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Zwei größere Konflikte, die sich in der jüngeren Geschichte ereignet haben, sollen in diesem Kapitel näher untersucht werden. Nicht zuletzt deshalb, weil deren Folgen bis heute schwer nachwirken. Sowohl der Ayodhya-Konflikt als auch die Pogrome in Gujarat sind einerseits Folgen der Feindschaft zwischen Teilen der hinduistischen und muslimischen Bevölkerung als auch weitere Auslöser heutiger Gewalt.582 In vorliegender Masterarbeit wird jedoch die These vertreten, dass der Ayodhya-Konflikt, primär aber die Pogrome in Gujarat, nicht nur Auslöser waren, sondern seit 1992 beziehungsweise seit 2002 leider auch weitere Gründe sind, warum die Feindschaft zwischen Teilen der hinduistischen und Teilen der muslimischen Bevölkerung größer geworden ist. Auf folgenden Seiten soll dies ausführlicher dargelegt und begründet werden.

Das, was 1992 und 2002 passiert ist, belastet das Verhältnis zwischen der muslimischen und hinduistischen Bevölkerung bis in die Gegenwart. Es sind dies der Ayodhya-Konflikt im Jahr 1992 und die Ausschreitungen gegen die muslimische Zivilbevölkerung im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002. Obwohl zwischen beiden Konflikten zehn Jahre liegen, stehen sie in einem direkten Zusammenhang, wie gleich aufgezeigt werden wird.

Zuerst soll der Ayodhya-Konflikt erklärt werden. Ayodhya ist eine Stadt im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Ayodhya gilt als der Geburtsort Ramas.583 Im 16. Jahrhundert wurde auf dem Gelände, wo zuvor ein Tempel für Rama stand, die Babri-Moschee errichtet.

Jürgenmeyer schreibt hingegen, dass die Zerstörung eines Tempels ebenso wenig klar bewiesen werden könne wie der genaue Geburtsort Ramas.584 Bereits Ende der 80er Jahre brachten hindu-nationalistische Organisationen die Menschen von Jahr zu Jahr mehr auf, dass man den Status vor der Errichtung der Moschee wiederherstellen solle. Die Zerstörung der Babri-Moschee im Dezember 1992 markierte den Höhepunkt der Feindschaft, der Monate zuvor immer größer wurde und sich dann entlud.585 Und die Folgen wirken bis heute nach. Die Zerstörung der

582 Sowohl in der Geschichts-, als auch in der Politikwissenschaft wird zwischen Ursachen und Auslösern unterschieden. Konflikte haben einen oder mehrere Auslöser. Die Ursachen hingegen liegen meist länger zurück – und sind den Akteuren und Akteurinnen auch nicht immer bewusst.

583 Zur Bedeutung Ramas siehe Kapitel „Die Rolle Neuer Medien bei der Verbreitung der Hindutva-Ideologie“ ab Seite 97.

584 Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.): Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens?, Keller Carl-Albert, Jürgenmeyer Clemens, Meyer Thomas, Waldenfels Hans Ein Symposium Kindt Verlag München: 1995. S.84

585 Eriksen, Ethnicity and Nationalism, S.157

103 Babri-Moschee ist im Zusammenhang mit den Pogromen gegen die muslimische Bevölkerung in Gujarat im Jahr 2002 zu betrachten. Und bezüglich weiterer Folgen: Auch die Attentäter, die im November 2008 in mehreren Luxushotels in Mumbai Attentate verübten und dabei mehr als 170 Menschen in den Tod rissen, gaben als Motiv Rache für die Zerstörung der Babri-Mochee an.586 Jürgenmeyer geht in seinem hier zitierten Aufsatz scharf mit der Indienkorrespondentin Gabriele Venzky ins Gericht: Venzky erkläre die Geschehnisse um Ayodhya „mit den Herrschaftsansprüchen der Safran-Fundamentalisten, die sie so geschickt propagandistisch verpacken, dass das „ganze dumme Volk“ auch tatsächlich mitmacht“.587 Jürgenmeyer argumentiert, dass religiöse Gefühle, Werte, Normen und Symbole in unterschiedlichen Zeiten verschieden interpretiert werden.588 So werden sie von ihrem eigentlichen Sinn enthoben und dienen zur Legitimierung von Gewalt. Die Ursachen des Ayodhya-Konflikts liegen weit tiefer zurück. Die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen sind jene zwischen zwei Volksgruppen und die Religion ist lediglich eines ihrer „Bestimmungsmerkmale“, so Jürgenmeyer.589

Der Ayodhya-Konflikt kann insofern auch als Zäsur gewertet werden, weil er der

„Kristallisationspunkt des hindu-nationalistischen Projekts in Indien“ gewesen ist.590 Er gilt wohl als eines der traurigsten und folgenschwersten „Ereignisse“ der jüngeren Geschichte Indiens.

Die Übergriffe auf die muslimische Bevölkerung im Frühjahr 2002 werden auch als Pogrome bezeichnet.591 Ausgelöst wurden die Pogrome durch den traurigen Vorfall, der sich am 27.

Februar auf beziehungsweise im Sabarmati Express ereignete.592 Martha Nussbaum liefert in ihrem Buch „The Class Within. Democracy, Religious Violence, And India´s Future“ einen recht genauen Bericht über die Ereignisse. Das, was an jenem Februartag passierte, war kein

586 Babri-Moschee, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Babri-Moschee (aufgerufen am 22.08.2021)

587 Jürgenmeyer Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften, S.81

588 Ebd.

589 Jürgenmeyer, Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften, S.82

590 Gottschlich, Pierre: Die indische Diaspora in den USA und ihre Rolle im Religionskonflikt in Indien, in: Kursawe, Janet (Hg.): Konfliktfaktor Religion?: Die Rolle von Religionen in den Konflikten Südasiens, Nomos Baden-Baden:

2013. S.64

591 Bei einem Pogrom wird eine Gruppe von Menschen angegriffen, die in der Regel einer religiösen und oder ethnischen Minderheit angehören. Die Opfer wurden und werden dabei als „Feinde“ bezeichnet und die Angreifer und Angreiferinnen sehen sich als Opfer. Politische Organisationen und Institutionen haben zuvor die Mehrheitsbevölkerung gegen die Minderheit aufgewiegelt. Auch die Übergriffe gegen die muslimische Bevölkerung in Gujarat werden von vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen als Pogrom bezeichnet.

Vgl.: Holzer, Hindu, Hindi, Hindutva, S.58 Auch Ettensperger und Hagenbeck sehen die Bezeichnung Pogrom als legitim an. Vgl.: Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, S.102

592 Da sowohl der Hergang als auch die Ursachen bis heute noch nicht vollständig geklärt sind, wurde hier bewusst das Wort Vorfall verwendet.

104 terroristischer Akt, wie der Oberste Gerichtshof in Gujarat sieben Jahre später entschied.593 Auch unmittelbar nach den Ereignissen bezeichneten andere Polizisten und Polizistinnen die Attacke auf dem Zug als nicht geplante Aktion, wohingegen wiederum andere von einer Kerngruppe von 15 bis 20 Personen sprachen, welche den Zug in einer geplanten Attacke in Feuer setzte.594 Was aber passierte an jenem 27. Februar genau?

An jenem Tag waren etwa 1.700 Pilger und Pilgerinnen595 auf dem Weg nach Hause. Sie alle kamen aus Ayodhya. Jene Stadt, im nordindischen Uttar Pradesh gelegen, gelangte zehn Jahre zuvor in die Schlagzeilen als dort eine wütende Menschenmenge die Babri-Moschee zerstörte.

Bei den rückkehrenden Pilgern und Pilgerinnen handelte es sich also um Menschen, die emotional ziemlich aufgeladen waren.596 Zumal befanden sich zahlreiche Reisende unter den Pilgern und Pilgerinnen, die in Ayodhya für den Bau eines Tempels warben.597 Nicht wenige unter ihnen betrieben „Ayodhya karseva“. Das bedeutet, dass sie in Ayodhya Gott Rama huldigten, indem sie auch Arbeit und/oder Spenden für den Bau eines zukünftigen Tempels leisteten.598 Um 7.43 stoppte der Zug in der Stadt Godhra, eine Stadt im östlichen Gujarat.599 Viele der Reisenden stiegen aus, um ihre Beine zu vertreten und um Tee zu trinken und/oder Snacks und Zigaretten zu kaufen.600 Im Laufe der Zeit ist es dann aber zu Wortgefechten zwischen einigen Reisenden und muslimischen Verkäufer und Verkäuferinnen gekommen.601 Einer der Verkäufer wurde mit Tee beworfen beziehungsweise übergossen und einem anderen wurden die Zigaretten nicht bezahlt.602 Als ein Teeverkäufer in den Zug einstieg, um Tee an potentielle Kunden zu verkaufen, wurde er hinaus geworfen, weil einige der Passagiere es nicht dulden konnten, dass ein Muslim Tee an Hindus verkauft.603 Nach einem Bericht zufolge wurde ein muslimischer Verkäufer geschlagen, weil er sich weigerte „Jai Sri Ram“, ein Ruf zur Verehrung Ramas, zu sagen.604 Darüber schreibt auch Holzer und beruft sich hierbei auf Ghassem-Fachandi als Quelle.605 Nach dem kurzen Aufenthalt in Godhra begann der Zug seine

593 Holzer, Hindu, Hindi, Hindutva, S.58

594 Ebd.

595 Nussbaum, Martha: The Class Within. Democracy, Religious Violence, And India´s Future, Belknap Press Cambridge: 2008. S.17

596 Ebd.

597 Holzer, Hindu, Hindi, Hindutva, S.57

598 Ghassem-Fachandi, Parvis: Pogrom in Gujarat: Hindu-nationalism and anti-Muslim violence in India, Princeton University Press Princeton: 2012. S.31

599 Nussbaum, The Class Within, S.18

600 Nussbaum, The Class Within, S.18

601 Ebd.

602 Ebd.

603 Ebd.

604 Ebd.

605 Holzer, Hindu, Hindi, Hindutva, S.57

105 Fahrt weiter aufzunehmen, doch weil zwischen 30 und 40 Passagiere zurückblieben, zogen einige andere Passagiere im Zug die Notbremse.606 Dadurch verzögerte sich die Weiterfahrt und jene Muslime, die von Hindus kurz zuvor geschlagen wurden, teilten dies lautstark ihrer Umgebung mit.607 Man darf sich die Station nicht als „einsame“ Bahnhofsstation vorstellen, denn in unmittelbarer Nähe befindet sich das muslimische Viertel.608 Dadurch konnte sich der Vorfall sehr schnell verbreiten und alsbald hatte sich eine Menschenmenge versammelt.609 Bald kam es dann auch zu einem Tumult zwischen Hindus und Muslimen.610 Die aufgeheizte Stimmung hatte sich nun vollends entladen. Der Zug wurde mit Steinen beworfen, woraufhin sich die Passagiere in den Waggons einschlossen, um sich zu schützen.611 Später ging dann auch ein Waggon in Flammen auf. Die Explosion und das Feuer forderten 58 Menschenleben.612 Die Ursache des Brandes gab und gibt bis heute Anlass zu Spekulationen.613 Je nach Quelle wurde das Feuer entweder durch brennende Wurfgeschosse, oder durch Matratzen, die unterhalb des Zuges abgelegt und angezündet wurden,614 oder aber durch Entflammen brennbaren Materials im Inneren des Schlafwagens entfacht.615 Mehrere Untersuchungskommissionen wurden mit der Aufarbeitung des Hergangs beauftragt. Sie brachten jeweils unterschiedliche Ergebnisse hervor: Eine Untersuchungskommission, die Banerjee commission, urteilte, dass das Feuer unmöglich von außen begonnen hat können und dass von einem Unfall gesprochen werden muss, weil die Ursache ein brennendes Kochgerät gewesen sei. 616 Jene Untersuchungskommission wurde von einer aus verschiedenen Technikern und Technikerinnen bestehenden NGO unterstützt. 617 Eine andere Untersuchungskommission, die Nanavati commission of inquiry, sprach von einem geplanten Anschlag; ihr Ergebnis fand bei der BJP regen Beifall.618

606 Nussbaum, The Clash Within, S.18

607 Ebd.

608 Ebd.

609 Ebd.

610 Ebd.

611 Ettensperger, Felix / Hagenbeck, Florian: Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, in:

Michael, Arndt / Baumann, Marcel M (Hgg.): Indien verstehen. Thesen, Reflexionen und Annäherungen an Religion, Gesellschaft und Politik, Springer Wiesbaden: 2016. S.99

612 Ebd.

613 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, S.100

614 Vielleicht aber auch Feuer fingen. (Persönliche Anm.:)

615 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, S.100

616 Holzer, Hindu Hindi, Hindutva, S.58

617 Ebd.

618 Ebd.

106 Die Vielfalt unterschiedlicher Versionen der Ereignisse des 27. Februar lässt erahnen, wie schwierig die Aufarbeitung dieses Vorfalles bis heute ist.619 So oder so: Die Folgen waren verheerend. Obwohl, wie zuvor bereits erwähnt, Jahre später der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Gujarat urteilte, dass das Unglück kein terroristischer Akt gewesen ist und obwohl nach dem Unglück auch andere Stimmen von einem Unfall sprachen, sollte jener Tag Auslöser der Pogrome in Ahmedabad werden.

Die Pogrome in Gujarat:

Wie die Nanavati commission of inquiry sprach auch die BJP von einem geplanten Anschlag und sogar von einem inhumanen Genozid.620 Anlässlich des Angriffs auf den Zug erklärte die VHP für den darauffolgenden Tag, den 28. Februar, einen Tag der Arbeitsniederlegung, welcher für die gesamte Provinz Gujarat gelten sollte.621 Als Reaktion auf den Zug-Angriff in Godhra entlud sich der Zorn und viele Muslime und Musliminnen wurden Opfer von teils bestialischer Gewalt.622 Genaue Zahlen gibt es offiziell nicht, aber die meisten Quellen sprechen von mehreren hundert bis einigen tausend Opfern.623 Im Verlauf der Ausschreitungen flohen ungefähr 150.000 Menschen aus ihrer Heimat und sogar noch im Jahr 2016 lebten ungefähr ein Drittel dieser Flüchtlinge in Lagern.624 Ettensperger und Hagenbeck schreiben, dass erst nach 60 Tagen sich die Situation in der Region beruhigte.625 Die Übergriffe auf die Opfer wurden wegen des Überfalls auf dem Zug in Godhra als „Vergeltungsaktionen“ geführt. Doch was das Schlimmste war – und deswegen ist auch die Bezeichnung als Pogrom gerechtfertigt – richteten sich die Ausschreitungen eindeutig gegen „Leib, Leben und Besitz“ der muslimischen Minderheit in der Region, wie Ettensperger und Hagenbeck schreiben.626 Auch kam es zu vielen Vergewaltigungen.627 Wie kann es sein, dass Menschen zu solchen Verbrechen fähig sind?

Wenngleich es keine gerechtfertigte Erklärung dafür gibt und auch nicht geben darf, liefert der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar einige Ansätze. In konfliktreichen und spannungsgeladenen Zeiten nehmen sich die Menschen zunehmend als Hindus oder Muslime wahr und betrachten Menschen der anderen Gemeinschaft als stereotypisch.628 Die Folgen sind

619 Ebd.

620 Ebd.

621 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.100

622 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.101

623 Ebd.

624 Ebd.

625 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.102

626 Ebd.

627 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.101

628 Kakar / Kakar, Die Inder, S.159

107 eine Homogenisierung und Entpersönlichung, da der einzelne Hindu oder Moslem austauschbar wird.629 Es gibt nur mehr noch zwei Gruppen: Das Wir und die Anderen – die Hindus und die Muslime. Die Herausbildung religiös definierter Identitäten sind keine unabhängigen Prozesse, die allein von den religiösen Erfahrungen und Gefühlen der Menschen abhängen, sondern sie sind untrennbar eingebunden in die konkrete Situation der Gesellschaft, der Gruppe und des einzelnen Menschen selbst, schreibt Clemens Jürgenmeyer.630 Die Situation nach Godhra, deren politische Instrumentalisierung sowie diverse Gerüchte haben die Situation extrem aufgeheizt.

Warum wurden die Pogrome von Gujarat in dieser Arbeit ausführlicher behandelt? Das, was 2002 passiert ist, waren freilich nicht die ersten ethnische Konflikte in Gujarat: Bereits seit den 70er Jahren ist es wiederholt zu Konflikten gekommen.631 Doch nie zuvor waren die Übergriffe so brutal und niemals zuvor hatten sie ein solches Ausmaß erreicht.632 Der nächste Punkt ist, dass bis heute manche Kommentatoren von einer „natürlichen“ und „gerechtfertigten“ Reaktion der hinduistischen Bevölkerung sprechen.633 So merkt auch die deutsche Anthropologin Julia Eckert an, dass es in der Mehrheitsbevölkerung kaum ein Unrechtsbewusstsein gebe und dass sie immer wieder Hindus begegnet sei, die das Gefühl hätten, eine Art Sieg errungen zu haben.634 Ettensperger und Hagenbeck schreiben indes aber auch, dass die meisten Stimmen jedoch einen geplanten und staatlich unterstützten Pogrom an der muslimischen Minderheit beklagen.635 Auch wurden viele der Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen, wie die indische Psychologin Aruna Bruta schreibt.636 Was aber einen dauerhaften Frieden wirklich erschwert und leider auch in Zukunft weiterhin erschweren wird, sind, wie Bruta schreibt, die traumatischen Erlebnisse der Kinder der Opfer.637 Die Kinder können die Erlebnisse schwer bis gar nicht verarbeiten, so die Psychologin.638 „Kinder sind noch nicht so intelligent und haben noch nicht die Erfahrung, dass sie differenzieren könnten, was da passiert, wer dahinter steht, ob es sich um politisch motivierte Gewalt handelt. Sie fühlen nur den Schmerz, dass der Vater,

629 Ebd.

630 Jürgenmeyer, Clemens: Koexistenz und Konflikt zwischen indischen Religionsgemeinschaften. Das Beispiel Ayodhya, in: Kerber, Walter (Hg.): Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens?, München: 1995. S.82

631 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.97

632 Ebd.

633 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.101

634 Zehn Jahre nach den Gujarat-Pogromen, in: https://www.dw.com/de/zehn-jahre-nach-den-gujarat-pogromen/a-15760915 (aufgerufen am 05.08.2021)

635 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Gefühle in Gujarat, S.101

636 Zehn Jahre nach den Gujarat-Pogromen, in: https://www.dw.com/de/zehn-jahre-nach-den-gujarat-pogromen/a-15760915 (aufgerufen am 05.08.2021)

637 Ebd.

638 Ebd.

108 die Mutter getötet wurden, die Schwester vergewaltigt wurde. Die Kinder sehen nur, dass die andere Religionsgemeinschaft die Verbrechen verübt habe. Daraus entsteht eine Wut, die selbst Aufklärung und Bildung nicht auslöschen können,“ so Bruta.639 Die Psychologin befürchtet eine langfristige Radikalisierung.640 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar. Vergewaltigungen würden unüberwindbare Grenzen zwischen den Gruppe ziehen und den Umgang von Hindus und Muslimen auch in Friedenszeiten unmöglich machen.641 In diesem Kontext ist interessant, wenn Kakar schreibt, dass in Hyderabad, einer Stadt in Südindien, die Tradition der Gewalt zwischen Muslimen und Hindus – ein fast jährliches Blutvergießen – zur Entwicklung gewisser Normen geführt hat, die Vergewaltigung stark missbilligt. 642 In Gujarat war dies jedoch nicht der Fall. Ein entscheidender Grund, warum die Pogrome in Gujarat als Zäsur in den Beziehungen zwischen Muslimen und Hindus gelten. Kakar beschreibt im Buch „Die Inder. Porträt einer Gesellschaft“

auch die verheerende Macht der Gerüchte, die unmittelbar vor, während und nach der Gewalt in Gujarat kursierten. Kakar beruft sich unter anderem auf einen Hindu-Informant, der sagte, dass sie (Anm.: die Hindus) nachts nicht mehr schlafen konnten, weil die verschiedensten Gerüchte sie so gequält haben.643 Ohne näher auf die Gerüchte einzugehen – unter anderem ging es um vergiftete Milch644 - wird daran erkennbar, wie emotional die Lage war. Das durch die Gerüchte geschürte Misstrauen und die dadurch vertiefte Feindschaft zwischen der muslimischen und hinduistischen Bevölkerung in Gujarat sind leider nicht nur „historische“

Kapitel aus dem Jahr 2002, also vor fast zwanzig Jahren, sondern wiegen noch heute schwer.

Auf hinduistischer Seite macht sich dies unter anderem dadurch bemerkbar, dass es bei vielen Hindus kein Unrechtsbewusstsein dafür gebe, wie Julia Eckert meinte.645 In den Augen jener Menschen sind es ja „die Muslime“ gewesen, die die eigentlichen Angreifer waren.646 Auf muslimischer Seite fällt, wie bereits beschrieben, insbesondere die Aufarbeitung schwer.

Und es gibt noch einen Grund, warum die Pogrome als Zäsur in den Beziehungen zwischen Muslimen und Hindus zu sehen sind. Das (Nicht-) Eingreifen der Polizei im Zuge der Ausschreitungen und die Person Modis, des zurzeit amtierenden Premierministers. Nach

639 Ebd.

640 Ebd.

641 Kakar / Kakar, Die Inder, S.171

642 Ebd.

643 Kakar / Kakar, Die Inder, S.165

644 Kakar / Kakar, Die Inder, S.166

645 Vgl.: Zitat 461

646 Die Pogrome wurden auch als Vergeltung für den Angriff auf den Zug in Godhra gesehen. Die Rhetorik hinduistischer Fanatiker und Fanatikerinnen und die Gerüchte taten das Übrige.

109 Aussagen einiger leitender Polizeibeamter hat die Politik im Vorfeld der Arbeitsniederlegung zugesichert, es werde nicht zu Ausschreitungen kommen und besondere Sicherheitsvorkehrungen wären nicht vonnöten.647 Doch führen die meisten Berichte Belege für eine Duldung oder sogar Unterstützung der Gewalt durch Sicherheitskräfte, Verwaltung und Politik an.648 Ettensperger und Hagenbeck schreiben weiter, dass der Mob bereits zu Beginn des Pogroms gut ausgerüstet und auch organisiert gewesen sei.649 Die Beteiligten verfügten vermutlich Listen mit Adressen von ortsansässigen Muslimen und deren Geschäften, so die beiden Autoren weiter. 650 Die Ausrüstungen mit Kommunikationsgeräten war ebenso gegeben.651

Das (Nicht-) Eingreifen beziehungsweise auch der Vorwurf, Polizei und Sicherheitskräfte hätten nichts oder zu wenig gegen die Ausschreitungen getan, stellt bis heute ein Hemmnis für den Frieden dar. Der zweite Streitpunkt ist die Rolle, die Modi damals (2002) politisch spielte.

Der derzeitige Premier Indiens war von 2001 bis 2014 Regierungschef der Provinz Gujarat.

Man warf und wirft auch heute Modi vor, er hätte gegen die Ausschreitungen wenig bis gar nichts unternommen.652 Auch Modi erklärte die Tragödie von Godhra als eine von Pakistan unterstützte, geplante und kaltblütige Attacke.653 Gleichzeitig beugte er sich den Forderungen der VHP, alle Todesopfer von Godhra ins Sola Civil Hospital zu bringen, obwohl 26 der Opfer nicht aus Ahmedabad stammten und entgegen der Angst, dass diese öffentliche Zurschaustellung Gewalt provozieren könnte.654 Und drei Tage nach dem Ausbruch des Pogroms bezeichnete Indiens jetziger Premier die Ausschreitungen in Gujarat als „natürliche Aktionen“ auf Godhra.655

Modis Einstellung zum Islam wie auch so manche Wortwahl hat immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. So bezeichnete Modi im Zuge des Wahlkampfes von 2014 die Regierung unter der Führung der Kongress-Partei als „Sultanat“.656 Der Psychologe und Polit-Essayist Ashis

647 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, S.101

647 Ettensperger / Hagenbeck, Der Hindu-Nationalismus und religiöse Konflikte in Gujarat, S.101