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Visuelle Wahrnehmung

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 144-147)

Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild

1.  Sinneseindrücke und Halluzinationen

1.1.1  Visuelle Wahrnehmung

In der Antike wird das Sehen als ‚objektivster‘ Erkenntnissinn betrachtet und den anderen übergeordnet (vgl. ebd.), was sich im Mittelalter durch die christliche Re-ligion stark verändert, wo in der Verkündung des Gotteswortes das Gehör zum Träger des Glaubens wird. Demgegenüber wird der Gesichtssinn wegen seiner

Anfälligkeit für den trügerischen schönen Schein und seiner Assoziation mit dem Unbewussten (mit Einbildungen, Halluzinationen, Träumen und erotischen Fan-tasien) abgewertet. (vgl. Barthes 1971: 756f.) In den Kapiteln zu Narziss-Mythos, Spiegelmotiv, Anima und punctum wurde dieser Bezug zum affektgeladenen, un-kontrollierbar Triebhaften bereits deutlich. Beginnend mit dem Kunstdiskurs der Renaissance und den sich parallel dazu herausbildenden Naturwissenschaften wird die mit diesen Aspekten verbundene Abwertung des Sehsinns jedoch bis ins 18. Jh.

vollständig revidiert.

Die Augenlust verlor mit der Übertragung aus dem religiösen in den ästhetischen Kon-text ihre negativen Konnotationen und wurde zu einer produktiven und erhabenen Kraft. […] Das Auge ist das vornehmste Organ des Menschen, weil es dessen körper-liche Reichweite entschränkt und ihm die ganze Welt bis zum Horizont sozusagen zu Füßen legt. Der Blick, als eine verfeinerte und diffuse Variante des Tastsinns, breitet sich mit seiner ätherischen Berührung ungehindert über alles aus und kann es dabei vereinnahmen. […] Die Augen sind in dieser ästhetischen Erziehung mehr als ein empirisches Organ der Wahrnehmung; sie sind zugleich Organ der Imagination, und damit Organ eines inneren Sehens […]. Kant wurde zum Helden der Dichter, weil er die ‚produktive Einbildungskraft‘ als ein notwendiges Ingredienz der menschlichen Wahrnehmung ausgewiesen hat. […] So haben sich aus der Wertschätzung des Auges und der neuen Hierarchie der Sinne zwei sehr unterschiedliche Traditionen entwickelt:

Die Ästhetik und die Wissenschaft. (Assmann 2011: 96f.)

Psychologisch betrachtet sind unterschiedliche Gehirnareale für die visuelle Wahr-nehmung zuständig, sodass etwa Gesichter, Körper und Orte unterschiedlich ver-arbeitet werden. (vgl. Goldstein 2014: 87) Im Rahmen der Kunstbetrachtung wurden ebenfalls verschiedene Aktivierungsmuster für figurative und abstrakte Motive sowie für unterschiedliche Farbgebungen festgestellt. In Zusammenhang damit stehen die durch visuelle Reize ausgelösten emotionalen Reaktionen, die gerade im Bereich der Ästhetik auch kulturspezifisch bedingt sind.

Die bei Aleida Assmann zusammenfassend behandelte ‚Ästhetik des entgrenzten Blicks‘ seit der Renaissance scheint dabei stark an die Spezifik der Raumwahr-nehmung gekoppelt. Sowohl Räume als auch Farben lösen je nach ihrer Qualität spezifische Emotionen aus, die auf der neuronalen Verknüpfung zwischen den vi-suellen Assoziations- und Integrationsregionen und den Strukturen des limbischen Systems basieren.

Die Wirkung von Räumen und Farben auf die subjektive Befindlichkeit beruht auch auf emotionalen Komponenten der zerebralen Signalverarbeitung: Das Gefühl der Bedrohung, das man beim Durchwandern einer engen Schlucht erleben kann, gehört zu diesen visuell ausgelösten emotionalen Reaktionen. Es tritt vermindert noch in den

‚Schluchten‘ der von Hochhäusern gesäumten Straßen moderner Großstädte auf. […]

Der Raum hat für den Menschen auch soziale Bedeutung. Große, geschmückte Räume symbolisieren soziale Macht. Räume, deren Dimensionen weit über die des mensch-lichen Körpers hinausgehen (z. B. große Kathedralen, Schlösser usw.) verändern die

Befindlichkeit des Besuchers; dieser kommt sich klein vor. Sehr kleine Räume be-wirken dagegen bei manchen Menschen das Symptom der Klaustrophobie. (Birbaumer 2010: 411f.)

Das limbische System verarbeitet komplexe visuelle Signale und spielt daher auch eine wesentliche Rolle für die Verarbeitung sozialer Informationen. Teilstrukturen davon sind auch bei der Wahrnehmung von Gesichtern und Gesichtsausdrücken beteiligt, die zahlreiche sozial bedeutende Informationen über die Emotionen einer Person sowie über den Grad der Vertrautheit und das Beziehungsverhältnis ent-halten.

Gesichter drücken Stimmungen und Emotionen aus und verraten, wohin eine Person blickt. Und das Gesicht einer Person kann beim Betrachter ein Werturteil auslösen (scheint unfreundlich, attraktiv etc.). […] Und bei vertrauten Gesichtern sieht das Ak-tivierungsmuster […] deutlich anders aus als bei unbekannten Gesichtern – wobei vertraute Gesichter in den mit Emotionen verbundenen Bereichen höhere Aktivität auslösen […]. (Goldstein 2015: 120f.)

Die Umgebungswahrnehmung hat direkten Einfluss auf das emotionale Empfinden des Betrachters und unabhängig von personenspezifischen Merkmalen sind auch einige angeborene visuelle Signale an Gesichter gekoppelt.

Das Sozialverhalten des Menschen wird von averbalen visuellen Signalen gesteuert (Erkennung von mimetischen Ausdrucksbewegungen und Gesten). Einige visuelle Gestalten (z.B. erotische Signale, ‚Kindchen-Schema‘) lösen oft direkt emotionale Re-aktionen aus. (Birbaumer 2010: 411)

In Kombination mit visueller Bewegungswahrnehmung ermöglichen die Spiegel-neuronen ein unmittelbares Verständnis der Gefühlslage anderer. Diese ‚Einfüh-lungsgabe‘ ist bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt und lässt im Kontext des Autismus Defizite erkennen.

Im ventralen prämotorischen Kortex […] und im rostralen inferioren Parietallappen reagieren die Neurone vor allem auf Beobachtungen der zielgerichteten Bewegungen anderer oder der eigenen Bewegungen im Spiegel (daher die Bezeichnung ‚Spiegelneu-rone‘). Wenn emotionale Ausdrucksäußerungen anderer Menschen beobachtet werden und sie empathisch-ideomotorisch ohne eigene Motorik nachvollzogen werden, sind beim Menschen, je nach Emotion z. B. bei Ekel, Schmerz die vordere Inselregion und bei Furcht Teile der Amygdala aktiv […]. Das Erkennen der emotionalen Bedeutung des Verhaltens anderer erfolgt schnell und intuitiv, eine längere kognitive Bewertung ist nicht notwendig. Sehen oder spüren wir peripher-physiologische Begleiterscheinungen anderer bei emotionalem Verhalten, so wird noch zusätzlich der somatosensorische Parietalkortex aktiviert. (ebd. 796f.)

Visuelle Wahrnehmung spielt sowohl im globalen Erleben gegenwärtiger Situatio-nen als auch für das ErkenSituatio-nen von Details eine zentrale Rolle und bildet zudem ein wichtiges Medium des Erinnerns. Da gespeicherte Bilder in der Fantasie wiederholt

oder modifiziert werden können, bildet das Sehen eine wichtige Grundlage für Träu-me. Durch Umgebungs- und Gesichtswahrnehmung werden Emotionen ausgelöst und soziale Informationen aufgenommen. Im Rahmen der Emotionsspiegelung kann es durch die Spiegelneuronen zu unmittelbaren Einblicken in die Emotionen eines Gegenübers kommen. Darüber hinaus liegen spezifische biologische und kulturell verankerte visuelle Signale vor, die Stimmungen, Antriebe oder ästhetische Er-fahrungen auslösen können.

Im Dokument Herausgegeben von Wolf Schmid (Seite 144-147)