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Zwei Versuche über den menschlichen Verstand:

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 105-112)

Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte

II. Ontologische Ausgangspunkte: Sinne und Emotionen als Kategorie des Selbst- und Emotionen als Kategorie des Selbst- und

1.  Wahrnehmung als Schnittstelle zur Außenwelt

1.2  Zwei Versuche über den menschlichen Verstand:

Locke und Leibniz

Insbesondere in der Philosophie der Neuzeit rücken erkenntnistheoretische Fra-gen unter Bezugnahme auf antike Denker erneut ins Zentrum und werden, an das zeitgenössische Weltbild adaptiert, zu systematischen erkenntnistheoretischen Konzepten geordnet. Auch in dieser Diskussion kommt es trotz zahlreicher Hypo-thesen und systematischer Abhandlungen zu keinem Konsens, wobei gerade die Einsicht in die ontologische Position der Wahrnehmung als Weltbezug eine zentrale Hürde bildet.

John Lockes empirisch orientierte Abhandlung An Essay concerning Human Understanding (1689) stellt einen Versuch dar, die Grenzen des menschlichen Er-kenntnisvermögens auszuloten. Fragen nach der Beschaffenheit des Geistes in seinem Urzustand, über nach der Ursache von Sinneswahrnehmungen und deren Referenzialität zur Außenwelt weist Locke einleitend als reine Spekulation zurück und schließt sie aus seinem Erkenntnisinteresse aus. (vgl. Locke 2008: 13f.) Den Ursprung des Weltverständnisses nimmt Locke in der Sinneswahrnehmung an, 60 Ausführlichere Beispiele dazu aus dem Bibeltext siehe: Fischer 2005: 234–240.

wobei die durch sie erlangten Eindrücke erst durch Segmentierung in Ideen auf-geschlüsselt und danach rekombiniert würden. Ausgehend von ‚einfachen Ideen‘

als kleinster Einheit beschreibt er ein auf mathematisch-logischen Operationen beruhendes Weltbild, das er in zwei weiteren deduktiven Schritten auf die Ebene der Sprache und der Erkenntnis überträgt.

SINCE the Mind, in all its Thoughts and Reasonings, hath no other immediate Object but its own Ideas, which it alone does or can contemplate, it is evident, that our Knowl-edge is only conversant about them. KnowlKnowl-edge then seems to me to be nothing but the perception of the connexion and agreement, or disagreement and repugnacy of any of our Ideas. (Locke 2008: 332)

Lockes Essay enthält einen relativ spät in das Gesamtkonzept aufgenommenen (vgl. Parmentier 2008: 127) Abschnitt über den Innatismus, in dem er die Annahme eingeborener Ideen zurückweist. Eine wichtigere Motivation als die Entscheidung der Sachlage selbst, die bei genauerer Betrachtung in die zuvor ausgeschlossenen spekulativen Fragestellungen fällt, scheint ihm jedoch deren häufiger Missbrauch für die Rechtfertigung dogmatischer Lehren (Locke 2008: 17) zu sein. Dass damit zugleich Lockes nicht eindeutig deklariertem Materialismus Tür und Tor offen-stehen (vgl. Jolley 1984: 165f.), bildet zugleich einen wichtigen Anlass für Gottfried Wilhelm Leibniz, eine teilweise polemische Antwort darauf zu verfassen.

Je crois cependant de pouvoir dire, que nos idées (même celles des choses sensible) viennent de nostre proper fonds, dont on pourra mieux juger par ce que j’ay publié touchant la nature et communication des substances, et […] l’union de l’âme avec le corps. (Leibniz 1695–1697: 6)

Im Gegensatz zu Locke baut Leibniz’ eigenes philosophisches System auf der Im-materialität der Seele auf. (vgl. Cassirer 1996: XXV) In den Nouveaux essais sur l’entendement humain (1704) bezieht er sich absatzweise auf Lockes Darstellung und widerlegt diese aus seiner eigenen philosophischen Perspektive, ohne eine An-näherung der ontologischen Vorbedingungen zwischen den Systemen zu schaffen.

Leibniz’ Versuch, Lockes erkenntnistheoretischen Standpunkt zu widerlegen, zielt damit freilich ins Leere. Eine parallele Lektüre beider Abhandlungen lässt, trotz konträrer Ergebnisse, jede als in sich weitgehend konsistent erscheinen, sodass eine Pattsituation entsteht. Die wichtigsten erkenntnistheoretischen Divergenzen liegen direkt im Bereich der Wahrnehmung, der nach Leibniz’ Annahme einer prä-stabilierten Harmonie nicht an einer materiellen Außenwelt orientiert ist.

Nach der Strenge der monadologischen Grundanschauung ist jedwede Rede von der Einwirkung des Äußeren auf das Innere überhaupt zu beseitigen. (Cassirer 1996: XXVI) Obgleich auch Leibniz mit den Monaden eine kleinste Einheit definiert, die seinem Weltbild zugrunde liegt, kommt Wahrnehmung in diesem System aufgrund zweier Hypothesen ohne direkte äußere Einwirkung aus. Erstens sei in jeder Monade die volle Information potenzieller Erkenntnis bereits angelegt und zweitens stünden

alle Monaden in ständiger idealer Verbindung zueinander, wodurch anstelle äu-ßerer Einwirkung Kongruenz möglich sei. (vgl. ebd. XXVIII) Leibniz erklärt die Sinneswahrnehmung nicht für obsolet, weist jedoch auf ihre engen Grenzen hin.

Die Sinne sind zwar für alle unsere wirklichen Erkenntnisse notwendig, aber doch nicht hinreichend, um uns diese Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit zu geben, weil sie stets nur Beispiele, d.h. besondere oder individuelle Wahrheiten geben. (Leibniz 1996: 5) Gerade umgekehrt zu Lockes deduktiver Systematisierung von konkret vorliegen-dem, unspezifischem Material konstruiert Leibniz ein Weltbild, das von der abs-trakten Ganzheit ausgeht, in welche die bruchstückhaften individuellen Wahrheiten eingeordnet werden, um sie zu erklären. Ideelle Interaktion in Form von gleichzeitig ablaufenden Prozessen bzw. einander überlappenden Zuständen wird in diesem System auf mehreren Ebenen angenommen und gilt gleichermaßen für einzelne Monaden, Individuen und das makrostrukturelle Weltbild.61 Auf Letzterem gründet auch seine vielzitierte Theorie der Parallelwelten, dargelegt in der Monadologie (1714), in der er die Potenzialität konkreter Ausprägungen auch auf die Welt in ihrer Gesamtheit überträgt und die bestehende62 als realisierte Variante zwischen anderen möglichen Welten betrachtet.

Den offensichtlich unüberbrückbaren Unterschieden zum Trotz, die Leibniz durch Lockes Orientierung an Demokrit und Gassendi und seine eigene an Platons Ideenlehre erklärt (vgl. Leibniz 1996: 29–31), ist diese Diskussion als bis heute un-entschieden zu betrachten, zumal sich in der zeitgenössischen naturwissenschaft-lichen Diskussion Elemente aus beiden finden. Lockes deduktives Vorgehen und die Annahme eines materialistischen Weltbilds erscheinen mit diesem Kontext auf den ersten Blick kompatibler und entsprechen etwa Annahmen der klassischen Physik, Biologie, biologischen Psychologie und Linguistik. Weniger augenscheinlich enthalten dieselben Disziplinen jedoch zugleich auch grundlegende Erkenntnisse, die der Leibniz’schen Philosophie nahestehen. Dazu zählen etwa die funktionale Anpassung der biologischen Zelle an ihren Zellkontext, die Plastizität des Gehirns, die neuronale Spiegelung als direkte Verbindung zwischen zwei Individuen und die, ebenfalls auf die Funktion der Spiegelneuronen aufbauenden Behandlungsmethoden mittels Bio-Feedback.63 Darüber hinaus wird die Viele-Welten-Theorie in der Quan-tenphysik von einer wachsenden Zahl an Forschern als Interpretationsmodell ver-treten. (vgl. Polkinghorne 2011: 91) Davon unabhängig wurde diese als produktives Konzept auch auf die Kulturwissenschaften wie etwa die Linguistik übertragen.64 All 61 Leibniz betrachtet das beschriebene Weltbild als Metapher, die die Beschreibung systematischer Prozesse auch ohne vollständige Kenntnis aller daran beteiligten Mechanismen an sich ermöglichen soll. (vgl. Jolley 2005: 17)

62 Dass es sich dabei aufgrund der Existenz Gottes um die ‚beste aller möglichen Wel-ten‘ handle, amüsiert nicht zuletzt Voltaire in Candide ou l’Optimisme (1759).

63 Dazu ausführlich siehe: Piefke 17–20, Goldstein 167–169, 352–354; Birbaumer 2010:

358–367, 407, 620–658.

64 Dazu ausführlich siehe: Fořt 2016 und Doležel, 1998.

diese Ordnungen begründen wichtige Konzepte in den Bereichen Wahrnehmung, Subjekt und Weltbild. Die Einsicht, dass mit Locke und Leibniz zwei komplementäre Welterklärungsmodelle vorliegen, die sich aufgrund der ontologischen Ungewiss-heit über die Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt mittels der Wahrnehmung einer gegenseitigen Widerlegung entziehen, belegt die Unzugänglichkeit der in Lockes Essay ausgeschlossenen Fragen, die auch seine Zeitgenossen vermeiden65. Dass dennoch jedes Modell für sich genommen als Erklärung für konsistente Ergeb-nisse herangezogen wird, zeigt, dass sich auf verschiedenen Interpretationsebenen unterschiedliche und sogar inkompatible Erklärungsmodelle als sinnvoll erweisen können.

1.3  Vierdimensionaler Raum: Leibniz, Locke, Hume, Gedächtnis und die Relativitätstheorie

In dieser Gegenüberstellung der beiden Wahrnehmungskonzepte von Leibniz und Locke zeichnet sich zudem jeweils die Einschreibung von Zeitlichkeit ab. Da Locke sich der Auswertung von bereits wahrgenommenem Material zuwendet, ist dieses System an der Vergangenheit orientiert. Leibniz rückt in seinem System der Po-tenzialitäten die Gegenwart in den Vordergrund, da es hier um den Moment geht, wo die Entscheidung für die Realisierung einer konkreten Variante erfolgt.

Die Zukunft und die Vernunft haben selten so viel Gewalt über uns wie die Gegenwart und die Sinne. (Leibniz 1995: 59)

In David Humes argumentativ anders als die Essays aufgebauter Untersuchung An Enquiry Concerning Human Understanding (1748 verfasst und zehn Jahre später so umbenannt) erhält die Zukunft größere Bedeutung. Das könnte seiner Beschäfti-gung mit Kausalität geschuldet sein, die er letztlich aber verwirft.

Würde man sagen, daß wir aus einer Anzahl gleichförmiger Erfahrungen auf eine Ver-knüpfung zwischen den Sinnesqualitäten und den geheimen Kräften schließen, muß ich gestehen, dass mir dies die gleiche Schwierigkeit […] zu sein scheint. […] Wenn jemand sagt: Ich habe in allen früheren Fällen solche Sinnesqualitäten mit solchen geheimen Kräften verbunden gefunden; und wenn er sagt: Ähnliche Sinnesqualitäten werden stets mit ähnlichen geheimen Kräften verbunden sein, macht er sich keiner Tautologie schuldig, und die Sätze sind auch in keiner Hinsicht dieselben. Man kann sagen, der eine Satz sei eine Folgerung aus dem anderen. Aber man wird zugeben müssen, daß diese Folgerung weder intuitiv noch demonstrativ ist. […] Zu sagen, sie stamme aus

65 Leibniz schreibt in Quelque remarques, es erscheine ihm sowohl aus praktischer als auch aus theoretischer Sicht nicht unbedingt notwendig, die Frage, ob Ideen und Wahrheiten eingeboren seien, überhaupt zu diskutieren. (vgl. Leibniz 1696–1697: 6) Dasselbe scheint auch für Hume zu gelten: „Über die Ursachen der aus unserer Sinneswahrnehmung stammenden Eindrücke schweigt Hume weitgehend.“ (Klemme 2013: 27)

der Erfahrung, läßt die Frage offen; denn alle Folgerungen aus der Erfahrung setzen als ihre Grundlage voraus, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnlich sei […]. (Hume 2013: 55f.)

Er vermeidet dennoch George Berkelys Dilemma des ‚totalen Skeptizismus‘, der diesen, wie schon den antiken Philosophen Pyrrhon und einige seiner Zeitgenossen, in den Solipsismus führt, und versucht stattdessen die Begründung eines ‚mode-raten Skeptizismus‘. (vgl. Klemme 2013: 75–81) Er berücksichtigt daher im darauf-folgenden Kapitel die Wahrscheinlichkeit, wobei er jedoch auch hier die skeptische Komponente hervorhebt, dass wahrscheinliche Aussagen nicht zwangsläufig zu-treffen. Eine wichtige Rolle für Humes Interesse an der Zukunft scheint außerdem zu spielen, dass er im Gegensatz zu Locke und Leibniz ausführlicher auf Affekte eingeht, die er als wichtigste Grundlage moralischer Entscheidungen betrachtet.

Da Letztere antizipierend für zukünftiges Handeln getroffen werden, betritt er mit diesem Forschungsgebiet ausgewählter Gefühle das Gebiet des Zukünftigen.

Während Lockes Orientierung an vergangenen Eindrücken und Leibniz’ Orien-tierung an der Gegenwart wenig Erstaunen hervorrufen, erscheint Humes Inangriff-nahme des Zukünftigen spekulativ. Dennoch berücksichtigt auch die psychologische Erinnerungsforschung66 ‚antizipierte Retrospektionen‘ als wichtige Grundlage der Planung zukünftiger Handlungen67. Alfred Schütz beruft sich dabei auf den Phäno-menologen Edmund Husserl (1859–1939), der sich seinerseits auf Hume bezieht68.

Erinnerung hat funktional nichts mit Vergangenheit zu tun. Sie dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass Gedächtnis vor allem mit der Vergangenheit zu tun habe; ganz im Gegenteil spielen ‚Vorerinnerungen‘, wie Edmund Husserl 1917/18 bemerkt hat, also Vorbegriffe auf etwas erst in der Zukunft Existierendes, als Orientierungsmittel für die Ausrichtung von Entscheidungen und Handlungen eine mindestens so wichtige Rolle wie der Rückgriff auf real oder vorgestellt erlebte Vergangenheiten […]. Das humanspezifische Vermögen, die persönliche Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren […], hat den Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermög-lichen. […] Gedächtnis ist eine dreistellige Relation aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und gerade der prospektive Teil dieser Regulation hat der menschlichen Lebensform nicht nur den evolutionären Vorsprung verschafft, Vorteile und Hinder-nisse […] virtuell durchspielen zu können, sondern diese Lebensform überhaupt mit einem Gedächtnis ausgestattet, das seine Inhalte […] auch aus dem Vorgestellten und Erwünschten bezieht. (Welzer 2010: 8f.)

66 Begrifflich wird Gedächtnis, das „System zur Aufnahme, zur Aufbewahrung und zum Abruf jeder Art von Informationen (z. B. Daten, Fähigkeiten, Emotionen)“ von Er-innerung, dem „Abrufvorgang dieser Information“ differenziert. (Gudehus 2010: VII) 67 Über die Entwicklung des prospektiven Zeitverständnisses siehe Piaget 1974 und

Tomasello 2009.

68 Dazu ausführlich siehe Edmund Husserl, zit.n. Herring 2013: 7; Husserl 2001; Schütz 1972: 261.

Die Darstellung verdeutlicht, dass die Einteilung aller Erfahrungen in Vergangen-heit, Gegenwart und antizipierte Zukunft bzw. Fantasie ein durch den menschlichen Wahrnehmungsapparat konstruiertes Ordnungsprinzip darstellt, auf dem Identität und Handlungsplanung aufbauen.

Obgleich diese drei zeitlichen Dimensionen so klar zu trennen sind, gilt es, auch ihr Ineinandergreifen zu berücksichtigen. Prospektives Erinnern beschränkt sich nicht auf reine Konstruktion, da die bisherigen Erfahrungen über die Welt und über die individuelle Situation einbezogen werden und gewisse Schlüsse erlauben.

Darüber hinaus werden auch bei der Erinnerung an Vergangenes nie Äquivalente aufgerufen. Dieser Vorgang ist vielmehr so angelegt, dass Erinnerungslücken auch für bereits Erlebtes automatisch durch Weltwissen ergänzt werden, weshalb ständig unbemerkte Konstruktionsprozesse am Erinnern beteiligt sind, welche die Inhalte notwendigerweise verfälschen. (vgl. Foster 2014: 23) Zumal auch Gegenwartswahr-nehmung durch Interferenzen physischer oder psychischer Natur – Müdigkeit, Behinderung, Belastung, Krankheit – verzerrt werden kann und zudem stets durch Faktoren wie Aufmerksamkeitslenkung und Konzentration mitbestimmt wird (vgl.

III.1.1.2), erweist sich selbst dieses unmittelbare Bild als ungenau.

Keine der drei zeitlichen Orientierungen von Locke, Leibniz und Hume bie-tet daher einen unbestreitbaren Ausgangspunkt für die Auswertung von Wahr-nehmungseindrücken. Zugleich erschließt jeder Ansatz eine bestimmte Form der Anschauung – Lockes den Überblick über Erlebtes, Leibniz’ den klaren Eindruck der Gegenwart und Humes die Option zur Mitbestimmung künftiger Realität. In der Repräsentation der Erfahrungswerte weisen die drei Systeme eine Gemeinsam-keit auf, dass nämlich das gesamte Weltwissen und Erleben auf eine in den Fokus genommene zeitliche Dimension transponiert wird. In Lockes Auswertung der Ver-gangenheit impliziert deren Beschreibung auch mögliche Schlüsse auf Gegenwart und Zukunft, ebenso wie Humes Zukunftserwartung die Erfahrungswerte von Ver-gangenheit und Gegenwart eingeschrieben sind. Leibniz’ gegenwartszentrierte Be-trachtung berücksichtigt beide anderen Zeitdimensionen gewissermaßen in seiner Metapher hypothetischer anderer Welten, die auf Veränderung und somit auf die Möglichkeit eines Entstehens oder Vergehens zu verweisen scheinen. Allen drei Betrachtungsweisen ist gemeinsam, dass in ihnen die Vorstellung einer linearen Zeitlichkeit getilgt wird.

Auf sehr ähnliche Weise wird auch in der modernen Kosmologie für die Auf-lösung des durch die menschliche Wahrnehmung konstruierten Raum-Zeit-Kon-tinuums zugunsten eines vierdimensionalen Raumes plädiert, dem die Zeit als räumliche Kategorie eingeschrieben ist.

Sein [Hermann Minkowskis] Vorschlag bestand darin, dass die Relativitätstheorie uns im Grunde sagt, dass Raum und Zeit viel ähnlicher sind, als wir aufgrund der verschiedenen Weisen unserer Wahrnehmungen und Messungen vielleicht vermuten.

Tatsächlich sollten wir damit aufhören, sie uns als dreidimensionalen Raum und eine getrennte eindimensionale Zeit vorzustellen. Vielmehr sollten sie als vierdimensio-nale Raumzeit gesehen werden, in der Raum und Zeit unzertrennlich miteinander

zusammengeschweißt sind. Die dreidimensionale Entfernung, die wir messen […] ist nur eine dreidimensionale Projektion der vierdimensionalen Wirklichkeit. Die ein-dimensionale Zeit, die wir […] messen, ist nur eine einein-dimensionale Projektion der vierdimensionalen Wirklichkeit. (Stannard 2010: 45f.)

Die Vorstellung der Raumzeit wird auf Basis der Relativitätstheorie daraus abge-leitet, dass die Bewegung einer Person in der Konstellation relativ zu einer anderen zu Verschiebungen der jeweils gemessenen Raum- und Zeitverhältnisse führt. Dies widerspricht nämlich der Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes mit linear verlaufender Zeit, die Raum und Zeit mit Kant als apriorisch annimmt, was auch bedeutet, dass alle in ihr befindlichen Referenzpunkte (Menschen und Objekte) gleichermaßen und unveränderlich an diese beiden Relationen gekoppelt sind.

Unsere beiden Beobachter […], haben verschiedene Meinungen über ‚Erscheinungen‘, d.h. über den Zeitunterschied […] und auch über den Raumunterschied zwischen den beiden Ereignissen. Sie stimmen jedoch […] bezüglich der Getrenntheit zwischen diesen beiden Ereignissen in der vierdimensionalen Raumzeit überein […]. Und es ist diese Tatsache, dass alle Beobachter darüber übereinstimmen, was in vier Dimensionen existiert, durch die die Vorstellung bekräftigt wird, dass die Raumzeit Wirklichkeit ist.

(ebd. 47f.)

Durch Transposition der Zeit in eine räumliche Kategorie verliert das dem jewei-ligen Gegenwartserleben zugängliche Raumsegment seine Priorität und steht gleichrangig neben vergangenen und zukünftigen.

Eines der beunruhigendsten Merkmale der vierdimensionalen Raumzeit besteht darin, dass sich nichts verändert. Veränderungen finden in der Zeit statt. Aber die Raumzeit existiert nicht in der Zeit: Die Zeit ist Teil der Raumzeit (als eine ihrer Achsen). Es scheint so, als ob die ganze Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – gleichwer-tig sind. Mit anderen Worten: Ereignisse, von denen wir annehmen, dass sie nicht mehr existieren, weil sie in der Vergangenheit liegen, existieren in der Raumzeit. Ebenso existieren zukünftige Ereignisse, von denen wir normalerweise annehmen, dass es sie noch nicht gibt, in der Raumzeit. In diesem Bild gibt es nichts, das den gegenwärtigen Augenblick, den wir mit ‚jetzt‘ bezeichnen, als etwas Besonderes auszeichnet […]. Wir haben es mit einer Welt zu tun, für die nicht nur gilt, dass der ganze Raum zu jedem Zeitpunkt existiert, sondern auch, dass die ganze Zeit an jedem Raumpunkt existiert.

[…] Wir haben es mit einer merkwürdig statischen Wirklichkeit zu tun, die manchmal

‚das Blockuniversum‘ genannt wird. (ebd. 50f.)

Damit das Bezugssystem von Subjekt, Raum und Zeit vorstellbar wird, ist dennoch eine Segmentierung notwendig, die es erlaubt, einen gewählten Ausschnitt des vierdimensionalen Raumes an eine dreidimensionale Konstellation anzunähern. Im üblichen Erleben geschieht dies meist als Fokussierung eines kurzen gegenwärtigen, erinnerten oder vorgestellten Zeitausschnitts im dreidimensionalen Raum. Die aus der logischen Generalisierung der Raumkategorien entspringende Vorstellung, dass im vierdimensionalen Raum jedem Raumpunkt die ganze Zeit eingeschrieben sei,

spricht dafür, dass die Strukturierung des Weltbilds sich nicht zwangsläufig am Zeitkontinuum orientieren muss. Tatsächlich ist selbst im Rahmen der menschlichen Wahrnehmung auch eine andere Auflösung der Ereignisse in annähernd dreidi-mensionale Segmente möglich, wie insbesondere Déjà-vu-Erlebnisse zeigen, sowie darüber hinaus auch weitere Formen von Erinnerung, Antizipation oder Fantasie, die einen unmittelbaren Bezug zwischen zeitlich entfernten Inhalten herstellen.

Im ontologischen Rahmen des vierdimensionalen Raumes erhalten die zeitlichen Blickrichtungen von Locke, Leibniz und Hume jeweils die gleiche Berechtigung, da die Unterschiede nur die raumzeitliche Segmentierung betreffen, wobei die jeweils nicht fokussierten Dimensionen in den gewählten Anschauungsausschnitt trans-poniert werden.

Die Überlegungen zur Raumzeit sind für die Analyse literarischer Texte in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung. Die darin verankerten reziproken Verhältnisse zwischen Subjekt, Raum und Zeit bilden den Ausgangspunkt für Michail Bachtins Konzeption des Chronotopos und ermöglichen deren systematische Anwendung auch auf von ihm weniger umfassend untersuchte Aspekte und ihre Verknüpfung mit verwandten Theorien. (vgl. Kap. I.2) An den genannten Kategorien sind zudem die meisten literarischen Paradoxa festzumachen, die auf einer transgressiven Un-terwanderung der Einheit des Subjekts, des Raumes oder der Zeit beruhen bzw.

deren systematische Wechselbeziehung ad absurdum führen. (vgl. Kap. VI.2.4) Da im vierdimensionalen Raum eine flexible Form der bildhaften Segmentierung möglich wird, bildet dieser eine gute Grundlage für die Arbeit mit Archetypen, die bereits Werner Heisenberg aus der Perspektive des Physikers als weltanschauliches Struk-turierungsprinzip empfiehlt69. (vgl. Kap. I.2)

1.4  Paradoxa der modernen Naturwissenschaft

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 105-112)