• Keine Ergebnisse gefunden

Der Islam im indischen Subkontinent – eine kulturgeschichtliche Einführung

Geschichtsdarstellung und Geschichtswahrnehmung beeinflussen von jeher Denken und Handeln vieler Menschen. Aus Geschichte kann und soll man lernen. Geschichtswissenschaft ist der Versuch, möglichst genau etwas über die Vergangenheit in Erfahrung zu bringen.

Multiperspektivität, systematische Überprüfbarkeit ihrer Thesen, Offenheit und Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Diskurses sowie Dekonstruktion sind Merkmale der Geschichtswissenschaft. Geschichte generell bietet die Chance, aus ihr zu lernen und verpasste Chancen der Vergangenheit wahrzunehmen und das daraus gewonnene Wissen in der Zukunft anzuwenden. Doch ist dies leider selten der Fall. Bekannt ist das Zitat von Ingeborg Bachmann:

„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“62 Im Hinterkopf sollte man sich auch die Tatsache vor Augen halten, dass immer der Sieger die Geschichte schreibt.

Für das Thema dieser Arbeit – Gründe des Hindu-Muslim Konflikts – ist die Wahrnehmung von Vergangenheit ganz wesentlich. Denn die Geschichte des Islam in diesem Teil der Erde ist für die Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen sowohl ein Grund für ihre ablehnende Haltung gegenüber den Muslimen und Musliminnen als auch ein Beweis dafür, dass der Islam für Indien eine Bedrohung darstellt. Die muslimische Bevölkerung des Landes wird teilweise als Verräter, teilweise als ausländische Invasoren beziehungsweise als deren Nachkommen gesehen.63 Als „Verräter“ werden sie deshalb bezeichnet, weil jene Muslime und Musliminnen ursprünglich Hindus waren und sich von ihrem ursprünglichen Glauben abgewandt haben. Es ist aber Pflicht eines jeden Hindu, sein Dharma zu befolgen.64

Was die Geschichte des Subkontinents ab dem 8.Jahrhundert nach Christus – also dem Eintreffen des Islams in dieser Weltregion – betrifft, so haben Hindus und Muslime jeweils

62 Zitate von Ingeborg Bachmann, in: https://1000-zitate.de/autor/Ingeborg+Bachmann/ (aufgerufen am 07.03.2021)

63 Eriksen, Thomas Hylland: Ethnicity and Nationalism, Pluto London: 2002. S.157

64 Mit Dharma meint man die religiösen und ethischen Pflichten, die ein Mensch seit seiner Geburt hat. Nicht umsonst hört man auch vielfach den Satz: „Das ganze Leben ist Religion.“

25 unterschiedliche Versionen der Vergangenheit.65 Um zu verstehen, warum es zwischen Teilen der muslimischen und Teilen der hinduistischen Bevölkerung zu antagonistischen Gefühlen kommt, die mitunter in Hass münden, ist es notwendig, sich der psychischen Repräsentanz kollektiver Vergangenheit, die es sowohl in der muslimischen als auch in der hinduistischen Bevölkerung gibt, bewusst zu sein.66 Aus diesem Grund ist das Kapitel „Geschichte und Geschichtswahrnehmung“ so wichtig.

Viele Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen meinen, dass im Vergleich zur muslimischen Herrschaft die britische Kolonialzeit eine unbedeutende Episode gewesen sei.67 Die eigentliche „Fremdherrschaft“ begann im Jahr 1000 mit dem Eindringen der Turkvölker und hat sich tausend Jahre lang über verschiedene Sultane fortgesetzt.68 Nach der Weltsicht des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) waren Muslime und Musliminnen Eindringlinge und Hindus unschuldige Opfer. 69 Nationalistische Geschichtsschreiber und Geschichtsschreiberinnen meinen, dass die Geschichte Südasiens mangelhaft sei und ihre eigentliche Bedeutung verfehlt habe.70 Grund dafür seien die islamischen Eroberungen und die islamische Herrschaft. Eine ähnliche Sicht auf die Geschichte wurde aber auch teilweise von westlichen Historikern und Historikerinnen geteilt. So etwa schrieb Hardy Friedhelm in seinem 1994 erschienenen Werk „The Religious Culture of India: Power, Love and Wisdom“: „After five hundred years of Muslim rule and its demoralizing effects on the Hindu mind,….“71 Einen de facto unüberwindbaren Gegensatz zwischen der Religion des Islam und den Hindu-Religionen sah auch der französische Ethnologe und Anthropologe Louis Dumont.72 Die gegensätzlichen religiösen Werte, Normen aber auch Symbole sowie die damit vermeintlichen unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Gläubigen des Islam oder der hinduistischen Glaubensrichtungen wurden beziehungsweise werden in dieser Sichtweise als statisch und

65 Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar hat denn auch die Überschrift des ersten Kapitels in seinem Buch

„Die Gewalt der Frommen“ „Hintergründe. Hindus und Muslime: Versionen der Vergangenheit“ genannt. Kakar, Sudhir: Die Gewalt der Frommen: Zur Psychologie ethnischer und religiöser Konflikte, Beck München: 1997.

66 Kakar, Sudhir: Die Gewalt der Frommen: Zur Psychologie ethnischer und religiöser Konflikte, Beck München:

1997. S.11f.

67 Hoskote, Ranjit / Trojanow, Ilija: Brüder im Geiste. Hindutva und Islamismus, in: Hoskote, Ranjit / Trojanow, Ilija (Hgg.): Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen, Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main: 2017.

68 Ebd.

69 Ebd.

70 Arnold, David: Südasien. Band 11 Neue Fischer Weltgeschichte Frankfurt am Main: Deutsche Ausgabe 2012.

S.17

71 Hardy, Friedhelm: The Religious Culture of India: Power, Love and Wisdom, Cambridge University Press Cambridge: 1994. S.332

72 Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.): Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens? Ein Symposium, Kindt München: 1995. S.80

26 ahistorisch angesehen.73 Judith Renner hat in ihrer Diplomarbeit „Kaschmir zwischen Indien und Pakistan. Eine Analyse der Ursachen für den Krieg ab 1990“ auch die archäologischen und historischen Forschungsarbeiten westlicher Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts in der Kaschmir-Region thematisiert. Dies ist in diesem Zusammenhang deshalb interessant, weil jene westlichen Indologen durch ihre linguistischen Untersuchungen (man war insbesondere an vorislamischen Überlieferungen in Sanskrit interessiert) und ihr archäologisches Interesse an vorislamischer Architektur dazu beitrugen, dass man Kaschmir als ein uraltes Land sah, in welchem die Hindu-Eliten tief in Geschichte und Topographie des Kaschmirtals verwurzelt seien.74 Jene westlichen Indologen wie beispielsweise die Altösterreicher Georg Bühler und Aurel Stein sowie andere Forscher wurden vom Maharaja von Kaschmir auch finanziell unterstützt.75 Die muslimische Bevölkerung wurde in dieser Vorstellung als „neuzeitliche Eindringlinge“ abgekanzelt.76 In diesem Zusammenhang interessant ist auch Leben und Wirken des englischen Kolonialbeamten Sir Walter Roper Lawrence: Er prägte maßgeblich das Bild einer harmonischen Gesellschaft in Kaschmir, in der religiöse Unterschiede vor dem Hintergrund einer eindrucksvollen Landschaft an Bedeutung verlieren und die Menschen gemeinsame Rituale ausüben und auch in Glaubensvorstellungen teilweise zueinander fanden.77 Lawrence sinngemäß weiter: Die muslimische Bevölkerung dort ist in „ihrem Herzen hinduistisch geblieben“ und sei deshalb weniger fanatisch als andere Muslime auf der Welt.78 Westliche Bilder aus der Kolonialzeit wirkten lange nach.

Die Vorstellung, wonach die Geschichte des Subkontinents sich in eine „Hindu-Zeit“, in eine

„muslimische Zeit“ und in eine „britische Zeit“ einteilen ließe, gilt heute als weitgehend unzutreffend und anachronistisch, so Arnold.79 Dies allein schon deshalb, weil auch in der sogenannten islamischen Phase die nichtislamischen Kulturen keineswegs stagnierten, sondern neue Formen entwickelten.80 Auch sollte man die damalige Zeit, die zweifelslos eine Zeit der Eroberungen war, nicht durch die Brille des 20. oder 21. Jahrhunderts betrachten. In Zentralasien, im Nahen Osten und auch auf dem Subkontinent ging man Bündnisse ein und

73 Ebd.

74 Renner, Judith: Kaschmir zwischen Indien und Pakistan. Eine Analyse der Ursachen für den Krieg ab 1990, Hochschulschrift Wien: 2011. S.37

75 Ebd.

76 Ebd.

Renner zitiert in jenem Zitat Kabir Ananya Jahanara´s Werk „Territory of desire. Representing the Valley of Kashmir“, erschienen 2009.

77 Rai, Hindu Rulers, Muslim Subjects, S.41

78 Ebd.

79 Arnold, Südasien, S.205.

80 Arnold, Südasien, S.206.

27 kämpfte gegen ein anderes Fürstentum – und Bündnispartner konnten wechseln. Muslime kämpften gegen Muslime, Hindus gegen Hindus, Hindus waren im Kriegsdienst von Muslimen und kämpften mit diesen gegen andere hinduistische Fürstentümer. So verrichteten in Akbars´

Armee sowohl Hindus als auch Muslime ihren Kriegsdienst.81 Sie kämpften beispielsweise gemeinsam gegen Maharana Pratap Singh, dem Herrscher des Fürstenstaates Mewar.82 Raja Maan Singh, ein Hindu, hatte einen bedeutenden Posten in Akbars´ Armee inne.83 Mehrere muslimische Generäle standen unter seinem Kommando.84 Shivaji, jener in Maharashtra auch heute noch so berühmte Feldherr – von ihm wird noch die Rede sein – hatte wie jeder Herrscher

„Bodyguards“. Als er einmal zu seinem Widersacher Afzal Khan ging, wollte Shivaji anfangs sogar ohne Waffen gehen.85 Davon hatte ihm einer seiner Leibwächter, ein Muslim, dann aber abgeraten.86 Und: Zwölf von achtzehn seiner Leibwächter, die mit Shivaji gingen, waren Muslime.87 Diese Details machen deutlich, dass es in den Konflikten und Kriegen nicht um Religion ging.

Im Hindu-Nationalismus wird die religiöse Bedeutung der Kuh und der damit verbundene (Nicht-)Verzehr von Rindfleisch sehr gern als Abgrenzung zu den Muslimen und Musliminnen betont. Die muslimischen Eroberer und der mit ihr gekommene Hofstaat praktizierten die Schlachtung von Kühen und kamen dadurch mit den Hindus in Konflikt.88 Dies hatte unter anderem zur Folge, dass in der lokalen Bevölkerung mehr und mehr ein Hindu-Bewusstsein entstand.89 Doch kann das freilich nicht als Hindu-Nationalismus bezeichnet werden, wie Yvon Ambroise betont.90

Dem Autor des 1928 erschienenen Buches „The Indian Muslims“ ist in der Tat zuzustimmen, dass die territorialen Machtverhältnisse auf dem Subkontinent etwaigen (muslimischen) Eroberungen nichts entgegenzusetzen hatten, ja geradezu „einluden“, erobert zu werden - dies

81 India and Muslim Unity I Ram Puniyani I TEDxNMIMSShirpur, in: https://youtube.com/watch?v=_nj7x5N5pA8 Zeitspanne: 2.30-3.50 (aufgerufen am 17.08.2021)

82 Ebd.

83 Ebd.

84 Ebd.

85 India and Muslim Unity, Zeitspanne: 5.13-6.28

86 Ebd.

87 Ebd.

88 Ambroise, Yvon: Hindutva´s Real Agenda and Strategies, in: Mattam, Joseph (Hg.): Hindutva: An Indian Christian Response, Dharmaram Publications Bangalore: 2002. S.13

89 Ebd.

90 Ebd.

28 deshalb, weil es damals ja kein vereintes Indien gab.91 Sogar zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich unterstanden nur 40 Prozent des indischen Staatsgebiets und fast 90 der 350 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen nicht der Zentralregierung, sondern den Fürsten des Landes.92 Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verloren die „letzten“

unabhängigen Fürsten ihre Privilegien.93

Folgendes kann somit festgehalten werden: Die Prämisse „die Hindus waren Opfer und Beherrschte während die Muslime die Täter und Herrscher waren“ vertraten und vertreten nicht nur indische Historiker und Historikerinnen, die dem Hindu-Nationalismus angehören oder ihm zugeneigt sind94, sondern findet sich auch teilweise in älteren westlichen Arbeiten zu Indien und war Ansicht vieler westlicher Indologen und Indologinnen.

Hauptaugenmerk dieses Kapitels ist es nicht, einfach eine historische Darstellung über die Geschichte des Islam auf dem Subkontinent zu geben. Vielmehr soll gefragt werden, ob denn für den Hindu-Nationalismus die Geschichte als „Beweis“ gelten kann, dass der Islam für die Hindus eine Bedrohung darstellte beziehungsweise noch heute darstellen würde. Dabei gilt es insbesondere die Beziehungen zwischen Islam und den Hindu-Religionen zu untersuchen.

Diese Arbeit versucht nicht, die negativen und brutalen Seiten der islamischen Zeit auf dem indischen Subkontinent zu leugnen. Denn das würde nicht der Wahrheit entsprechen und würde wiederum in eine selektive Geschichtsdarstellung münden. Selbst der indisch-deutsche Philosoph Ram Adhar Mall antwortet auf dem Vorwurf des Hindu-Nationalismus, dass die Hindus und ihre Religion durch die Jahrhunderte hindurch von den fremden Mächten, Kulturen und Religionen gedemütigt worden seien, dass dies nicht ganz unzutreffend sein mag.95 Das Kapitel über die Geschichte und die Geschichtswahrnehmung will also nicht die negativen Seiten ausblenden. Vielmehr soll versucht werden, sich von einer selektiven, einseitigen Geschichtsdarstellung zu lösen und die Gründe aufzuzeigen, warum es ab Ende des 19.

Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert zu einer emotionalen Abgrenzung zwischen

91 An Indian Mahomedan: The Indian Muslims, APH Publishing Corp. New Delhi: 1928. First Indian Reprint 1999.

S.2 Vgl.: The India oft he Hindus was a land susceptible of conquest………The talk of a united India, apart from those two supremacies, is but a figment of the imagination.“

Der Autor wollte ungenannt bleiben. Das Buch gibt auch einen guten Einblick auf die sich zuspitzenden Konflikte zwischen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung. Es ist allein schon deswegen ein historisches Dokument.

92 Nicholson, Louise: Indien. Der National Geographic Traveler, Washington: 2001. S.50 Deutsche Übersetzung Hamburg: 2002. S.50

93 Heeb, Christian / Weiss Walter M.: Reise durch Rajasthan, Würzburg: 2014. S.15

94 Es gilt, sich dabei in Erinnerung zu rufen, dass es auch in diesem Kontext – wie überall – Abstufungen gibt.

95 Mall, Der Hinduismus, S.150

29 Hindus und Muslimen und Musliminnen gekommen ist. Schon jetzt aber kann festgehalten werden, dass die Geschichte einen vermeintlichen Beweis für den Hindu-Nationalismus liefert.

Stimmt das Argument der Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen? Oder ist es auf dem Subkontinent sogar zu einer Vereinigung von islamischem Kulturkreis mit den lokalen Kulturtraditionen gekommen? Ein Blick auf die Gegenwart mag zunächst hilfreicher sein, als jegliche historische Analyse. Insbesondere im ländlichen Indien ist die von Hindus und Muslimen geteilte Mischkultur weiterhin lebendig. 96 Die mancherorts97 in großem Ausmaß ausbrechende Gewalt zwischen der muslimischen und hinduistischen Bevölkerung lässt sich dabei hauptsächlich auf den Kolonialismus zurückführen, so Kakar.98

Auch die Geschichte, die von den Hindu-Nationalisten und Hindu-Nationalistinnen immer wieder als Beleg für die vermeintliche Bedrohung des Islams angeführt wird, war wesentlich vielseitiger als es eine ideologische Geschichtskonstruktion glauben machen will. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es oftmals zu kulturellen Wechselbeziehungen gekommen.99 Beispiele hierfür gibt es viele und auf folgenden Seiten wird darüber ausführlicher geschrieben werden. Bereits an dieser Stelle soll die gegenüber anderen Religionen tolerante Religionspolitik von Kaiser Akbar erwähnt werden. Es gab aber auch andere (potentielle) Thronfolger, die ja alle Muslime waren, die den angestammten Religionen zugeneigt waren oder/und einer exklusiven, sogenannten „orthodoxen“ Richtung des Islam kritisch bis ablehnend gegenüber standen. Sogar die Baugeschichte der Tempel in und um Ayodhya ist eine gänzlich andere als wie heute vielfach dargestellt wird. Denn die meisten der hinduistischen Tempel in dieser Gegend wurden unter der Patronage der muslimischen Herrscher, der Nawabs von Awadh, errichtet.100 Wenn auch aus rationalem Kalkül101 und nicht aus Überzeugung beziehungsweise Toleranz wie dies manche muslimische Angehörige am Mogulhof taten.

Ein Beispiel gegenseitiger Beeinflussung ist auch der Sikhismus. Der Sikhismus entstand im 15.Jahrhundert wesentlich durch die Auseinandersetzung mit dem Islam. Kabir und Nanak – letzterer gilt als erster Guru des Sikhismus – suchten eine gemeinsame Basis des Glaubens für

96 Kakar, Sudhir / Kakar, Katharina: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft, Deutscher Taschenbuch Verlag München:

3.Auflage 2013. S.150

97 Vor allem kommt es immer wieder in urbanen Zentren zu Gewalt. Von den großen Städten wiederum sind es Delhi, Mumbai und Ahmedabad, in denen es relativ häufig zu Ausschreitungen gekommen ist.

98 Ebd.

99 Embree, Ainslie: Indien: Geschichte des Subkontinents von der Induskultur bis zum Beginn der englischen Herrschaft, Band 17 Fischer Weltgeschichte Frankfurt am Main: 1967. S.218

100 Jürgenmeyer, Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften, S.86

101 Ebd.

30 beide Religionen.102 Nanak, der aus einer Familie kam, wollte zwischen den Hindu-Religionen und dem Islam vermitteln.103 Bis heute gilt er deshalb als Symbol der Versöhnung zwischen den beiden Religionen.104 Im Sikhismus finden sich sowohl hinduistische wie islamische Elemente.105 So wird Gott in den Schriften der Sikhs manchmal mit hinduistischen und manchmal mit islamischen Namen wie Rama, Hari oder Rahim genannt.106

Bei der Erörterung der Frage, ob und inwieweit sich Islam und lokale Religionen gegenseitig beeinflusst haben, dürfen die Orden nicht vergessen werden. Die Verehrung der Sufi-Heiligen gehörte zu den wichtigsten Wegen, auf denen der Islam in die nichtmuslimische Gesellschaft eindrang, so der britische Historiker David Arnold. 107 Auch heute beten mancherorts Gläubige beider Religionen gemeinsam zu Sufi-Heiligen. So auch im nordindischen Dorf Jagdishpur Sokha: Dort wird Ghazi Baba verehrt.108 Berühmt war auch der Schrein Wali Gujaratis in Ahmedabad, der Hauptstadt der nordwestindischen Provinz Gujarat.

War – denn im Zuge des Pogroms im Jahr 2002 wurde er in nur einer einzigen Nacht zerstört.109 Der Heilige zählt zu den frühesten Urdu-Poeten und war ein Pionier für die Volkssprachen Dakhani und Gujarati: Er war eine Inspiration für viele Dichter aller Glaubensrichtungen und Religionen.110 Starken Einfluss auf die Kultur des Subkontinents hatte der Chishtiyya-Orden.

Mu´inuddin Chishti, der aus dem Osten des heutigen Iran stammte, war der Gründer jenes Ordens. Für ihn und seine Nachfolger waren bei den Zusammenkünften zur Anbetung Gottes und/oder zur Verehrung diverser Heiliger auch Nichtmuslime und Nichtmusliminnen willkommen.111 Auf welche Weise haben sich Sufismus und Hinduismus gegenseitig beeinflusst? Mystik und Praxis des Sufismus fanden in Geist und Ausübung der Bhakti-Verehrung112 ein Pendant zu den Idealen und Ideen, die man im Sufismus lebte.113 Wie stark

102 Klimkeit, Der politische Hinduismus, S.169

103 Stukenberg, Marla: Die Sikhs: Religion, Geschichte, Politik Beck München: 1995. S.21

104 Ebd.

111 Schimmel, Der Islam auf dem indischen Subkontinent, S.12

112 Bhakti ist die hingebungsvolle, tieffromme Liebe zu Gott und wird im Hinduismus als ein Erlösungsweg angesehen und akzeptiert.

113 Ludden, David: Geschichte Indiens, Magnus Verlag Essen: 2006.S.80

Auch Prem Kumar Vijayan schreibt, dass die Bhakti-Traditionen tief vom Sufismus beeinflusst wurden. „…the Bhakti traditions oft he period in particular were deeply influenced by these Islamic practices,….“ Prem Kumar, Vijayan: Gender And Hindu Nationalism. Understanding Masculine Hegemony, Routledge Studies in South Asian Politics London: New York: 2020. S.81

31 sich bisweilen der Sufismus mit hinduistischen Bhakti-Gruppen vermischt hatte, zeigt, dass bereits vor Ankunft des ersten Mogulkaisers Babur es auf dem Subkontinent kleinere Gruppen gab, die in ihrer Verehrung Gottes eine Symbiose von hinduistischen und islamischen Ausübungen und Idealen praktizierten.114 Nicht unbedingt zur Freude aller islamischen Gelehrten hatten sich insbesondere in der Volksfrömmigkeit hinduistische und Sufi-Ideen und Ideale oft fast untrennbar miteinander vermischt. 115 Selbst nicht wenige Mogulkaiser beziehungsweise Prinzen waren nicht nur dem Sufismus, sondern auch manchen mystischen Praktiken der Hindu-Religionen zugetan.116 Nicht nur der in Fragen der Religion so tolerante Kaiser Akbar traf sich gern mit Hindu-Asketen.117 Akbar zeigte reges Interesse an den Religionen und Kulturen Indiens. Unter ihm wurden Epen wie das Ramayana übersetzt.118 Dass die Übersetzungstätigkeit indisch-philosophischer und religiöser Texte auch nach Akbar nicht abriss, zeigt unter anderem, dass auch die Bhagavadgita unter Akbars´ Nachfolgern übersetzt wurde.119 Selbst unter Aurangzeb, der eine ganz andere Religionspolitik als Akbar verfolgte, trafen sich Menschen beider Religionen weiterhin an den Heiligengräbern.120 Es gibt das Sprichwort: „Der Sufi-Schrein eint, die Moschee trennt.“121 Allerdings gab es auch mystisch-fundamentalistische Bewegungen. Muhammad Nasir Andalib zum Beispiel wurde zum Begründer einer Bewegung, die sich gegen die im Punjab herrschenden Sikhs wandte.122 Fasst man all dies zusammen, so kann man Folgendes konstatieren: Es gab und gibt durchaus ein gemeinsames Zusammenleben. Demnach ist, wie bereits erwähnt, dem deutschen Historiker Christian Zentner zu widersprechen, der meinte, dass sich in Indien zwei Kulturen, nämlich die islamische und hinduistische, gegenüberstanden und – bis auf die Architektur – es zu keiner Beeinflussung kam.123

Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Realität – und somit auch die Geschichte des Islam auf dem Subkontinent – wesentlich komplexer war und ist. Sehr wohl gab es gesellschaftliche und kulturelle Beziehungen. Dies kann und soll aber nicht über Gegensätze

114 Schimmel, Annemarie: Im Reich der Großmoguln. Geschichte, Kunst, Kultur, Beck München: 2000. S.155

115 Schimmel, Im Reich der Großmoguln, S.164

116 Darüber wird im Unterkapitel über die Moguln ausführlicher berichtet werden.

117 Schimmel, Im Reich der Großmoguln, S.132

118 Schimmel, Im Reich der Großmoguln, S.131

119 Winter, Franz: Dara Shukuh: Ein Mogulprinz auf der Suche nach dem indischen Monotheismus, in: Bsteh, Petrus / Proksch, Birgitte (Hgg.): Wegbereiter des interreligiösen Dialogs. Band II LIT-Verlag Münster: Wien: 2018.

S.270

120 Schimmel, Im Reich der Großmoguln, S.134

121 Ebd.

122 Schimmel, Im Reich der Großmoguln, S.161

123 Zentner, Der große Bildatlas der Weltgeschichte, S.208

32 zwischen den beiden Religionen hinwegtäuschen. Auf höherer religiöser Ebene, so Embree Ainslie, kam es kaum zu einem fruchtbaren Austausch.124Der Sikhismus einerseits und die allgemeine Volksfrömmigkeit in manchen Regionen, wie am Beispiel des Sufismus aufgezeigt worden ist, waren die eine Seite der gelebten Realität. Die andere war die „höhere“ islamische beziehungsweise hinduistische Theologie.

In der Tat sahen viele Autoren und Autorinnen eine tiefe, nahezu unüberbrückbare Kluft

In der Tat sahen viele Autoren und Autorinnen eine tiefe, nahezu unüberbrückbare Kluft