheimischer Soldaten, die meist schlecht bezahlt in der britischen Armee ihren Dienst taten, war gewaltig. Von den ca.240.000 Soldaten der East India Company kamen nur knapp 15.000 aus dem britischen Mutterland.286 Rothermund liefert in seiner Beschreibung des Sepoy-Aufstandes ein bis in die heutige Zeit vielfach zu stark vernachlässigtes, dafür aber interessantes und ebenso entscheidendes Detail: Durch die erst jüngst eingerichtete Telegraphenlinie zwischen Delhi (Dilli) und Kalkutta (Kolkata) wurde es möglich, dass die Kommunikation der britischen Kolonialverwaltung schneller als bisher funktionieren konnte.287 Dieser technische Vorteil trug wesentlich dazu bei, dass die Briten den Aufstand so schnell niederschlagen konnten.

Wie bereits dargelegt, wendete auch die britische Kolonialmacht das Herrschaftsprinzip „Teile und Herrsche“ an. Mit Hilfe der Bengal Army, in welcher auch der Aufstand ausbrach, konnten die Briten im Jahr 1852 eine Rebellion der Sikhs niederschlagen. Als einige Jahre später der Sepoy-Aufstand ausbrach, „bedienten“ sich die Briten der Sikhs, um wiederum diesen niederzuwerfen.288 1877 nahm die britische Königin den Titel Kaiserin von Indien an.289 Sie tat dies in bewusster Anlehnung an die Tradition der Moguln. Damit sollte der Bevölkerung eine Kontinuität vermittelt werden und die britische Besatzungsmacht sollte weniger als fremde Herrschaft empfunden werden. Was die Sikhs betraf, wurden diese alsbald zu den engsten Verbündeten der Briten. Die Sikhs wurden der Briten „liebstes Kind“, wie Rothermund schreibt.290 Manchen Quellen zufolge gehört heute jeder zehnte Soldat dieser Glaubensrichtung

283 Ebd.

284 Ebd.

285 Nicholson, Louise: Indien, DER NATIONAL GEOGRAPHIC TRAVELER Washington D.C.: 2001. S.47

286 Mischer / Saller, Kampf um Indien, S.86

287 Rothermund, Geschichte Indiens, S.61

288 Ebd.

289 Zentner, Der große Bildatlas der Weltgeschichte, S.209

290 Rothermund, Geschichte Indiens, S.61

54 an und jeder fünfte Offizier ist ein Sikh.291 Seit ihrer Gründung durch Guru Nanak erlangten die Sikhs den Ruf, fleißig und abenteuerfreudig zu sein; auch wurde gelobt, dass sie extrem tapfere und loyale Soldaten seien; ebenso aber den Ruf, kriegerisch zu sein.292

Der Sepoy-Aufstand und seine Folgen sind bis heute im Grunde noch immer nicht bewältigt und verarbeitet – weder auf indischer, noch auf britischer Seite. Sogar bis Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es keine zwei wissenschaftlichen Werke, die wenigstens in den Daten identisch waren.293 Behr scheint dies auch damit begründen zu wollen, dass der Aufstand, der schlussendlich zum Ende der Royal East India Company geführt hatte, für diese eine äußerst peinliche Sache war.294 Die Ostindische Handelsgesellschaft war gewissermaßen ein eigener Staat im britischen Weltreich. Sie war eine Export-Import-Firma mit Gesellschaftern, deren prominenteste und reichste die Queen war, die aber im Grunde wenig von sich reden machte.295 Die Unauffälligkeit und das Understatement gehörten zum Geschäftsprinzip in der Heimat, zu den Aktiva in der Ostindischen Handelsgesellschaft zählten ganze Staaten und zu ihren Passiva Armeen, die sie kontrollieren mussten.296

Warum ist der Sepoy-Aufstand für das Thema vorliegender Arbeit so bedeutend? Man kann konstatieren, dass die britische Kolonialpolitik wohl eher als muslimfeindlich einzustufen ist.

Spätestens nach dem Sepoy-Aufstand betrachtete man die muslimische Bevölkerung als rebellisch und illoyal. 297 Grund für die Einstellung der britischen Kolonialverwaltung gegenüber der muslimischen Bevölkerungsgruppe war auch, weil diese den Briten mehr Widerstand entgegenbrachten als die Hindus.298 Beim Sepoy-Aufstand von 1857-58299 waren zahlreiche Muslime beteiligt, darunter auch Gelehrte und muslimische Herrscher von Fürstenstaaten.300 Außerdem fanden sich die Hindus mit westlichen Institutionen und Ideen

Jene Entwicklung, die in der britischen Kolonialzeit einsetzte, erklärt auch, warum heute so viele Sikhs in der indischen Armee arbeiten.

291 Telgenbüscher, Joachim: Die Sikhs, in: Gaede, Peter-Mathias (Hg.): GEO EPOCHE Indien. 1450-1948 Maharadschas, Moguln, Kolonialherren Nr.41 Hamburg: 2010. S.141

292 Singh, Sewa Kalsi: Sikhism. London: 2007. S.12

293 Behr, Die Moguln, S.280

294 Ebd.

295 Ebd.

296 Ebd.

297 Tworuschka / Tworuschka, Religionen Der Welt, S.203

298 von Grunebaum, Islam, S.280

299 Einzelne Scharmützel gab es noch 1859.

300 Reetz, Dietrich: Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels. Die Religionsgelehrten des Islam im kolonialen Indien, in: Heidrich, Petra (Hg.): Akteure des Wandels: Lebensläufe und Gruppenbilder an Schnittstellen von Kulturen, Verlag: „Das Arabische Buch Berlin“ Berlin: 2001. S.72

Wobei anfangs Muslime und Hindus gleichsam beteiligt gewesen waren. Arnold schreibt, dass Brahmanen und Rajputen in der Bengal Army sogar dominierten. Vgl.: Arnold, Südasien, S.353

55 leichter ab als die muslimische Bevölkerung, wie von Grunebaum behauptet.301 Der Islam mit dem islamischen Recht mag meiner Meinung nach einen Grund dafür geliefert haben. Von Grunebaum begründet die „offenere“ Haltung der Hindus auch damit, weil jene bereits während der muslimischen Herrschaft ihre kulturelle Isolation aufgeben haben müssen und auch eine fremde Sprache und Kultur in ihrem Umkreis aufgenommen hätten.302 Der Wissenschaftler nennt die offenere Haltung der Hindus denn auch im Zusammenhang mit der Einführung der englischen Sprache als Schul-, und Behördensprache im Jahr 1835, die das Persische, die ja die offizielle Sprache am Mogulhof war, verdrängt hat.303 Der einzige „Ort“, wo nach der Niederschlagung des Aufstandes Muslime eine Rolle spielten, war die Armee. Nach dem Sepoy-Aufstand wandte man sich zunehmend von Brahmanen und Rajputen ab und konzentrierte sich stattdessen auf Sikhs, Muslime und Gurkhas.304

Um sich die Loyalität der muslimischen Eliten zu sichern, beziehungsweise teilweise überhaupt erst zu bekommen, strebte von nun an die Kolonialpolitik eine Politik der Integration an.305 Durch moderne Bildung sowie durch die quotierte Beteiligung am öffentlichen Leben, besonders an den Vertretungskörperschaften, in denen seit dem Verfassungsgesetz von 1892 stufenweise das Wahlprinzip eingeführt wurde, wollte man die muslimische Bevölkerung in die neuen bürgerlichen Verhältnisse integrieren, so Reetz.306

Folgenschwer für die zukünftige Entfremdung zwischen Teilen der muslimischen und Teilen der hinduistischen Bevölkerung war die kommunale Verwaltung, welche die britische Kolonialpolitik in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. Doch bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nach der Niederschlagung des Aufstands von 1857 eine Politik eingeführt, die den Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen vertiefte beziehungsweise erst schuf. Verheerend war beispielsweise die Schaffung von getrennten Wahlbezirken.307 Durch diese wurde die Unterscheidung und „Kennzeichnung“ zwischen den Religionen in der lokalen Bevölkerung zunehmend üblich. Die Daten, wie viele Muslime und Musliminnen und Hindus im Land lebten, sollten alsbald die Basis und Legitimation für die

301 von Grunebaum, Islam, S.280

302 Ebd.

303 Ebd.

304 Arnold, Südasien, S.359

Gurkhas waren nepalesische Söldner im Dienste der britischen Armee. Sie waren für ihre Tapferkeit und für ihren Mut bekannt.

305 Reetz, Dietrich: Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels. Die Religionsgelehrten des Islam im kolonialen Indien, in: Heidrich, Petra (Hg.): Akteure des Wandels: Lebensläufe und Gruppenbilder an Schnittstellen von Kulturen, Verlag: „Das Arabische Buch Berlin“ Berlin: 2001. S.72

306 Ebd.

307 Trojanow / Hoskote, Kampfabsage, S.210

56 Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen liefern, die aufgrund des Zensus meinten, dass die Zahl der Hindus zurückginge.

Doch bereits im 18. Jahrhundert legte die britische Kolonialherrschaft – damals noch die Ostindische Handelsgesellschaft – den Grundstein der zukünftigen Feindseligkeiten zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. Der für Bengalen zuständige Generalgouverneur Lord Cornwallis und Sir John Shore führten den sogenannten Permanent Settlement ein. Der Permanent Settlement war ein Steuersystem, durch das der muslimische Bauer und die muslimische Bäuerin auf den Status eines von den Steuereinnehmern ausgebeuteten Landarbeiters beziehungsweise Landarbeiterin herabgedrückt wurde.308 Die Steuereinnehmer waren indes Hindus.309 Dadurch entstand allmählich ein neuer Hindu-Mittelstand.310

Die Einführung des Zensus im Jahre 1872 war der nächste Schritt, der den Gegensatz zwischen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung vertiefte. Denn mit dem Zensus führten die Briten die Kategorie „Religion“ ein.311 Dadurch wurde erstmals sowohl die numerische Stärke als auch die geographische Ausbreitung der religiösen Gemeinschaften festgehalten.312 Die Folge war ein vielerorts verstärktes Zugehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Glaubensgemeinschaft.313 Immer mehr wurde auf dem Subkontinent Religion zu einem wichtigen machtpolitischen Faktor.314 Die Entwicklung gipfelte dann in den 30er Jahren des 20.

Jahrhunderts, als die Bevölkerung autonome Regionalparlamente wählen durfte.315 Denn die britische Kolonialverwaltung hatte die Sitze in den Regionalparlamenten nach der Stärke der einzelnen Religionsgemeinschaften in den Wahlkreisen aufgeteilt.316

Die britische Kolonialpolitik gegenüber der muslimischen Bevölkerung wurde bereits kurz dargestellt. Doch wie verhielten sich Indiens Muslime und Musliminnen gegenüber der britischen Kolonialmacht ab 1857, dem Jahr, in welchem der missglückte Sepoy-Aufstand losbrach? Wie Annemarie Schimmel konstatiert, gab es alle erdenklichen Haltungen, von

308 von Grunebaum, Islam, S.280

309 Ebd.

310 Ebd.

In weiterer Folge könnten meiner Meinung nach die Folgen des Permanent Settlement auch wesentlicher Grund für die Befürwortung der Unabhängigkeitsbewegung von Indien in weiten Teilen Bengalens gewesen sein.

311 Müller, Indien, S.105

312 Ebd.

313 Ebd.

314 Ebd.

315 Müller, Indien, S.106

316 Ebd.

57 stärkstem Widerstand gegen alles Nichtislamische bis zur loyalen Zusammenarbeit mit den Briten.317

Eine kurze Darstellung der geopolitischen Lage der indischen Muslime und Musliminnen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre ohne Sayyid Ahmad Khan unvollständig.

Khan wurde 1817 in Delhi (Dilli) geboren und war ein Spross der Aristokratie der Hauptstadt.318 Während des Sepoy-Aufstandes stand Khan auf der Seite der Briten. Er war britischer Beamter und schützte die europäische Kolonie Bijnaur vor den aufständischen Soldaten. In seinen Werken – Khan war auch Gelehrter und Schriftsteller – hat er versucht, die Gestalt des Propheten Mohammad von allzu mythischen Beiwerk zu befreien und ihn wieder als „schönes Modell“ (Sure 33/21) für die Muslime darzustellen. (Annemarie Schimmel)319 Khan war Vertreter einer sogenannten rationalistischen Koran-Interpretation.320 Damit meinte er auch, dass islamische Bildung keinen Widerspruch zur Aneignung von westlichem Wissen darstelle.321 Khan und seine Werke sind im Zusammenhang mit der Identitätskrise der indischen Muslime und Musliminnen zu sehen. Auch auf dem Subkontinent schwand der Einfluss muslimischer Politik, Wirtschaft und Kultur zusehends.322 Bereits zu Beginn des 19.

Jahrhunderts hatten islamische Theologen, die der Schule von Delhi angehörten, ihren muslimischen Landsleuten geraten, in ein anderes islamisches Land auszuwandern.323 Der islamische Geehrte Shah Abdul Aziz (1724-1824) wiederum bezeichnete Indien aufgrund der Einschränkungen islamischer Rechtsprechung als „Land des Krieges“. 324 Im Zuge der Ausdehnung und Konsolidierung der britischen Präsenz auf dem Subkontinent verloren die islamischen Gelehrten ja immer mehr an Einfluss und Beschäftigungsmöglichkeiten.325 Hatten die Religionsgelehrten während der Mogul-Zeit eine wichtige Rolle sowohl in der Rechtsprechung als auch in Beratungs- und Verwaltungsfunktionen inne, so änderte sich dies spätestens mit der Errichtung der britischen Kontrolle über Delhi (Dilli) im Jahr 1803.326

317 Schimmel, Der Islam im indischen Subkontinent, S.105

318 Delhi war lange Zeit Sitz der Mogulkaiser. Zu den berühmten Bauwerken gehört etwa das Rote Fort.

319 Schimmel, Der Islam im indischen Subkontinent, S.105

320 Reetz, Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels, S.72

321 Reetz, Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels, S.72f.

322 Es sei hierbei auf das sogenannte andalusische Syndrom verwiesen, welches ich zuvor in einem Exkurs behandelt habe.

323 Schimmel, Der Islam im indischen Subkontinent, S.106

324 Reetz, Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels, S.72

325 Ebd.

326 Ebd.

58 Khan indes sah in der Zusammenarbeit mit den Briten die einzige Möglichkeit für eine Besserung der Lage der indischen Muslime und Musliminnen.327 Überhaupt war er der Meinung, dass die muslimische Bevölkerung nur unter dem Schutz der Briten als Minderheit gegenüber den zunehmenden politischen Bewegungen der hinduistischen Mehrheit ihre Interessen wahren könnte.328 Als 1885 der Indische Nationalkongress gegründet wurde, riet er den Muslimen ab, in ihm mitzuwirken, da er befürchtete, dass das angestrebte Mehrheitswahlrecht die Unterlegenheit der muslimischen Bevölkerung fixieren würde.329 Khan, der später vom britischen Königshof mit dem Titel eines Sirs ausgezeichnet wurde, meinte, dass die Muslime und Musliminnen sich dem „Fortschritt“, den die Briten brachten, nicht verschließen sollten. Auch eine Zusammenarbeit war ohne weiteres denkbar.

Khan, der sich um eine Entmystifizierung des Koran und des Islam bemühte, schrieb sogar einen, allerdings unvollendet gebliebenen, Kommentar zur Bibel. Das ist insbesondere erwähnenswert, weil dies der erste Versuch von muslimischer Seite war.330 Das Pendant zu Khan waren islamische Gelehrte, für die sein Weg zu rational war. Die Frage, welchen Weg Indiens Muslime und Musliminnen gehen sollten, zeigt sich der Nachwelt heute in den Werken islamischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Jahrzehnte von 1880 an, waren von einem zunehmenden Unabhängigkeitsstreben geprägt.331 Wesentlichen Auftrieb erfuhr die indische Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, indem auch zahlreiche Inder und Inderinnen auf Seite der Alliierten gekämpft haben.332 Wenn man aber für das britische Empire kämpft, dann solle man doch auch in den Genuss gleicher Bürgerrechte kommen. Diese

327 Schimmel, Der Islam im indischen Subkontinent, S.106

328 Reetz, Das „islamische Projekt“ als Instrument des Wandels, S.73

329 Ebd.

330 Ebd.

331 In vielen ehemaligen Kolonialländern wurden Menschen, die bereits zur ersten Stunde Unabhängigkeitskämpfer und Unabhängigkeitskämpferinnen gewesen sind, in Europa ausgebildet. Ho Tschi-Minh beispielsweise verbrachte einen Teil seiner Jugend in Frankreich oder Sun Yat-sen in den USA und später auch in Japan. Mohandas Karamchand Gandhi lebte eine Zeit lang als Rechtsanwalt in Südafrika. Die heutige Bedeutung des Wortes Nationalismus entstand erst allmählich im 19.Jahrhundert. Aufgrund des Kontakts mit Europa beziehungsweise durch Kontakt abendländischer Kultur und Ideen wurden vorindustrielle Gesellschaften mit dem Gedankengut eines Nationalismus konfrontiert. Im Falle Chinas etwa ist das Gedankengut des Nationalismus nicht unwesentlich über Japan nach China gekommen.

332 Es entspricht der Tatsache, dass im 1.Weltkrieg Frauen auf allen Seiten mitgewirkt haben. Frauen waren nicht nur im Kranken-, und Pflegepersonal vertreten, sondern sie beteiligten sich auch aktiv am Kampfgeschehen. Die Historikerin Michaela Scharf hat die Rolle von Frauen im 1.Weltkrieg untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass, obwohl in der Regel die Teilnahme von Frauen am Kampfgeschehen vom Militär weder vorgesehen noch erwünscht war, Frauen eine für das damalige gesellschaftliche Rollendenken relativ große Rolle in den Kämpfen spielten. Scharf, Michaela: Die Frau im Schützengraben, in: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/die-frau-im-schuetzengraben (aufgerufen am 30.12.2020)

59 Ansicht wurde von vielen Indern und Inderinnen immer stärker vertreten. Großbritannien aber tat sich schwer mit der Rückgabe politischer Macht. Winston Churchill war ebenso Anhänger des kolonialen Weltverständnisses. Der Allgemeinheit weit weniger bekannt ist, dass er Gandhi als „halbnackten Fakir“ bezeichnete.333 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte Indien seine Unabhängigkeit.334 Großbritannien ging zwar als Siegermacht hervor, doch war das Land wirtschaftlich so angeschlagen, dass es zu viel Kraftanstrengung gebraucht hätte, um die Kolonien zu halten. Großbritannien war auch dasjenige Land, welches am meisten von der Hilfe des Marschall-Plans bekam. Darüber hinaus wurde Gandhi zunehmend auch international zu einer Ikone des gewaltfreien Widerstandes, auch in Großbritannien selbst.

Das jüngst in die Unabhängigkeit entlassene Indien hatte viele Institutionen der ehemaligen Kolonialmacht übernommen. Ministerielle Strukturen, die Aufteilung der Macht zwischen Unions- und Provinzautoritäten sowie der Behörden- und Sicherheitsapparat wurden vollständig übernommen und mit republikanischen Insignien ausgestattet.335 Die Ideologie der Regierung war ein gemäßigter, aber auch ein bürokratischer Sozialismus.336 Nehru selbst hatte nie geglaubt, dass die Religion, vornehmlich zwischen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung, eine so starke Rolle in Politik und Gesellschaft spielen würde. Nehru hielt stets an seiner Überzeugung fest, dass Indien trotz all der Vielfalt an Sprachen, Religionen und Kulturen es vermochte, seinen Zusammenhalt zu bewahren.337

Die in jener Zeit in Asien geopolitische Situation der Entkolonialisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet den sozio-politischen Hintergrund, wenn man sich mit dem

Die in jener Zeit in Asien geopolitische Situation der Entkolonialisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet den sozio-politischen Hintergrund, wenn man sich mit dem